GEGENARGUMENTE

Eine kritische Nachbetrachtung zu den Demonstrationen gegen den Sozialabbau Anfang April (nicht nur, aber hauptsächlich) in Deutschland

Teil 1: Worum geht’s überhaupt beim "Sozialkahlschlag"?

Um eine nationale Offensive gegen den Lohn – für eine überlegene deutsche Wirtschaftsmacht!

1. Die herrschenden Demokraten meinen es ernst mit der Volksverarmung. Die Nöte in der Brieftasche, die sie mit dem Sozialstaatsumbau der lohnabhängigen Menschheit bescheren, sind keine bedauerliche Nebenwirkung einer eigentlich gut gemeinten Sanierung der Sozialkassen; sie sind auch kein Fehlgriff bei der Verfolgung des lobenswerten Zwecks namens "Schaffung von Arbeitplätzen"; sie sind weder ein kurzfristiges Antikrisenprogramm noch die eigentlich ungewollten Kollateralschäden einer aktuellen Finanznotlage: Sie sind gewollt. Die Kosten des Sozialen sollen generell gesenkt werden – natürlich auf Kosten der Versicherten! Der Druck zur Annahme immer schlechter bezahlter Arbeitsverhältnisse, den die Kürzung der Leistungen aller Kassen auf Arbeitende und Arbeitslose gleichermaßen ausübt, ist der Zweck der Veranstaltung: Die Arbeit soll billiger werden, damit das Kapitalwachstum vorankommt.

2. Deshalb hilft es überhaupt nichts, den staatlichen Machthabern vorzurechnen, wie schlecht ihre Reformen dem Volk bekommen. Das trifft sie nicht. Von wegen: Das können die doch nicht ernsthaft wollen! Die Auswirkungen kennen die Machthaber, die Opfer wollen sie und fordern sie ein. Auch gut gemeinte Vorschläge, wie sich doch auch ohne immer neue Härten für die Massen Sozialkassen sanieren und Arbeitsplätze schaffen ließen, gehen an der Sache vorbei: Solche Vorschläge nehmen die Zielsetzung nicht ernst, die die Regierenden mit ihrem Verarmungsprogramm verfolgen. Dabei machen die auch hier gar kein Geheimnis aus den materiellen Schäden, die sie ihrem Volk zumuten. Offen verordnen sie dem Volk "radikales Umdenken" in Sachen sozialer Sicherheit. Abschied nehmen soll man von gewohnten Leistungen; alles andere gilt als "Anspruchsdenken", das sich nicht mehr gehört. Das Volk hat sich gefälligst daran zu gewöhnen, dass manches ab sofort nur noch bedingt geht und anderes gar nicht mehr. Jeder Beschwerde, jedem Protest begegnen die herrschenden Machthaber ziemlich ungerührt mit einem deutlichen "Weiter so! – Der Reformprozess ist unumkehrbar." Sie versprechen ihrem Volk nur, dass sie sich durch keinerlei Bedenken von ihrem neuen Kurs abbringen lassen werden.

3. Die Regierenden haben nämlich befunden: Die alten Sozialsysteme vertragen sich nicht mehr mit dem Auftrag, Wachstum zu fördern und den Wirtschaftsstandort voranzubringen. Der Befund lautet: Die Arbeit ist in Deutschland zu teuer; und der Aufwand, den die sozialen Kassen für den Unterhalt von Arbeitslosen, Kranken, Rentnern, Sozialhilfeempfängern treiben, ist zu hoch. Zu hoch für wen, ist auch keine Frage. Sicher nicht für diejenigen, die als – Arbeitslose, Kranke, Rentner, Sozialhilfeempfänger davon leben müssen. Zu hoch sind die Aufwendungen für sozialstaatliche Betreuung unter einem anderen Gesichtspunkt: Sie sind Kosten, die die deutsche Wirtschaft und die Staatskasse belasten. So lautet der offizielle Befund, der den Reformkurs anleitet: Die Finanzierung des Lebensunterhalts der arbeitenden Menschheit im bisherigen Umfang ist mit dem Wachstum am Wirtschaftsstandort Deutschland unvereinbar.

