Von der Eskalation des Ukraine-Konflikts zum noch nicht heißen Endkampf um die Weltordnung

 

Mitten in Europa herrscht Krieg. Wie konnte es dazu kommen, fragt sich die westliche Öffentlichkeit und will zugleich gar keine Antwort auf diese Frage. Alles andere als eine Verurteilung Russlands, gilt ihr nämlich als inakzeptables Verständnis, dem entschieden entgegenzutreten ist. Wollte man wissen, worum es in diesem Krieg geht, so wäre das nicht schwer zu ermitteln. Zum Hintergrund der aktuellen kriegerischen Lage konnte man etwa in der Tageszeitung Der Standard schon am 22.Februar heurigen Jahres Folgendes lesen:

 

Freilich führen beide Seiten zunächst ihr Sicherheitsbedürfnis ins Treffen. Ihre Schlussfolgerungen aber könnten kaum weiter voneinander entfernt sein. "30 Jahre lang wurde viel geredet, auf allen möglichen Ebenen", sagte etwa der russische Botschafter Dmitrij Ljubinskij am Montag im Gespräch mit dem STANDARD. "Aber Russland wurde nicht gehört. Die große Frage ist, ob wir in der Sicherheitsarchitektur ein gesamtes europäisches Haus haben möchten. Es kann nicht unendlich so weitergehen, dass die Nato-Infrastruktur sich auf die russischen Grenzen zubewegt."“ Sein ukrainischer Amtskollege „Wassyl Chymynez wiederum sieht genau in der Nato jene Sicherheitsgarantie, die sein Land angesichts der Bedrohung durch Russland nötig hätte: "Deshalb ist der Beitritt zur Nato als außenpolitisches Ziel in der Verfassung verankert", bekräftige Chymynez“ er „ebenfalls am Montag vor Journalisten in Wien. Das transatlantische Verteidigungsbündnis habe Russland niemals bedroht: "Warum ist die Nato für Putin plötzlich eine Bedrohung, wenn er doch mit vielen ihrer Mitglieder erfolgreich zusammenarbeitet?"

 

Eines geht doch schon aus dieser Darstellung des Verhältnisses von Russland und Ukraine im Standard hervor. Die Gründe für den derzeitigen Krieg liegen nicht einfach im Verhältnis Russlands zur Ukraine, sondern im Verhältnis der beiden Großmächte USA bzw. NATO und Russland. Russland sieht durch den in Aussicht genommenen Beitritt der Ukraine zur NATO eine rote Linie überschritten; ein von NATO und Ukraine anvisierter Beitritt, auf dem umgekehrt die Ukraine mit dem spiegelbildlichen Argument seiner Sicherheitsinteressen gerade besteht – ein unversöhnlicher Konflikt. Stellt sich die Frage, was der Grund des derzeitigen Krieges in der Ukraine ist, wofür dort gekämpft und gestorben wird?

 

Was ist die Position der NATO?

 

Seit der Auflösung der Sowjetunion verfolgt der Westen das Ziel, die aus diesem Zerfallsprozess hervorgegangenen Staaten Zug um Zug ökonomisch im Rahmen der EU einzugemeinden und in weiterer Folge in eine von der NATO beherrschte Zone einzugliedern, um derart Russland von jedem Einfluss auf diese Staaten kategorisch auszuschließen. Proteste Russlands unterfüttert mit dem Verweis auf das gegenteilige Versprechen der Verhandlungspartner, die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen, die vom Westen mit der Bemerkung, dass es keinerlei schriftliche Vereinbarungen gäbe, regelmäßig bestritten werden, führten zu keinerlei Rücksicht auf das von Russland angemeldete Sicherheitsinteresse.

 

