GEGENARGUMENTE

Bemerkungen zur Anti-GATS-Kampagne

Das "General Agreement on Trade in Services" (GATS), auf deutsch das "Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen", ist Verhandlungs- und Streitgegenstand unter den Mitgliedern der Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organisation), zu denen alle relevanten Staaten mit einer kapitalistischen Ökonomie zählen, neuerdings auch die VR China. Unter die "Services" – die Dienstleistungen – die da verhandelt werden, fallen so unterschiedliche Branchen wie Banken und Versicherungen, die Telekommunikation und vieles, das hierzulande vom "öffentlichen Sektor" bzw. vom Sozialstaat organisiert wird, wie Gesundheitswesen und Ausbildung. Gegen die Tendenz der maßgeblichen WTO-Nationen, den internationalen Handel mit diesen sogenannten Dienstleistungen zu liberalisieren, formiert sich die globalisierungskritische Protestbewegung, unter anderem auch deswegen, weil die Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen die Privatisierung der entsprechenden Geschäftsfelder voraussetzt oder nach sich zieht, indem allfällige Staatsmonopole in den betreffenden Branchen abgeschafft oder zumindest aufgebrochen werden müssen. Eine zentrale Losung dieser Kampagne, vorgetragen zB von attac und von Leuten im ÖGB und der Arbeiterkammer, lautete ursprünglich: "McBildung, McWasser, McSpital – alles privat?" Dieser Titel wurde nach einer kritischen Sendung von "Radio Gegenargumente" im Frühjahr 2003 aus dem Verkehr gezogen, der Standpunkt aber nicht. Deswegen hier noch einmal die vollständige, überarbeitete Argumentation gegen diese Kampagne:

Privatisierung – warum eigentlich nicht?

Die Frage soll hier einmal sachlich und nüchtern gestellt werden: Privatisierung – warum nicht? Die Gegner des GATS tun manchmal so, als seien die Produkte der Privatwirtschaft notwendig von mieser Qualität, deswegen das "Mc" – "McBildung, McWasser, McSpital". Aber das stimmt nicht. Die Geschäftswelt bietet Produkte unterschiedlicher Qualität an, darunter allerdings jede Menge Ramsch und Schund – als spezielles Angebot für Leute, die sich das bessere und teure Zeug nicht leisten können. Wenn also Bildung, Wasser und Spital in Zukunft mehr kosten, dann muß eben mehr Lohn her. Und schon wäre das Problem gelöst! Die erwähnten Gegner des GATS unterstellen ständig die Armut normaler Menschen, also derer, die vom Lohn leben müssen – und die sich deswegen nur "McBildung, McWasser, McSpital", also alles in mieser Qualität leisten können –, sie tun aber so, als sei diese miese Qualität eine notwendige Folge der Privatproduktion, und nicht eine Folge der normalen Armut. Dabei nimmt die private Geschäftswelt nur "Rücksicht" auf die Armut der Konsumenten und auf ihren eigenen Gewinn, wenn sie diverse Waren auch in Billigvarianten anbietet, die sich sogar normale Menschen leisten können.