4. Mit diesem selbstkritischen Befund reißt die Politik den alten Sozialstaat ein. Derselbe Staat, der dieses System eingerichtet, es jahrelang für gut und nützlich befunden und auf immer neuem Niveau organisiert hat, befindet es nun für untragbar. Seine neue Optik lautet: Statt dass die Sozialsysteme – wie es bislang ihre Aufgabe war – ein gedeihliches Umfeld für das kapitalistische Profitemachen schaffen, stehen sie ihm im Wege. Die Maßnahmen, mit denen der Staat die Arbeiterschaft betreut, und der dafür betriebene finanzielle Aufwand gelten der Politik jetzt nicht mehr als Hilfsmittel für freie und flexible Benutzung der Arbeiterschaft durchs Kapital. Sie gelten vielmehr als ein einziges Hindernis für den rentablen Einsatz der Arbeitskraft. Die Betreuung, die der Sozialstaat den Arbeitslosen hat zukommen lassen, definiert die Politik nun als Grund für die wachsende Arbeitslosigkeit: Mit "Lohnersatzleistungen" sei Leuten ermöglicht worden, sich dem Zwang zur Arbeit zu entziehen; so seien sie nicht für den Arbeitsmarkt fit gehalten, sondern gerade umgekehrt dem Arbeitsmarkt entzogen worden. Und der Aufwand für Krankheit und Alter gilt der Politik nicht mehr als notwendige Betreuungsleistung der Arbeiterklasse, sondern nur noch als lästige Kost, die das Kapital unzumutbar belastet. Auch das Arbeits- und Tarifvertragsrecht erfährt eine Umdefinition: Statt nützlicher Regeln für das profitable Zusammenwirken von Kapital und Arbeit liegen hier nach neuestem Befund lauter Beschränkungen vor, die das Kapital an wachstumbringenden Investitionen hindern.

5. Aus ihrer Selbstkritik folgt für die regierenden Politiker deshalb messerscharf: Diese "Beschränkungen" müssen weg! Mit einer radikalen Absenkung von sozialstaatlichen Leistungen und neuen arbeitsrechtlichen Freiheiten muss dafür gesorgt werden, dass das Kapital die Arbeiterschaft zwecks Stärkung der deutschen Wirtschaftskraft wieder verstärkt in Dienst nimmt. Daher muss der Preis der Arbeit von allen verfälschenden Zusätzen befreit werden, die Unternehmen daran hindern könnten, mit dem Lohn als lohnender Kost zu kalkulieren. Dazu gehört insbesondere auch, dass diejenigen, die zum Profitemachen nicht oder nicht mehr benutzt werden, sich in Lebensverhältnisse unterhalb des neuen Normallohnniveaus zu fügen haben. So werden nicht nur die staatlichen Kassen geschont; so wird zugleich sichergestellt, dass die Not, die jede Entlassung nach sich zieht, zum unwiderstehlichen "Anreiz" für die Entlassenen wird, auch wirkliche jede Arbeit anzunehmen.