Ausnutzen konnte der Westen für sein Programm der Heranführung der Staaten des ehemaligen Ostblocks die miserable ökonomische Lage der neu entstandenen Souveräne, die in der in Aussicht gestellten Teilhabe am europäischen Markt die einzige Perspektive für ihr nationales Fortkommen erblickten. Für den Westen war es ein Leichtes, alle diese Staaten, auch die die sich nicht schon in ihrer neuen Staatsraison gegen Russland gestellt hatten wie Polen und die baltischen Republiken, zum Mitmachen in der NATO zu bewegen. Allen Staaten war klar, dass ihre ökonomische Neuausrichtung auf Europa eine massive Beschädigung russischer Interessen bedeutet. Die NATO bot aus ihrer Sicht die militärische Rückendeckung, die sie gegen ihren großen und überlegenen Nachbarn wollten. Die EU tat unter Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden soft power das Ihrige, sie in diesem Entschluss zu bestärken. In mehreren Wellen traten zunächst Polen, Tschechien und Ungarn, dann Estland, Lettland und Litauen, die Slowakei, Slowenien, Rumänien und Bulgarien und schließlich einige Jahre später auch Albanien, Kroatien und Nordmazedonien der NATO bei, die der russischen damit Grenze Schritt um Schritt näher rückte. Die neuen NATO-Staaten wurden zum immer weiter in Richtung russischer Grenze verlegten militärischen Aufmarschgebiet[i] hergerichtet. Mit der in Aussicht genommenen Aufnahme auch der Ukraine in die NATO, zu der das westliche Bündnis die Ukraine schon im Jahr 2008 eingeladen hatte, sieht Russland eine rote Linie überschritten. Es sieht dadurch nicht nur seine Geltung als Weltmacht bestritten, sondern darüber hinaus in der eigenen Existenz bedroht.

 

Was will die Ukraine?

 

Die Ukraine, die sich seit der Annexion der Krim und der Ausrufung eines von Russland anerkannten Autonomiestatuts in den beiden Ostprovinzen Luhansk und Donezk in einem Dauerkleinkrieg mit diesen Ostprovinzen befindet, besteht im Wissen um diese rote Linie Russlands mit dem spiegelbildlichen Argument, sich durch Russland bedroht zu fühlen, auf dem NATO-Beitritt, zu dem das Bündnis die Ukraine – und im Übrigen auch Georgien – in der Gipfelerklärung von Bukarest schon im Jahr 2008 eingeladen hatte:

 

NATO welcomes Ukraine’s and Georgia’s Euro-Atlantic aspirations for membership in NATO.  We agreed today that these countries will become members of NATO.  Both nations have made valuable contributions to Alliance operations.

(Bucharest Summit Declaration, 3 April 2008, https://www.nato.int/cps/en/natolive/official_texts_8443.htm)

Die NATO begrüßt das Bestreben der Ukraine und Georgiens zu einem NATO-Beitritt. Wir haben heute beschlossen, dass diese Länder Mitglieder der NATO sein werden.“ (Gipfelerklärung von Bukarest)

 

Vor diesem Hintergrund definiert die Ukraine schon seit der Annexion der Krim durch Russland und der Ausrufung eines Autonomiestatuts der beiden Ostprovinzen Luhansk und Donezk ihre strategischen Prioritäten[ii] neu. Im Jahr 2015 beschließt sie eine neue Militärdoktrin[iii], in der Russland als Gegner bestimmt wird. Im Jahr 2017 nimmt die Ukraine das Ziel des NATO-Beitrittes in die Verfassung auf und plant eine vollständige Interoperabilität der eigenen Armee mit der NATO bis 2022, wählte also den Weg, mit tatkräftiger Unterstützung der USA eine schlagkräftige Armee[iv] aufzubauen, die in der Lage ist, im Falle einer Auseinandersetzung größeren Kalibers bestehen zu können. Eine Aufrüstung, deren Erfolg jetzt am hinhaltenden Widerstand gegen Russland zu beobachten ist. Ebenfalls im Jahr 2017 beschließt die Ukraine in Umsetzung der Militärdoktrin aus dem Jahr 2015 eine neue Militärstrategie, auf die sich Putin in seiner Rede am 21.Februar heurigen Jahres – wiedergegeben in der Tageszeitung Junge Welt – bezieht:

 

Im März 2021 hat die Ukraine eine neue Militärstrategie verabschiedet. Dieses Dokument ist fast ausschließlich der Konfrontation mit Russland gewidmet und zielt darauf ab, ausländische Staaten in einen Konflikt mit unserem Land zu ziehen. In der Strategie wird vorgeschlagen, auf der Krim und im Donbass eine Art terroristischen Untergrund zu organisieren. Sie umreißt auch die Konturen des zu erwartenden Krieges, der nach Ansicht der heutigen Strategen in Kiew – ich zitiere – »mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft zu für die Ukraine günstigen Bedingungen« enden soll. Und auch, wie es Kiew heute ausdrückt – und ich zitiere auch hier, hören Sie bitte genau hin – »mit der militärischen Unterstützung der internationalen Gemeinschaft in der geopolitischen Konfrontation mit der Russischen Föderation«. Im Grunde genommen ist dies nichts anderes als die Vorbereitung einer militärischen Aktion gegen unser Land, gegen Russland.“ (Rede Putin, 21.2.2022, https://www.jungewelt.de/artikel/421414.geopolitik-zur-kolonie-degradiert.html)