Der staatlichen Bewirtschaftung von Bildung und Gesundheit etc. wird nun von attac und Kollegen die Quadratur des Kreises zugeschrieben: Ohne grundsätzlich an der Armut etwas zu ändern, soll eine notwendige Wirkung der Armut verhindert werden, soll anständige Bildung und Gesundheitsversorgung auch für die Armen zur Verfügung stehen. Denn daß die Löhne dermaßen steigen, daß sich auch normale Menschen die Qualitätsvarianten von Gesundheit etc. leisten können, das können sich diese Kritiker der Privatisierung auch nicht vorstellen, und das wollen sie auch gar nicht erst fordern. Das halten sie wohl für "unrealistisch" – zurecht übrigens! Denn der Lohn bestimmt sich nach den Bedürfnissen dessen, der ihn zahlt, und nicht nach den Kosten einer anständigen Lebensführung derer, die sehen müssen, wie sie damit zurechtkommen. Weil die Gegner der Privatisierung von Armut und Lohn nicht reden wollen und statt dessen so plakativ – um nicht zu sagen: demagogisch – mit der Minderwertigkeit von kommerziell erzeugten Produkten hausieren gehen, sei hier daran erinnert, daß es in Sachen Bildung und Gesundheit schon private Anbieter gibt, und daß die Qualität dieser Anbieter in der Regel besser ist als die Qualität des öffentlichen Angebotes: Die Beschaffenheit der öffentlichen Bildung und der staatlichen Gesundheitsreparatur ist längst die Geschäftsgrundlage für private Anbieter, für Privatschulen und für Privatspitäler! Von wegen "McBildung und McSpital": Das bessere private Angebotes wird von denen frequentiert, die es sich leisten können. Also bestätigt diese Sachlage die bereits erwähnte Forderung: Her mit einem ordentlichen Lohn, der das bezahlt, und anständige Wohnungen und Autos und eine ordentliche Lebensqualität obendrein. Wer nun "realistisch" sein will und sich sicher ist, daß "die Wirtschaft" einen solchen Lohn unmöglich zahlen kann, daß gerade in Zeiten wie diesen höhere Löhne nicht zu haben sind, der möge sich klarmachen, daß damit die Systemfrage auf dem Tisch ist: Wenn sich die Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums dessen Elemente nicht leisten können, wenn sich ausgerechnet die arbeitende Menschheit aus Geldmangel lauter Sachen und Dienstleistungen nicht leisten kann, die sie selbst produziert, die es also gibt und an denen keineswegs eine natürliche Knappheit herrscht – dann ist dieses ökonomische System, diese Produktionsweise offenkundig äußerst ungesund, und man sollte es deswegen loswerden.

Öffentlicher Dienst vs. Markt: attac eröffnet eine falsche Alternative

Aber von diesem Realismus der Kapitalismuskritik halten die angesprochenen Gegner von GATS nicht viel, sie meinen ja, auf eine systemkonforme Alternative verweisen zu können: (Die Zitate sind aus einem Positionspapier von attac-austria, http://www.attac-austria.org)

"Öffentliche Dienste in Gefahr: Unter ‘öffentlichen Diensten’ (engl. public services) versteht man soziale Absicherungs- und Grundversorgungsbereiche wie Kranken- und Pensionsversicherung, Bildungssystem, öffentlicher Verkehr, Wasserversorgung, Strom, Telefon und Post. Diese Grundinfrastruktur, die wir alle jeden Tag benötigen, wird üblicherweise durch öffentliche Monopole auf solidarische Weise zur Verfügung gestellt. Alle Menschen haben Zugang, Gewinne werden nicht erwirtschaftet, der Markt bleibt draußen. ... Durch die Privatisierung drohen die public services teurer zu werden, der universale Zugang für alle Menschen würde verloren gehen, und die Qualität der Dienstleistungen droht ebenfalls abzunehmen."

Der Kardinalfehler dieser Position besteht darin, den Staat in seiner Eigenschaft als Sozialstaat oder als Organisator öffentlicher Dienste mit einer Alternative zum Markt und zur Privatproduktion zu verwechseln. Gegen diese idyllisierende Sicht – staatliche Monopole stellen "auf solidarische Weise" und "für alle Menschen" ihre Dienste zur Verfügung, der "Markt bleibt draußen" und "Gewinne werden nicht erwirtschaftet" – gehört an einige bekannte Tatsachen erinnert, um speziell das Bild vom öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesen zurechtzurücken, das da gezeichnet wird.