6. Woher kommt die Entschlossenheit der Politik zu diesen "Reformen"? Sie antwortet damit auf den Stand der Konkurrenz, zu dem sich die imperialistisches Staatengemeinschaft vorgearbeitet hat. Um sich in dieser Konkurrenz durchzusetzen, sieht es die Staatsführung als unerlässlich an, der deutschen Arbeitermannschaft eine neue Sorte der Indienstnahme zu verordnen, die dem Kapital vom deutschen Standort aus zu neuen Weltmarktsiegen verhelfen soll. Damit soll dieser Standort zu einem unschlagbaren Angebot für alle anlagewilligen Kapitalisten der Welt gemacht werden. Hier sollen sie ihr Vermögen anlegen, diese Arbeitskraft in Dienst nehmen und damit sicherstellen, dass Deutschland seinen Erfolgsweg als Weltwirtschaftsmacht mit neuer Kraft fortsetzen kann. Die anderen mächtigen europäischen Wirtschaftsnationen setzen ebenfalls alles daran, Land und Leute bei sich zum attraktiven Standort für das kapitalistische Geschäft herzurichten. In diesem Konkurrenzkampf bringen sie alle die Leistung und den Lohn der arbeitenden Bevölkerung als die Ressource schlechthin zum Einsatz. Dies soll den Geschäftssinn derer beeindrucken, die ihr Geldvermögen nur dort und dann in "Arbeitsplätze" investieren, wenn für ihren Reichtum garantiert ein Mehr an Kapitalwachstum herausspringt. In dieser Konkurrenz soll Deutschland nach dem Willen der politischen Macher Spitze bleiben.

7. Die neuen Ansprüche, die die Politik selbst an einen Kapitalstandort stellt, sind der Grund für ihren Radikalismus im Umgang mit Lohn und Sozialleistungen. Die politische Gewalt unterschreibt vorbehaltlos das Recht des Kapitals, nationale Arbeitermannschaften wie alle anderen "Standortfaktoren" nur nach einem einzigen Maßstab zu vergleichen: Was lässt sich aus ihnen an Gewinn herausschlagen. Sie bekennt sich dazu, dass der Lebensunterhalt der Leute davon abhängig sein soll, wie gut die Nation in diesem Vergleich besteht; und sie tut mit aller Macht das Ihre dazu, dass die "Arbeitskosten" dabei jedenfalls nicht im Wege stehen.

Die – derzeit SPD-geführte – Regierung präsentiert sich mit diesem Programm in trautem Einklang mit deutschen Wirtschaftsbossen. Die sehen die Sache schon immer so, dass der Staat mit seinem Sozialklimbim ihrem persönlichen Recht auf Profitemachen im Wege stehe. Dieser neue Einklang hat seinen Grund allerdings keineswegs darin, dass die Politik vor "der Wirtschaft" eingeknickt wäre und ihren eigentlichen Auftrag vergessen hätte, sich fürsorglich um das ganze Volk zu kümmern. Es ist schlimmer: Die Politik hat ihre ganz eigenen Gründe dafür, Land und Leute so konsequent der Rentabilitätsrechnung des kapitalistischen Geschäfts zu unterwerfen. Vom Gelingen dieser Rentabilitätsrechnung hängt nämlich ab, über welche ökonomischen Potenzen der Staat verfügt: Das nationale Steueraufkommen, der Wert des Geldes – also der Kredit, den der Staat international genießt, beruhen darauf, welches Wachstum das Kapital hierzulande zuwege bringt. Und wenn sich das gewünschte Wachstum heutzutage allein über den Erfolg im Standortvergleich einstellt, dann sieht sich der Staat herausgefordert, alle Mittel, die seiner politischen Macht verfügbar sind, zum Einsatz zu bringen, damit das Kapital seine Bereicherung als Dienst an deutschem Reichtum betreibt. Auf den ökonomischen Mitteln, die dieses Wachstum einspielt, beruht die ökonomische Macht und damit auch die politische Macht der Nation. Deshalb dürfen deutsche Bürger erfahren, was es sie kostet, ökonomische Ressource einer reichen und mächtigen Nation zu sein, die sich im europäischen Verbund aufmacht, Weltmacht zu werden.

Teil 2: Zu den Demonstrationen "Aufstehn, damit es endlich besser wird!"

Der Ruf nach Verteidigung des Sozialstaats in Zeiten seiner Demontage: "Aufstehn!" ist das Gegenteil von Aufstand!