 

Seit der Annexion der Krim und der Niederlage im Krieg um den Donbass unternimmt die Ukraine also alles, um die eigene Armee zu einem schlagkräftigen und von Moskau ernstzunehmenden militärischen Gegner aufzubauen. Tatkräftig unterstützt wird sie dabei von der NATO. Großzügige Waffenlieferungen aus NATO-Beständen sorgen für die Kompatibilität mit der NATO. Zwecks Einschulung am neuen Gerät – inklusive der neuen Drohnen aus türkischer Produktion – und Unterricht in Sachen Kriegsführung sind beständig Hundertschaften an NATO-Ausbildnern vor Ort. Seit 2010 ist die Ukraine auch Teil der Schnellen Eingreiftruppe („Rapid Response Force“) und seit 2020 einer der sechs Partner mit vertieften Mitwirkungsmöglichkeiten der NATO („Enhanced Opportunities Partners“). Von den USA wird die Ukraine mit den erforderlichen Geheimdienstinformationen versorgt.

 

Etwa die Hälfte dieser Armee steht an der Kontaktlinie zu den abtrünnigen Provinzen und führt von dort aus – unter Einsatz der neuen Ausrüstung – den schon genannten Dauerkleinkrieg gegen die Ostprovinzen und schafft damit für Russland die Bedrohungslage einer ständigen Gefahr des Übergangs in einen regulären Krieg. Dies in der offen ausgesprochenen Hoffnung, dass die NATO im Kriegsfall nicht anders können werde, als auf Seiten der Ukraine ins Kriegsgeschehen einzugreifen.

 

Was ist die Position Russlands?

 

Die laufende Eskalation der Ukraine an der Grenze zum Donbass und das von ihr in Aussicht genommene Kriegsszenario sind – vor dem Hintergrund dieser schon sehr weit gediehenen Angliederung der Ukraine an das Bündnis und des für den Fall eines Beitrittes der Ukraine drohenden Eingreifens dieses westlichen, militärischen Bündnisses in den Konflikt – für den russischen Präsidenten Anlass im heurige Jahr Bilanz über die dreißigjährigen Beziehungen zwischen NATO und Russland zu ziehen. Diese Bilanz fällt für Russlands Bestreben, sich als Weltmacht zu behaupten, die in höchsten Weltordnungsfragen ein Wort zumindest ein Wort mitzureden hat, katastrophal aus. Nach einer ausführlichen Darstellung der NATO Osterweiterung inklusive Darstellung der Offensivkräfte, die in den in die NATO aufgenommenen Staaten installiert wurden, verweist er auf die besondere Bedrohung des, von NATO und Ukraine gewollten, Beitritts der Ukraine – zitiert wieder aus der Tageszeitung Junge Welt:

 

Die uns vorliegenden Informationen geben uns allen Grund zu der Annahme, dass der Beitritt der Ukraine zur NATO und die anschließende Stationierung von Einrichtungen des Nordatlantikbündnisses in der Ukraine ausgemachte Sache sind und nur eine Frage der Zeit. Uns ist klar, dass in einem solchen Szenario die militärische Bedrohung Russlands um ein Vielfaches zunehmen wird. Und ich weise besonders darauf hin, dass die Gefahr eines Überraschungsangriffs auf unser Land um ein Vielfaches steigen wird. Lassen Sie mich erklären, dass die amerikanischen strategischen Planungsdokumente die Möglichkeit eines sogenannten Präventivschlags gegen feindliche Raketensysteme vorsehen. Und wir wissen auch, wer der Hauptgegner der Vereinigten Staaten und der NATO ist. Es ist Russland. In den NATO-Dokumenten wird unser Land offiziell direkt zur Hauptbedrohung der euro-atlantischen Sicherheit erklärt. Und die Ukraine wird als Sprungbrett für einen solchen Schlag dienen.“ (Junge Welt, 21.2.2022, https://www.jungewelt.de/artikel/421414.geopolitik-zur-kolonie-degradiert.html)

 