Der Staat ist keine Alternative zum Markt, weil er dessen Urheber, dessen Veranstalter und dessen permanenter Betreuer ist. Indem der Staat das Eigentum garantiert und ein gesetzliches Zahlungsmittel, ein nationales oder auch übernationales Geld wie den Euro verordnet, setzt er den Kapitalismus in Gang: Jeder ist gezwungen, alles, was er braucht, zu kaufen, und um an Geld zu kommen, muß er seinerseits etwas anbieten. Nur dadurch, durch Eigentum und Geld, sortiert sich die Menschheit schon ganz zwanglos in die beiden charakteristischen gesellschaftlichen Abteilungen, die man heute nicht mehr "Klassen" nennt: In diejenigen, die selbst arbeiten müssen, und in die anderen, die ihnen die Arbeit "geben", wie das heißt. Der Lohn ist in diesem Verhältnis, wie bereits erwähnt, sehr einseitig das Mittel derer, die ihn zahlen: Die zahlen einen Lohn nur dann und nur in einer Höhe, die ihnen mit der Verfügung über die Arbeitskraft auch deren bezwecktes Resultat garantieren soll, und das ist nicht das erzeugte Produkt, sondern der darin steckende Gewinn. Wenn diese Kalkulation nicht aufgeht, wird über kurz oder lang gar kein Lohn mehr gezahlt. Dieser Zweck der Arbeit – arbeiten für einen Anwender, dessen Reichtum dadurch wächst – bringt die komplementäre Armut der Leute hervor, die man heute nicht mehr "Proletariat" nennt. Es sind auch nettere Bezeichnungen für diesen Teil der Klassengesellschaft in Umlauf, die viel zitierten "kleinen Leute" etwa, die auf die Fürsorge der "großen" angewiesen sind, oder die "Unselbständigen", die so unselbständig sind, daß sie nicht einmal für sich produzieren können, sondern auf einen Anwender ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, oder die "sozial Schwachen" – kurz, die moderne Gesellschaft ist voll von Betreuungs- und Pflegefällen.

Diese Betreuung ist durchaus vorhanden, allerdings etwas anders, als attac sich das zurechtlegt. Der Staat, der den Kapitalismus einrichtet, kümmert sich in der Tat um die Armut, allerdings ist er dann schon wieder keine Alternative zum Markt, sondern dessen Lieferant. Am Beispiel des Gesundheitswesens, das entgegen anders lautenden Behauptungen sehr wohl zur Sphäre des Marktes, der Privatproduktion und des Gewinns gehört: Die pharmazeutische Industrie besteht aus gewinnorientierten Privatbetrieben; dasselbe gilt für die Produzenten medizinisch-technischer Geräte. Niedergelassene Ärzte sind Selbständige, also Privatunternehmer, und Privatspitäler sind ebenfalls auf Gewinn aus, genau wie private Krankenversicherungen. Die wesentliche Leistung des Sozialstaates, neben der Subvention öffentlicher Spitäler aus Steuermitteln, ist die Versorgung dieses längst existierenden Gesundheitsmarktes und der darauf tätigen Privatwirtschaft mit Zahlungsfähigkeit. Der Sozialstaat überläßt es aus guten Gründen gar nicht erst der privaten Sparsamkeit der modernen Proletarier, pardon: der "Unselbständigen", die laufend etwas auf die Seite legen müßten, um aus dem Ersparten im Ernstfall eine Operation, ein teures Medikament oder eine längere Therapie zu bezahlen. Der Sozialstaat geht davon aus, daß die Lohnempfänger, blieben sie sich selbst überlassen, wegen der normalen Löhne wohl viel zu sehr auf ihre robuste Gesundheit spekulieren würden – und dann könnten sie sich im gewiß eintretenden Krankheitsfall die Behandlung nicht leisten, und das Gesundheitswesen hätte keine zahlungsfähige Kundschaft. Es geht bei der staatlichen Krankenversicherung schon um Versorgung, um die Versorgung des Geschäfts nämlich: Damit das Geschäft mit der Gesundheit auch bei finanziell entkräfteter Kundschaft klappt, wird ein Teil des Lohns vom Staat zwangskollektiviert, aus welchem Krankenversicherungs-Topf dann die Kosten für Medikamente und Operationen – und die dazugehörigen Gewinne – bestritten werden. Weil sich die Armen – pardon: die Lohnempfänger – als Individuen ihre Gesundheit eigentlich nicht leisten können, werden sie vom Staat zum Kollektiv zusammengefaßt und gezwungen, es doch zu tun. Der Staat stellt außer seiner Gewalt gar nichts zur Verfügung: Er zwingt die Leute zu einer Vorsorge, die er lieber nicht der freien Entscheidung der Armen überantwortet. Den besseren Leuten ist es selbstverständlich freigestellt, sich zusätzlich zu versichern, und darüber zusätzliche Leistungen oder eine bessere Unterbringung im Spital zu finanzieren. Also von wegen, in Sachen Gesundheit gäbe es keinen Markt und keinen Gewinn – wo leben die Leute von attac eigentlich? Der Staat organisiert keine Alternative zum Markt, sondern betätigt sich als dessen Zulieferer.