Wie Staat und Kapital mit der Arbeit kalkulieren

1. Für die Unternehmer ist die Arbeitskraft erstens die schöne Quelle des Gewinns. Deshalb können sie von der Arbeit, die sie kaufen, gar nicht genug bekommen: Je länger, schneller, produktiver, flexibler die Arbeit ist, desto größer das verkaufbare Produkt, das dem Unternehmen gehört. Die Arbeitskraft ist zweitens ein leidiger Kostenfaktor. Im Interesse ihres Gewinns halten Unternehmen die Lohnsumme niedrig, die sie bezahlen. Sie stellen für die anfallende Arbeit nur das unbedingt nötige Minimum von Arbeitskräften an, die sie dann voll ausnutzen. Zugleich reduzieren sie dieses Minimum beständig durch den Einsatz neuer arbeitssparender Technik. Und dann zahlen sie den Leuten, die sie dennoch brauchen, so wenig Lohn, wie die sich eben gefallen lassen. Im Bemühen, den Lohn zu drücken, spielen sie die Arbeiter national und international gegeneinander aus: Sie nehmen immer nur den billigsten und willigsten und senken damit das Lebensniveau aller.

2. Der Staat stört sich überhaupt nicht an der Ausbeutung seiner arbeitenden Bürger, im Gegenteil: Die profitbringende Arbeit, die Unternehmer organisieren und Arbeitnehmer ableisten, ist seine Existenzgrundlage. Wie die Unternehmer, die Banken, die Börsen und manch anderer lebt auch der Staat von den Früchten der Arbeit, die aus den Lohnabhängigen herausgewirtschaftet werden. Mit Steuern beteiligt er sich am Profit des Kapitals und am Lohn der Lohnabhängigen; und wenn er seinen Haushalt mit Schulden finanziert, bedient er sich am Erfolg des Finanzkapitals. Die Wirtschaftspolitik zielt darauf, die rentable Anwendung der Arbeit, diese Quelle von Reichtum und Macht des Staates zu fördern und ihren Ertrag zu steigern. Stets will die Regierung mehr Wachstum des Kapitals, als dieses von selbst zustande bringt. Stets fördert sie die Investitionsbedingungen und lockt – auf Kosten anderer nationaler Standorte – möglichst viel Kapital auf das eigene Territorium.

3. Zu den attraktiven Investitionsbedingungen hat früher der Sozialstaat gehört; zu Zeiten nämlich, als es darum ging, eine fürs Kapital nützliche Arbeiterschaft herzustellen und zu erhalten. Gegen Unternehmer, die ihre Arbeiter durch Hungerlöhne und endlose Arbeitstage umbrachten und gegen Klassenkämpfer, die diese Verhältnisse umstürzen wollten, sorgte die Staatsmacht für die Dauerhaftigkeit der kapitalistischen Ausbeutung. Den Unternehmern zwang sie eine Beschränkung des Arbeitstages und Ähnliches auf. Den Arbeitern schenkte sie Zwangsversicherungen, in die Pflichtbeiträge eingezahlt werden müssen. Seitdem finanziert die Arbeiterklasse als ganze das Überleben ihrer Mitglieder in den unausweichlichen Notlagen, in denen sie kein Geld verdienen, weil sie dem Kapital keine Arbeit abliefern können. Für die Staatsmacht kam es nie infrage, den Unternehmern ihre ruinöse Kalkulation mit der Arbeit zu verbieten oder sie zu zwingen, die Unkosten des Lebens ihrer Angestellten auch dann zu bezahlen, wenn sie nicht arbeiten können oder dürfen. Die Vorsorge für die absehbaren Notlagen ihres Lohnarbeiterdaseins wird den Opfern per Zwang aufgedrückt. Andernfalls, das weiß ein Sozialpolitiker, würden sie gar nicht vorsorgen, weil sie sich das bei dem Lohn, den sie verdienen, gar nicht leisten können. Der normale Lohn reicht nicht für eine freiwillige Bildung der nötigen Rücklagen; das heißt: Er reicht in Wahrheit nicht für die Finanzierung eines ganzen Arbeiterlebens. Nur durch die erzwungene Umverteilung unter den Versicherten reicht er dann doch – und wie er reicht, ist bekannt: Wer auf den Sozialstaat angewiesen ist, ist arm dran! Und heute wird diese grandiose Wohltat demontiert.