Gegen diese Bedrohung seiner Großmacht-Interessen[v] durch einen Beitritt der Ukraine zum westlichen Verteidigungsbündnis – gepaart mit dem Verweis darauf, dass die NATO alles andere als die behauptete Friedensmacht ist, wie etwa die Kriege im Irak, in Jugoslawien, usw. belegen würden und dem Umstand, dass Russland in offiziellen NATO-Dokumenten als Hauptbedrohung der euro-atlantischen Sicherheit geführt wird – besteht Putin auf Sicherheitsgarantien für Russland, die im Kern aus drei Punkten bestehen:

 

Der erste ist die Verhinderung einer erneuten NATO-Erweiterung. Der zweite ist die Weigerung, dem Bündnis die Stationierung von Angriffswaffensystemen an den Grenzen Russlands zu gestatten. Und schließlich eine Rückführung der militärischen Fähigkeiten und der Infrastruktur des Blocks in Europa auf den Stand von 1997, als die NATO-Russland-Grundakte unterzeichnet wurde.“ (Junge Welt, 21.2.2022, https://www.jungewelt.de/artikel/421414.geopolitik-zur-kolonie-degradiert.html)

 

Wie antwortet die NATO auf die russischen Forderungen?

 

USA bzw. NATO und die EU weisen die russische Kernforderung – keine Ausdehnung der NATO bis an die Grenze Russland – zurück. Washington kann sich allenfalls unverbindliche Gespräche über – aus russischer Sicht – erklärtermaßen nebensächliche Themen vorstellen. Ausdrücklich betont der amerikanische Außenminister dabei, dass die Antwort des amerikanischen Präsidenten – der berühmte Antwortbrief[vi] – kein formelles Verhandlungsdokument sei. Der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg formuliert die westliche Sicht wie folgt:

 

„Wir sind bereit, uns die Sorgen Russlands anzuhören und eine echte Diskussion darüber zu führen, wie wir die fundamentalen Prinzipien der europäischen Sicherheit (…) bewahren und stärken können“, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwochabend in Brüssel. Dazu gehöre aber auch das Recht aller Staaten, selbst über ihren Weg zu entscheiden. Man werde sich auch weiterhin eng mit der Ukraine abstimmen. Die NATO sei ein Verteidigungsbündnis und strebe keine Konfrontation an.“ (https://orf.at/stories/3245180/)

 

Jeder Staat hat das Recht, selbst über seinen Weg zu entscheiden, erfährt man. Es ist dies eine höflich gehaltene, der Sache nach aber knallharte Zurückweisung der russischen Sicherheitsbedenken. Gleichgültig gegen diese Einwände hält die NATO am Beitritt der Ukraine und damit genau an dem Szenario fest, durch das Russland sich bedroht sieht. „Die NATO sei ein Verteidigungsbündnis und strebe keine Konfrontation an.“, liest man weiter. Stellt sich die Frage: „Was verteidigt die NATO?“ Vor dem Hintergrund des unumstößlich feststehenden Beitritts der Ukraine bedeutet das im Klartext, die NATO verteidigt ihr Recht, ohne Rücksicht auf Russland über Beitritt oder Nicht-Beitritt eines Kandidaten zu entscheiden, anders gesagt so nahe an die Grenze Russlands heranzurücken, wie sie will. Natürlich am liebsten ohne Konflikt, sprich ohne jede Form von Gegenwehr seitens des negativ betroffenen Russlands. Wo Gegenwehr nicht ausbleibt, wie im gegenständlichen Fall, sind Konflikte zwar bedauerlich aber wohl nicht zu vermeiden. Geklärt ist daher schon jetzt, wer in den Augen der NATO für den Fall einer Eskalation die Verantwortung trägt. So unbedingt ist das Recht der NATO, Fakten ganz nach Belieben zu schaffen, dass das sich sträubende Russland dann nicht bloß einen Krieg beginnt, sondern darüber hinaus einen Rechtsverstoß begeht. Anders gesagt, wenn Russland sich gegen den Beitritt der Ukraine zur Wehr setzt, und Russland ist der einzige Staat, der neben dem Willen auch über Mittel dafür verfügt, der NATO Grenzen aufzuzeigen, dann trägt an diesem Konflikt niemand anderer als Russland selbst die Schuld.