Analog verhält es sich mit der anderen von der Privatisierung bedrohten Abteilung, mit dem Bildungswesen. Es ist doch geradezu ein Hohn, wenn die globalisierungskritische Bewegung den drohenden Qualitätsverlust – "McBildung" – durch Privatschulen beschwört. Sollte den braven Leuten tatsächlich entgangen sein, daß der Staat der Verursacher von "McBildung" schlechthin ist, und zwar dadurch, daß er nicht einfach einen Unterricht organisiert und die Kinder zwingt, sich den reinzuziehen, sondern indem das Bildungswesen den edlen Zweck der Auslese erfüllt: Von jedem Jahrgang werden stufenweise immer mehr Leute von der höheren Bildung ausgeschlossen, so daß relativ wenige schlußendlich an der Universität landen. Den Schülern wird eben nicht nur etwas beigebracht und anschließend überprüft, ob sie es verstanden haben – diese Überprüfung ist als Wettbewerb aufgezogen, und die Schwächsten, also die, die eine Wiederholung und Unterstützung am nötigsten hätten, werden Zug um Zug von der weiteren Wissensvermittlung eliminiert: Die staatliche Auslese bewirkt die Verabreichung von "McBildung" an den größeren Teil der Auszubildenden! Das ist auch durchaus bekannt, wenn man liest, daß Leute, die eine normale Schullaufbahn absolviert haben, oft nicht einmal ordentlich schreiben und lesen und einen Erlagschein ausfüllen können. Aber auch das ist durchaus zweckmäßig, denn die "Versorgung", um die es dem Staat beim Bildungswesen geht, ist schon wieder die Versorgung des Marktes und keine Alternative dazu: Es geht um den Arbeitsmarkt, und der braucht sehr wohl eine Masse von Leuten, die vom Staat mit "McBildung" abgespeist wurden. Auch daran merkt man übrigens, daß sich die "politische Gestaltung" eben nicht an einem "Ausgleich zwischen privatwirtschaftlichen und öffentlichen Interessen" zu schaffen macht, wie attac glaubt:

"Nationalstaaten, Länder und Gemeinden regulieren mit Gesetzen die von Privaten erbrachten Dienstleistungen, um auch nicht-ökonomische Ziele wie Umweltschutz, Gesundheitsvorsorge, Arbeitsplatzsicherheit oder Regionalpolitik zu verfolgen. Es findet politische Gestaltung des Wirtschaftsgeschehens im Sinne eines Ausgleichs zwischen privatwirtschaftlichen und öffentlichen Interessen statt."

Das sind keine zusätzlichen, "nicht-ökonomischen" Ziele, das sind einerseits Vorleistungen für das private Geschäft, und andererseits Instandhaltungsmaßnahmen für die vom Geschäft beschädigten Geschäftsgrundlagen, wie Gesundheit und Umweltschutz.