4. Seit Jahren ist die Regierung nämlich mit den Leistungen ihrer Reichtumsquelle unzufrieden: Das Kapital im Land wächst nicht, und wenn, dann nicht so schnell wie anderswo. SPD-Schröder und die Grünen bekämpfen dieses Übel und verbessern die Investitionsbedingungen fürs Kapital, indem sie einen umfassenden Kampf gegen den deutschen Lohn führen. Wenn die Anwendung von Millionen Arbeitslosen den Unternehmern keinen Profit verspricht, dann müssen sie wohl zu teuer sein und zu wenig leisten. Bei einem allgemein niedrigeren Lohnniveau würden sie vielleicht mehr Nachfrage finden – und wenn nicht, würden jedenfalls die Gewinne der Unternehmen steigen, die Arbeitskräfte anwenden. Die Regierung ist sich sicher, dass sie am Wirtschaftsstandort nichts kaputt macht, wenn sie die arbeitende Mehrheit verarmt und das Kapital mit tausenderlei Kürzungen von bisherigen Lohnneben- und Lohnhauptkosten entlastet. In Zeiten, in denen für alle Bedürfnisse des Kapitals mehr als genug Arbeitskräfte aller Berufe und Qualifikationsniveaus bereitstehen und Beschäftigung suchen, hält sie soziale Rücksichten wie früher für überflüssig. Millionen Arbeitslose entfalten ihren Nutzen für die kapitalistische Gesellschaft, wenn sie die soziale Lage der Beschäftigten bedrohen. Die Drohung bringt denen bei, dass sie nichts zu verlangen haben; dass sie für Gesundheit, Ausbildung, Altersversorgung ruhig noch größere Teile ihres Nettolohnes opfern müssen; und dass man auch mit noch viel weniger Arbeitslosenunterstützung und Rente nicht gleich verhungert. Darauf verlässt sich die rot-grüne Regierung, wenn sie die Leistungen des Sozialstaats, die einst den Kapitalismus für Arbeiter aushaltbar machen sollten, als teure Fehlentwicklung kritisiert und zurückfährt. Lohnkosten wie bisher muss sich Deutschland nicht mehr leisten; und es kann sie sich nicht mehr leisten, wenn es einer der Sieger der Globalisierung bleiben will. Die Arbeitnehmer müssen ärmer werden, damit das Kapital schneller wächst und Deutschland in der internationalen Konkurrenz vorankommt. Der Reichtum der Nation beruht auf der Armut der Massen.

Wie die Gewerkschaften auf die Verarmungspolitik antworten

Eigentlich lässt die Gegenseite wenig Raum für Illusionen. Die Unternehmer sind kompromisslos. Gnadenlos reizen sie die Angewiesenheit der national wie international viel zu vielen Bewerber auf die wenigen Jobs aus, die sie zu vergeben haben, und setzen immer schäbigere Löhne durch. Genau so kompromisslos sind die Vertreter des Staates, Regierung ebenso wie Opposition: Sie sagen dem Volk, dass seine Verarmung alternativlos ist und Deutschland nützt.