 

Mit dieser Zurückweisung des russischen Bestehens auf Berücksichtigung seiner Sicherheitsinteressen geben die USA und die NATO zu erkennen, dass sie am Beitritt der Ukraine zur NATO festhalten, dass es ihnen also genau auf den Aufbau des Drohpotentials ankommt, das für Russland die Infragestellung seiner Stellung als Großmacht, die in allen internationalen Affären zu hören ist, bedeutet. Der versammelte Westen hält – anders gesagt – genau das, was Putin meint, für Russland und seine konstruktive Haltung ins Treffen zu führen:

 

Wir sind uns unserer großen Verantwortung für die regionale und globale Stabilität bewusst.“ (Junge Welt, 21.2.2022, https://www.jungewelt.de/artikel/421414.geopolitik-zur-kolonie-degradiert.html), wird Putin in der Jungen Welt zitiert,

 

nicht aus. Russlands genau diese Fähigkeit aus der Hand zu schlagen, bei allen Agenden der Weltpolitik mitreden und dem Westen Kompromisse abringen zu können, ist das, worum es dem Westen geht. Im Sinne der Aussage von Stoltenberg: „Die NATO sei ein Verteidigungsbündnis und strebe keine Konfrontation an“ am besten so, dass Russland dies von sich aus einsieht und aus freien Stücken auf jeden Widerspruch verzichtet. Russland wird damit abverlangt, anzuerkennen, dass es nicht einmal in der Lage ist, die Berücksichtigung seiner eigenen Sicherheitsinteressen gegen den Westen durchzusetzen.

 

Welchen Schluss zieht Russlands?

 

Russland war klar, dass der Versuch seinem Anliegen als nukleare Großmacht per Drohung mit militärisch-technischen Reaktionen – sprich per Drohung mit Krieg – Respekt zu verschaffen, gescheitert ist und geht am 24.Februar 2022 zum offenen Krieg über, marschiert in der Ukraine ein, um seine „rote Linie“ gewaltsam durchzusetzen und die andere Seite zur Anerkennung ihrer strategischen Interessen zu zwingen.

 

Wie antwortet die Ukraine auf den Einmarsch Russlands?

 

Die Ukraine nimmt die kriegerische Herausforderung an und verteidigt sich gegen den anstürmenden, militärisch überlegenen Feind. Stellt sich die Frage, was da verteidigt wird? Das Leben der Ukrainerinnen und Ukrainer ist es jedenfalls nicht. Die werden in großer Zahl geopfert, sei es als Soldaten an den kriegerischen Fronten, sei es als Zivilbevölkerung, die im Bombenhagel Russlands umkommen und als von der Ukraine vorgeführte Zeugen russischer Brutalität ein zweites Mal missbraucht werden. Zu Opfern werden aber jene, denen die Flucht gelingt, die aber nicht nur Hab und Gut in der Ukraine zurücklassen müssen, sondern sehr oft auch den Ehemann, den Sohn oder den Vater, die – ob sie wollen oder nicht – ihr Land zu verteidigen haben. Verteidigt wird auch nicht die Freiheit, der Europäischen Union beizutreten. Damit hatte Russland sich in Form der Anerkennung der Abspaltung der beiden Ostprovinzen und der Annexion der Krim gerade abgefunden. Verteidigen dürfen alle diese Menschen mit ihren Opfern die Freiheit der Ukraine, keinesfalls Pufferstaat zwischen Nato und Russland sein zu wollen. Verteidigt wird das Recht der Ukraine, zum östlichsten Vorposten der NATO, direkt an der russischen Grenze gelegen, zu werden.

 