In einer Hinsicht hat attac gewiß recht. Die anvisierten Privatisierungen werden steigende Preise und demzufolge Verschlechterungen für alle mit sich bringen, die mit den Preisen für Qualitätsprodukte schon jetzt Probleme haben. Die Erfahrungen mit der Privatisierung in Großbritannien sprechen da für sich. Allerdings ist die angesagte Verteuerung bzw. die fortschreitende Verarmung der normalen Leute kein Grund, den status quo ante in geradezu absurder Weise zu glorifizieren, etwa wenn dem öffentlichen Dienst nachgesagt wird, "alle Menschen" "auf solidarische Weise" mit dem zu versorgen, was "wir alle jeden Tag benötigen" – so als ob die ehemalige Post oder die Wiener Stadtwerke das Telefon oder den Strom früher nicht abgestellt hätten, wenn jemand die Rechnungen nicht bezahlen konnte, oder als ob aus einer Gemeindewohnung noch nie jemand delogiert worden wäre. Oder als ob es im öffentlichen Dienst keine Arbeitshetze und keinen Leistungsdruck, keine Überarbeit und keine daraus resultierende Schlamperei gäbe, natürlich auf Kosten etwaiger Patienten oder Pflegefälle, oder keine Beschäftigten, die wg. ständiger Personalnot Zeitausgleich oder Urlaub jahrelang nicht konsumieren können, von den Löhnen in diesen Branchen ganz zu schweigen. Das alles ist den Leuten von attac natürlich bekannt, sie nehmen diese demokratisch herbeigeführten Zustände im öffentlichen Dienst aber nicht wirklich ernst, gar nicht als Auskunft über die tatsächlichen Prioritäten in einer Demokratie, sondern als bloß vordergründiges Phänomen, das gar nicht wirklich zur "Demokratie" gehören könne, und deswegen mit "Demokratisierung" zu beheben wäre:

"Auch öffentliche Dienstleistungen sind natürlich nicht perfekt. Schmerzvolle Erfahrungen wie unachtsame oder gar menschenunwürdige Behandlung in Spitälern oder Altersheimen; oder monatelanges Warten auf die Installation eines Telefonanschlusses haben das Image mancher öffentlichen Dienstleistungen angekratzt. Der Einzug von betriebswirtschaftlichem Denken – Kostenreduktion und Gewinnmaximierung – geben den öffentlichen Einrichtungen den Rest, es führt zu Schließung von Nebenbahnen und Postämtern, zu überfallsartigen Kürzungen von Pensionsleistungen und zu Einschnitten im Bildungs- und Gesundheitssystem. Die Lösung ist allerdings nicht Privatisierung ,sondern die radikale Verbesserung und Demokratisierung der öffentlichen Dienste!"

Und diese verwegene These, wonach der existierende öffentliche Dienst mit diesen "schmerzvollen Erfahrungen" nur auf einen Mangel an Demokratie verweisen kann, entgegen der allseits bekannten Tatsache, daß Sparprogramme im öffentlichen Dienst ebenso wie Pensionskürzungen von demokratisch gewählten Volksvertretern beschlossen werden, die verweist wieder darauf, daß die Leute von attac an der Vorstellung von der staatlichen Alternative gegenüber der Privatwirtschaft festhalten wollen –, ausgerechnet da, wo sie selbst den Substandard des öffentlichen Dienstes ansprechen, der doch eigentlich erst nach der Privatisierung einreißen dürfte.

Nutzen vs. Schaden: Eine falsche Bilanz der Globalisierung

Dieser Dogmatismus liegt daran, wie die globalisierungskritische Bewegung die Verteilung von Nutzen und Schaden im Kapitalismus zur Kenntnis nimmt, und wie sie von den privaten Nutznießern einen falschen Schluß auf die Subjekte bzw. die "Hintermänner" der Globalisierung zieht oder bekräftigt:

"Wer sind die Gewinner des GATS? Das GATS kommt nicht von ungefähr. Der ehemalige Direktor der GATS-Abteilung im WTO-Sekretariat David Hartridge hat dies so ausgedrückt:‘Ohne den enormen Druck der amerikanischen Finanzdienstleistungsindustrie, insbesondere von Firmen wie American Express oder Citicorp, hätte es kein Dienstleistungsabkommen gegeben.’ Die großen Dienstleistungskonzerne der USA und der EU sind gut organisiert und betreiben systematisches Lobbying pro Liberalisierung. Die wichtigsten Lobbygruppen: US Coalition of Service Industries (USCSI), European Services Forum (ESF), Liberalization of Trade in Services (LOTIS), Global Services Network (GSN), International Financial Services, London (I FSL). Laut Leon Brittan ,dem ehemaligen EU-Handelskommissar und jetzigen Lobbyisten des Finanzzentrums der Londoner City, ‘war die enge Verbindung (...) zwischen der EU- und der US-Industrie (...) ein wesentlicher Faktor beim Zustandekommen des endgültigen Deals.’ Neben Banken und Versicherungen zählen große Wasserversorger, Telekom-, Energie-, Bildungs- und Gesundheitskonzerne zu den Gewinnern des GATS. Die Weltbank und prominente Investmenthäuser schätzen den weltweiten Markt für Wasserversorgung auf jährlich 800 Milliarden Dollar, den für Bildung auf 2000 Milliarden Dollar und jenen für Gesundheitsdienstleistungen auf 3500 Milliarden Dollar. Die EU-Kommission gibt unverblümt zu: ‘Das GATS ist (...) zuallererst ein Instrument zugunsten des Geschäftemachens.’"