Wer da mahnend "aufsteht, damit es besser wird," antwortet auf den unverblümt angesagten Gegensatz sehr "asymmetrisch". Gegen die Kompromisslosigkeit der Gegenseite setzen die Gewerkschaften nämlich nichts anderes als ihren demonstrativen Kompromisswillen. Ja, die "Notwendigkeit von Reformen" sehen sie ein und dabei wissen sie ganz genau, was diese "Reformen" bedeuten, dass sie der Standortpflege, also der Unterordnung aller Lebensregungen in dieser Nation unter die Bedürfnisse des Kapitalwachstums dienen. Sie unterschreiben also das Interesse der Gegenseite und halten ihr nur vor, dass diese so unversöhnlich doch gar nicht aufzutreten brauche. Dass die "Reformen", in denen dieses Interesse durchgesetzt wird, nicht ganz so radikal ausfallen und nicht ganz so einseitig zu Lasten der beschäftigten und unbeschäftigten Lohnarbeiter gehen sollten, wie sie gehen.

Bescheiden verurteilen sie die jeweils letzte Verschlechterung, wollen also immer den unmittelbar davor existierenden Zustand retten und stellen sich damit positiv zu der sozial geregelten Ausbeutung von früher. Fällt ihnen denn nicht auf, was für ein – vernichtendes! – Urteil sie über ihre Erwerbsquelle aussprechen, wenn sie den Erhalt des Sozialstaates erflehen, ohne den sie nicht leben können? Darin steckt doch das Eingeständnis, dass sie sich und ihre Familie von dem Lohn, den Unternehmer für Arbeit bezahlen, nicht – jedenfalls nicht ein Leben lang – ernähren können. Der Sozialstaat ist der Beweis der "Verelendungstheorie": Von ihrer Arbeit können die Arbeiter nicht leben. Wenn Leute für staatlichen Schutz und Sozialleistungen demonstrieren, gehen sie davon aus, dass Arbeit für die Rendite des Kapitals die Arbeitenden arm, arbeitslos, erpressbar macht, und wünschen sich nur, dass die Arbeitslosen, Armen, Kranken, Alten in ihrer Not eine etwas schonendere Behandlung und ein bisschen Fürsorge erfahren. Denn – muss man daran wirklich erinnern? – abgeschafft hat der Sozialstaat auch in seinen "besten" Tagen die Armut nicht.

Jetzt erleben die organisierten Arbeiternehmer den Staat als einen Feind, der seinen Fortschritt auf ihre wachsende Armut gründet oder zumindest gründen will. An diesen Feind appellieren sie als einen schlechten Helfer in der Not, der sich bessern sollte – und der sich, ihrer Meinung nach, ohne Schaden für sein Programm auch bessern könnte. Sie wollen nicht glauben, dass das Ziel der Regierung, Europa zum wachstumsstärksten Raum der Erde zu machen und Deutschland in der internationalen Standortkonkurrenz ganz an die Spitze zu bringen, Rücksicht aufs Arbeitsvolk ausschließt. Vom angesagten Zweck und von der Zweckmäßigkeit dieser Politik wollen sie nichts wissen; sie kritisieren sie als ungeschickt, unnötig, "neoliberal" verblendet – und stellen sich nicht einmal der Unversöhnlichkeit ihrer Lebensinteressen mit dem Erfolgsweg der Nation, wollen der staatlichen Offensive nicht begegnen, sondern ausweichen: Ihre Meinungsführer werben für den Protest mit dem grundverkehrten Argument, dass ihre sozialen Anliegen erstklassig zum Kurs der Nation passen würden, dass "Alternativen möglich" seien und Deutschland auf nichts verzichten müsste, wenn es seine Arbeitnehmer etwas besser behandeln würde: nicht auf Kapitalwachstum, nicht auf den Sieg in der Standortkonkurrenz, nicht auf einen harten Euro und eine Weltmacht Europa. Und da täuschen sie sich.

Von einem "Aufstehn, damit es besser wird!", das keinen Feind kennen und nichts kaputt machen will, ist eine Verbesserung der sozialen Lage nicht zu erwarten. Natürlich wäre "eine andere Welt möglich" – aber ohne dass man sich mit den weltpolitischen Ambitionen Europas und mit den Grundrechnungsarten des Kapitals anlegt, geht das nicht.