Um dieses Ziel gegen die russische Übermacht zu erreichen, versucht der ukrainische Präsident seit dem Ausbruch des heißen Krieges, in Umsetzung der schon 2017 beschlossenen ukrainischen Militärstrategie, alles, die NATO zu einem Eintritt in den Krieg an der Seite der Ukraine zu bringen. Nach und nach werden alle westlichen Länder unter Hinweis auf ihre je spezifische historische Verantwortung hingewiesen und – unterlegt mit Bildmaterial von den Gräueln des Krieges – aufgefordert, einen noch größeren Krieg zu beginnen. Eine direkte Aufforderung ergeht auch an den amerikanischen Präsidenten und den Kongress der Vereinigten Staaten, der Selenskij eingeladen hatte, via Videokonferenz vor dem Plenum zu sprechen. Er erntet stehenden Applaus, der zeigt, wie recht den USA der Widerstand der Ukraine gegen den Besatzer ist, schließlich bedeutet er eine Abnutzung des um seine Existenz als Großmacht kämpfenden Russlands. Dafür wird die Ukraine vom gesamten Westen, inklusive dem anfangs skeptischen Deutschland großzügig mit Waffen versorgt. Das Ansinnen, sich am Krieg zu beteiligen, weist der amerikanische Präsident Biden aber mit den Worten, das würde einen dritten Weltkrieg bedeuten, zurück und stellt damit klar, dass die USA sich nicht vor den Karren der Ukraine spannen lassen. Nicht dass Amerika sich nicht auch auf den Fall eines dritten Weltkriegs vorbereiten würde, aber wenn Amerika Kriege führt, und das tut es bekanntlich nicht zu knapp, dann nur nach eigenen Berechnungen und in eigener Machtvollkommenheit. Kurz zusammengefasst lässt er Selenskij wissen, der Hund wedelt mit dem Schwanz und nicht umgekehrt. Höflich formuliert: Was Freiheit ist und wann sie daher zu verteidigen ist, das entscheiden einzig und allein die USA nach ihrer Interessenslage. Sosehr den USA also der anhaltende und tatkräftig unterstützte Widerstand der Ukraine recht ist, sosehr täuscht sich Selenskij, wenn er meint, sich mit dem ukrainischen Blutzoll ein Anrecht auf aktive Unterstützung seitens der NATO zu verdienen.

 

Wie antwortet die westliche Welt, allen voran Europa und die USA?

 

Mit dem Tag des Einmarsches Russlands in die Ukraine – von der EU als „Zeitenwende“ ausgerufen – erklären Europa im Verbund mit NATO und USA Russland zum Feind, gegen den es die Ukraine mit allen Mitteln noch(!) unterhalb der Entsendung von NATO-Truppen zu unterstützen gilt. Damit hat sich Europa neben den USA zur Kriegspartei erklärt.

 

Als ersten Schritt verhängen sie in mehreren Wellen Sanktionen[vii] gegen die russische Ökonomie. Verboten ist der Ex- und Import von Militärgütern, von Dual-Use-Gütern und Technologie, Güter für die Öl-Exploration und Ölraffinerie, von Luft- und Raumfahrzeugen. Hinsichtlich des EU-Kapital- und Finanzmarktes sind russische Banken vom Swift-System ausgeschlossen und ist es verboten, mit russischen Staatsanleihen zu handeln. Verboten ist auch die Entgegennahme von Bankkontoeinlagen durch russische Bürger, usw. Erlassen werden auch Sanktionen gegen Vertreter des früheren Janukovych-Regimes und gegen die Regionen Luhansk und Donezk.

 

Erklärte Absicht der Sanktionen ist die Schädigung der russischen Ökonomie mit dem explizit formulierten Ideal ihrer Zerstörung. Offen ausgesprochene Absicht ist es, dass insbesondere auch normalen Bürger Russlands getroffen werden sollen. So als ob Russen nicht ebensolche Nationalisten wären wie die Bürger europäischer Staaten, die sich also im Gefolge solcher Maßnahmen erst recht hinter ihrer Nation versammeln, verbindet der Westen damit die Hoffnung auf einen Umsturz in Russland von unten, etwas was dieselben Staaten bei sich selber für völlig undenkbar halten.

 

Der kleine Haken an den Sanktionen besteht darin, dass jede Unterbrechung des normalen Geschäftsverkehrs potentiell nicht nur Russland schädigt, sondern auch die Länder der europäischen Union selbst und das die einzelnen Länder alles andere als gleichmäßig. Diese Schädigung darf aber. so die offizielle Position der EU-Granden, kein Hindernis sein. Schädigungen der eigenen Wirtschaft werden bewusst in Kauf genommen.

 

Es beginnt sich damit ein Standpunkt durchzusetzen, der das Verhältnis von Politik und Wirtschaft neu definiert. All die vergangenen Jahrzehnte verstand sich der Staat als Diener der Wirtschaft. Als solcher verfolgte er mit seiner Wirtschaftspolitik das Ziel, das Wachstum der Wirtschaft zu befördern. Nicht aus blinder Parteilichkeit für die Kapitalisten im Lande, sondern schlicht deshalb weil derart der Reichtum wächst, aus dem der Staat sich selbst finanziert.