Zwischenbemerkung gegen den Gestus der "Enthüllung", den attac da an den Tag legt – worum soll es denn beim internationalen Handel sonst gehen, wenn nicht "unverblümt" ums Geschäft? Wer soll denn sonst profitieren, wenn nicht die, die etwas zu verkaufen haben? Was soll denn "Handel" sonst sein? Der wesentliche Mangel der Darstellung besteht aber darin, daß in dieser Bilanz von Gewinnern und Verlierern bei den Gewinnern eine maßgebliche Figur fehlt, und zwar schon wieder der staatliche Veranstalter des Kapitalismus. Denn auch der demokratische Staat hat eine ökonomische "Existenzweise", eine Kostenrechnung und eine Buchhaltung, er gestaltet bekanntlich einen Staatshaushalt, er ist permanent mit der Bilanzierung von Einnahmen und Ausgaben befaßt. Und alle staatlichen Einnahmen haben eines gemeinsam: Sie sind auf den privaten Profit gegründet. Alles staatliche Abkassieren beruht auf privater Geschäftstätigkeit, indem so gut wie jede private ökonomische Transaktion – die bekanntlich nur des Profits wegen stattfindet! – besteuert wird. Nicht etwa weil die Unternehmer und ihre "Lobbies" zuviel Einfluß im Staat haben, sondern weil die Staatseinnahmen, seine komplette ökonomische Potenz – aus der auch der öffentliche Dienst finanziert wird –, auf dem Gewinn beruht, fördert der demokratische Staat ganz prinzipiell das private Geschäft und den privaten Gewinn. Unabhängig davon, welche Partei gerade regiert! Nicht nur die Arbeitsplätze normaler Leute und deren Lohneinkommen, auch die Staatseinnahmen und die Sozialkassen sind davon abhängig, daß der Profit stimmt – und das alles wird prekär, wenn der Profit schwächelt, wie in der Krise: Nicht nur die Arbeitslosigkeit nimmt zu, auch Steuereinnahmen "brechen weg" und die Sozialkassen nehmen weniger ein.

Vom Standpunkt der staatlichen Kostenrechnung ist deswegen Privatisierung immer eine Option: Denn eine als Staatsbetrieb aufgezogene Eisenbahn kostet den Staatshaushalt etwas, sie verbraucht Steuereinnahmen, auch wenn Gebühren und Preise verrechnet werden, wohingegen ein florierender Privatbetrieb Steuern und Sozialabgaben einspielt – deswegen braucht es auch nicht unbedingt den Anstoß des GATS, um die Privatisierung von Staatsbetrieben voranzutreiben, und um den öffentlichen Sektor einer ständigen Überprüfung und einem ordentlichen Kostendruck auszusetzen. Klar, nicht alles, was staatlich betrieben und defizitär ist, wird sofort zugesperrt – notwendige, aber unprofitable Vorleistungen und Zulieferungen für den Markt und damit für den Profit werden subventioniert, ein Pflichtschulwesen etwa und der Autobahnbau: Das wird weiter staatlich betrieben oder gefördert, eben weil es für Markt und Profit notwendig ist. Das ist nämlich das tatsächliche Kriterium für den staatlich finanzierten oder subventionierten "öffentlichen Sektor", und nicht die Bereitstellung all dessen, was "wir alle jeden Tag benötigen", wie das attac-Papier meint. Wenn es darum ginge, wäre doch die Produktion sämtlicher Konsumgüter längst verstaatlicht!

