GEGENSTANDPUNKT

GEGENARGUMENTE

GegenStandpunkt & Diskussion

Sarrazin und der Streit um die angemessene Bevölkerungspolitik, oder:
Über den Zusammenhang von Integrationspolitik und Ausländerhetze

Montag 8.11.2010 um 20:00 im Neuen Institutsgebäude (NIG) HS 2

1010 Wien, Universitätsstraße 7

Sarrazins Buch ist zum Skandal geworden: So dürfe man über die soziale Unterschicht allgemein und muslimische Zuwanderer speziell nicht reden! Bei diesen Vorwürfen geht ein wenig unter, was der Mann will und behauptet. Er wirft den Regierenden vor, mit „Hartz IV“ eine deutsche Unterschicht und in dieser eine wachsende Menge von Zuwanderern, muslimische insbesondere, dazu zu ermuntern, sich im Sozialstaat einzurichten und zu vermehren: Ein Bevölkerungsteil, der dies nicht verdiene, weil er nicht ordentlich Geld verdient, weil er weder leistungsfähig noch wirklich leistungswillig sei.

Wo lebt der Mann? 356 Euro „Hartz IV“ plus ein paar Zusatzzahlungen – ein unverdienter Wohlstand, in dem sich Unterschichtler häuslich einrichten und ihre Zeit mit Nichtstun und Kinderwerfen missbrauchen? Machen es sich diese Schichten denn außerhalb der freien Marktwirtschaft bequem? Ist ihre „soziale Randlage“, ihre Not, sich ohne ordentliches Einkommen durchzuschlagen denn nicht ein Produkt der Konkurrenz, die ständig ein Heer von Überflüssigen und damit Einkommenslosen produziert? „Entziehen“ sich Arbeitslose dem alltäglichen Überlebenskampf, ist „Obst- und Gemüsehandel“ in den Elendsvierteln der Metropolen eine Frage der Lebensart und Beleg einer leistungsfeindlichen fremden Mentalität? Oder ist der Pauperismus der eingeborenen wie zugewanderten Bevölkerungsteile nicht das Resultat einer Wirtschaft, die mit lohnender Arbeitsleistung kalkuliert und deswegen Millionen ausmustert oder gar nicht erst anwendet? Eine politisch geförderte Schicht von Nicht-Leistern – diese Diagnose stellt die Sache auf den Kopf, und lastet den Verlierern der Konkurrenz an, dass sie verloren haben, als ihren Mangel und milieubedingten Charakter!

Diese Verkehrung greifen die Kritiker Sarrazins nicht an. Noch alle, die ihm den politischen Anstand absprechen, weil er seine Diagnose über die unwerte Unterschicht auch mit milieubedingtem und ererbtem Mangel an Intelligenz untermauert, geben ihm in seiner Diagnose recht: Ja, es gibt eine zunehmende Minderheit „nicht-integrierter“ Menschen im Land, auf die das Etikett „Parallelgesellschaft“ zutrifft; gewisse Teile der Unterschicht – mit und ohne „Migrationshintergrund“ – lassen massenhaft die Einstellungen und Leistungen vermissen, die von vollwertigen Deutschen verlangt werden. Es ist allgemeiner Konsens, dass die, die mit dem Leben und Auskommen in dieser Gesellschaft ein Problem haben, weil kein Bedarf an ihrer Arbeitskraft besteht, ein einziges Problem für eben diese Gesellschaft und ihre politischen Verwalter sind, eine Belastung für das Land: Sie gehören nicht dazu, müssen dazu gebracht werden, sich ordentlich zu „integrieren“.

Worin bzw. in was sollen sich die ‚Problemschichten‘ integrieren? Die Lebensbedingungen, Gesetze und Sitten der Nation, an die die sich anpassen sollen – die sind bei dieser Forderung über jeden Zweifel erhaben. „Integration“ erhebt den Anspruch an die Unterschichtler und an Einwanderer, an sich alles zu tilgen, was ihnen als fehlendes Leistungsvermögen und Verweigerung eines ordentlichen Verhaltens vorgeworfen wird. Diese Sozialfälle sollen ihre Lage dadurch beseitigen, dass sie alle Umgangsweisen, mit denen sie sich mehr schlecht als recht durchschlagen, sich selber anlasten und an sich abstellen. Die Ausgegrenzten sollen sich nicht mehr unterscheiden von den vorbildlichen Leistungsträgern: Sie sollen die Konkurrenz, in der sie scheitern, gegen jede Erfahrung als Chance und Angebot begreifen; sie sollen mitmachen wollen, auch wenn sie nicht gebraucht werden – ein Anspruch, der sich durch den dauerhaften sozialen Bodensatz in seinem sozialstaatlich eingerichteten Status laufend enttäuscht bestätigt sieht.

Da beginnen die Differenzen zwischen Sarrazin und seinen regierenden Kritikern. Die werfen ihm vor, dass er diesen Schichten „pauschal“ Fähigkeit und Willen zur Integration abspricht, wo sie ein zwar gewaltiges, aber beherrschbares Problem mit ‚Integrationsschwierigkeiten‘ und ‚Integrationsverweigerern‘ sehen. Sie teilen die Diagnose – ‘Kriminalitätsrate hoch, demographische Entwicklung besorgniserregend, muslimische Sitten mit Vorsicht zu genießen‘! Aber nicht, um Integration insgesamt in Zweifel zu ziehen, sondern den Anspruch zu bekräftigen, an dem sich die Problemfälle zu bewähren hätten, gerade weil ihnen die Regierenden immerzu misstrauen. Demgegenüber wirft ihnen Sarrazin vor, ‚Deutschland abzuschaffen‘, weil sie diese Schichten mit Sozial- und Integrationspolitik dulden, statt sie auszutrocknen. Der Mann mobilisiert die Sorge um Deutschlands Zukunft gegen die Integrationspolitik der Amtierenden und das können die nicht leiden. Der Mann ist „wenig hilfreich“ (CDU-Merkel), sogar “eine Gefahr für Deutschland“ (SPD-Gabriel): Er schädigt und diffamiert mit seinen Invektiven gegen die Unterschicht deren Regisseure. Dagegen beharren die Verantwortlichen auf ihrer Integrationspolitik aus Einsortierung williger Dienstleister und Härte gegen die ‚Verweigerer‘.Die Sortierung und Beaufsichtigung der nationalen Manövriermasse aus aller Herren Länder ist bei ihnen gut aufgehoben.

Ausgrenzen oder Einbinden? Was für eine Alternative! Stattdessen eine Kritik der Integrationsdebatte und Auskünfte über Integration – was sie ist, wie sie geht und warum sie umstritten ist.