 

Dieser Standpunkt des Wirtschaftswohls wird im Zuge des Wirtschaftskrieges ein Stück weit revidiert. Wirtschaftswachstum soll und muss schon sein, schon im Interesse der eigenen Durchsetzung gegen Russland. Aber gerade im Interesse dieser Durchsetzung gegen den Feind muss die Wirtschaft auch Opfer bringen. Um beides – Erfolg der Wirtschaft und ihre Benutzung als Waffe gegen den Gegner unter einen Hut zu bringen –, steht plötzlich das, was jahrelanges Tabu war, europäischer Kredit, auf der Tagesordnung. Seinerzeit wurde ein entsprechender Antrag der damaligen griechischen Regierung, Griechenland mit europäischem Kredit über die Runden zu helfen, von Schäuble auf rüdeste Art zurückgewiesen. Dies sei unfinanzierbar, hieß es. Bluten durfte dafür die Masse der Bevölkerung dieses Landes. Anders heute, da sind riesige gemeinsame Kredite plötzlich ganz und gar nicht mehr undenkbar, sondern offen in Diskussion. Deutschland geht voran. Heutzutage möchte eine Sozialdemokratie nicht mehr nur einem Kriegskredit zustimmen, heute denkt sie daran, im Verein mit den Grünen – die offenbar immer für eine Zustimmung zu kriegerischen Maßnahmen gut sind – den Antrag selbst einzubringen. Heute geht es schließlich um die Durchsetzung gegen das zum Hauptfeind erklärte Russland.

 

Kurz zusammengefasst: Mit dem Sanktionsregime ist ein Standpunktwechsel eingeläutet. Galt immer der Staat als Diener der Wirtschaft, wird heute die Wirtschaft in die Pflicht genommen. Sie hat sich als Mittel des Staates in seiner Auseinandersetzung mit Russland zu bewähren.

 

Gar nicht geleugnet wird daher, dass die Auswirkungen der Sanktionen nicht zuletzt die eigene Bevölkerung zu spüren kriegen wird. Schon das Steigen der Preise von Gas, Benzin und Diesel stürzt da manchen Haushalt in eine finanzielle Notlage. Noch gar nicht absehbar ist, wie sich diese Preissteigerungen auf die Preise all der Waren auswirken wird, in die diese Rohstoffe als Kostfaktor eingehen. Einerseits werden Forderungen laut, dass den normalen Menschen geholfen werden muss. Andererseits bieten die zu erwartenden Auswirkungen dieses tendenziellen Standpunktwechsels des Staates zur Wirtschaft manchen Politikern Anlass, die Bürger darauf hinzuweisen, dass sie – um es mit einem Wort eines US-Präsidenten zu sagen, der zu seiner Zeit die Welt an den Rand eines Atomkrieges herangeführt hat, – nicht daran denken sollen, was der Staat für sie tun kann, sondern sie sich lieber überlegen sollen, was sie für den Staat tun können. Besonders hervorgetan hat sich wieder einmal ein deutscher Politiker namens Gauck, ehemaliger deutscher Bundespräsident und agitierendes Mitglied des Vereins, der immer schon für die Segnung von Waffen gut war. Seine Worte finden sich in der Zeitung Junge Welt wie folgt wiedergegeben. Seine Worte sprechen für sich:

 

Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben. … Eine generelle Delle in unserem Wohlstandsleben ist etwas, was Menschen ertragen können. … »Wir verfügen über mehr Kräfte, als wir heute, wenn wir sie noch nicht brauchen, denken. … Die feixende Bekundung, es schon immer gewusst zu haben: »Ach so, wir müssen uns auch verteidigen! Was uns lieb ist und wert ist, das muss man auch verteidigen«“ (Junge Welt, 11.3.2022, https://www.jungewelt.de/artikel/422395.feinderkl%C3%A4rer-des-tages-joachim-gauck.html?sstr=Gauck)

 

Die EU belässt es aber nicht nur bei Wirtschaftssanktionen. Waren anfangs manche Staaten noch zögerlich – insbesondere Deutschland musste sich einiges an Kritik gefallen lassen, weil es nur zu Lieferung von Helmen bereit war – ist Europa mittlerweile fest dabei, die Ukraine mit allem an Waffen zu versorgen, was ihrer Armee zwar aller Voraussicht nach nicht den Sieg bringen wird, ihr aber dabei hilft, der russischen Armee ein Maximum an Verlusten zu bereiten. Dass die damit gegebene Verlängerung des Krieges auch zu einer Unzahl an zivilen Opfern unter der ukrainischen Bevölkerung führen wird, ist dabei nicht nur in Kauf genommen, sondern gewusstes Mittel, Stimmung im eigenen Volk für die Opfer und die Feindschaft gegen Russland zu machen. Und wer weiß, wie hoch diese Opfer noch sein werden, schließlich sind diese Waffenlieferungen ein einziger Test darauf, was Russland sich an militärischer Einmischung in den Krieg bieten lässt, mit all den Gefahren und Risken, die ein solcher Kurs beinhaltet.