Vom Standpunkt des Nutzens für den Kapitalstandort führen die Staaten auch ihre Verhandlungen über internationale Handelsabkommen wie das GATS. Denn da streiten bekanntlich nicht die Konzerne, sondern die Nationen, da sitzen nicht Unternehmer, sondern Politiker und Beamte. Die beurteilen allfällige Forderungen, den internationalen Handel betreffend, knallhart und einseitig nach den Konsequenzen für den jeweiligen nationalen Kapitalstandort, also mittelbar nach den Konsequenzen für die staatlichen Bilanzen. Entgegen anderslautenden Behauptungen sitzen dort also nicht die dogmatischen Verfechter von Liberalisierung schlechthin, sondern die dogmatischen Verfechter jedes freien Handels, der der eigenen Nation nützt; im antizipierten Schadensfall ist jede Nation andersherum sehr wohl ein Verfechter des Protektionismus, also des Schutzes des Standorts vor auswärtiger Konkurrenz. Insofern ist es nachgerade absurd, die Demokratie für ein "Opfer" des GATS zu halten, wie das im zitierten Positionspapier von attac geschieht. Die mächtigen, ökonomisch potenten kapitalistischen Demokratien sind die (ver)handelnden Subjekte des Abkommens, die nach dem Nutzen für ihre Standorte kalkulieren, und nicht die ohnmächtig Betroffenen, auch dann nicht, wenn sie sich gegenüber ihren vom GATS geschädigten Bürgern als solche ausgeben. Gerade weil die Staaten die maßgeblichen Instanzen des internationalen Handels sind, müssen die Konzerne überhaupt ihr "Lobbying" betreiben und bei der Politik antichambrieren. Jede "Lobby" lebt nun einmal davon, daß sie der Politik etwas zu bieten hat, jede "Lobby" muß an das Interesse der umworbenen Seite appellieren und deren Nutzen herausstreichen. Wenn der zu schaffende, im Moment durch "Regulierung" staatlich behinderte Weltmarkt für "Wasserversorgung, Bildung und Gesundheitsdienstleistungen" auf insgesamt über 6000 Milliarden Dollar geschätzt wird, sofern er so richtig "freigegeben" würde, dann besteht das Angebot der europäischen und amerikanischen Lobbies an ihre Staaten eben darin, einen beträchtlichen Teil dieses Marktes zu erobern und den Profit auf ihrem "Standort" zu verbuchen.

Das private Profitinteresse ist in der Marktwirtschaft eben der ökonomisch bestimmende Zweck und damit die Voraussetzung für jeden Handel und Wandel – der Profit muß stimmen, dann und nur dann gibt es Arbeitsplätze ebenso wie Steuereinnahmen, Löhne und Subventionen, Sozialbeiträge und Kindergeld. Deswegen ordnet der Staat auch dem privaten Profit die Lebensbedingungen seiner Bürger unter. In der marktwirtschaftlichen Demokratie ist der Profit das reale Allgemeininteresse. Das mag paradox klingen, aber das Allgemeininteresse in der modernen Geldwirtschaft bestimmt sich nicht nach der Quantität der Betroffenen, nicht nach dem, was vielen nützt, auch nicht nach der Mehrheit der Wahlberechtigten, sondern nach den sachlichen Erfordernissen des berühmten ökonomischen "Wachstums", auf das es in der Marktwirtschaft ankommt. Wachsen muß nämlich nicht das Einkommen der Lohnempfänger, sondern das private Eigentum, indem es aus gekaufter Arbeit einen Gewinn herauswirtschaftet – und wenn der Staat den internationalen Handel nach diesem Kriterium beurteilt und außerdem Löhne, Pensionen und andere Sozialleistungen als Kosten behandelt, die es zu minimieren gilt, dann ist das zwar brutal, aber sachgerecht. Im System der kapitalistischen politischen Ökonomie.