 



[i] „Von 16 (1990) auf 30 (2020) Staaten: Die NATO ist seit den denkwürdigen Verhandlungen vor 30 Jahren gewaltig gewachsen, und zwar nach Osten, in Richtung Russland. Dass man 1990, wie es Ex-CIA-Direktor (1991 bis 1993) und Exverteidigungsminister (2006 bis 2011) Robert Gates einmal formuliert hat, »Gorbatschow und andere glauben gemacht« hat, man werde das Bündnis auf gar keinen Fall nach Osten erweitern, hat sich aus Sicht der Kalten und Heißen Krieger im Westen gelohnt.“

(Junge Welt, 26.2.2022, https://www.jungewelt.de/artikel/421558.geopolitik-projekt-einkreisung.html?sstr=Projekt%7Ceinkreisung)

[ii] „Die Annexion der Krim hat die strategischen Prioritäten und das Verständnis für die Anforderungen an die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine drastisch zugespitzt. Alle Unklarheiten hinsichtlich der geopolitischen Ausrichtung, die sich bei früheren verteidigungspolitischen Planungspapieren in einer neutralen oder bündnisfreien sicherheitspolitischen Orientierung widergespiegelt hatten, wurden beseitigt, nachdem Russland in der Militärdoktrin von 2015 als militärischer Gegner bezeichnet wurde. Gegenüber den nun notwendig gewordenen Fähigkeiten zur Bewältigung einer größeren bewaffneten Aggression durch einen gegnerischen Staat trat die Einsatzbereitschaft für den Fall kleinerer Kampfeinsätze in den Hintergrund. Kyjiw wählte unzweideutig den euroatlantischen Weg und formalisierte 2017 verfassungsrechtlich das Ziel einer vollständigen Interoperabilität mit der NATO bis spätestens 2020 sowie eine anzustrebende Vollmitgliedschaft in dem Bündnis. Angesichts der ungleich größeren militärischen Stärke des mächtigen Nachbarn wurde dies als der einzig realistische Weg hin zu einer glaubhaften militärischen Abschreckung gegen eine mögliche russische Aggression betrachtet.“ (Bundeszentrale für politische Bildung“, 22.11.2021: „Kooperation im Bereich der Militärreform zwischen NATO und Ukraine seit 2014“)

[iii] The Military Doctrine stipulates that the key task aimed to create conditions for the restoration of state sovereignty and territorial integrity of Ukraine is comprehensive reform of the national security system to a level acceptable for the membership in the European Union and NATO; creating an effective security and defense sector, which provides ample capacity of national defense to repel armed aggression. Another purpose is the development of AFU under the western standards and achievement of interoperability with NATO Forces. (<http://www.president.gov.ua/en/news/prezident-zatverdiv-novu-redakciyu-voyennoyi-doktrini-ukrayi-36019>)

[iv] „Allein die Vereinigten Staaten haben seit 2014 Milliarden von Dollar für diesen Zweck bereitgestellt, darunter Waffen, Ausrüstung und Spezialtraining.“ (Junge Welt, 21.2.2022, https://www.jungewelt.de/artikel/421414.geopolitik-zur-kolonie-degradiert.html)

[v] In den NATO-Dokumenten wird unser Land offiziell direkt zur Hauptbedrohung der euro-atlantischen Sicherheit erklärt. (Junge Welt, 21.2.2022, https://www.jungewelt.de/artikel/421414.geopolitik-zur-kolonie-degradiert.html)

[vi] „Nachdem er die Hauptforderung Russlands öffentlich zurückgewiesen hatte, gab Blinken zu, dass Bidens Brief „kein formelles Verhandlungsdokument ist. ... Es sind keine expliziten Vorschläge. Er legt die Bereiche und einige Ideen dar, wie wir gemeinsam, wenn sie es ernst meinen, die kollektive Sicherheit voranbringen können.““ (https://www.wsws.org/de/articles/2022/01/27/russ-j27.html)

[vii] WKO Stand 9.3.2022 (https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/Aktueller_Stand_der_Sanktionen_gegen_Russland_und_die_Ukrai.html)