Warum „die schrecklichen Bilder von Moria“ nichts an der schrecklichen Lage der Flüchtlinge an Europas Außengrenzen geändert haben
1. Die „schrecklichen Bilder von Moria“ – Eine humanitäre Katastrophe und ihre politmoralischen Lehren
Siehe dazu den Artikel aus der Zeitschrift Gegenstandpunkt 4-20 mit dem gleichnamigen Titel - https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/moria
Anhang:
Am Ende zeigt sich auch noch die EU-Kommission von der außerplanmäßigen Lager-Katastrophe betroffen und nährt in Gestalt ihrer mitfühlenden Präsidentin die Illusion eines politischen Veränderungswillens, der an den Moria-Opfern Anteil nimmt:
„„Moria ist eine starke Mahnung, dass wir alle mehr tun müssen“, sagt die EU-Kommissionspräsidentin in Anspielung auf den jüngsten Brand eines Flüchtlingslagers in Griechenland.“ – heißt es dazu in einem Artikel von Georg Blume in der Wochenzeitschrift Zeit vom 23.September 2020 zum EU-Migrationspakt. (https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-09/migrationspakt-eu-kommission-abschiebungen-fluechtlinge-europa)
Sie setzt das uralte Projekt eines europäischen Pakts für Asyl und Migration mit besonderer Dringlichkeit neu auf die Tagesordnung und fordert Solidarität – unter Europas Staaten. Sie präsentiert einen Vorschlag für ein neues Migrations- und Asylpaket, das lt. Pressemitteilung der EU-Kommission vom 23.Sept. 2020 „verbesserte und schnellere Verfahren im gesamten Asyl- und Migrationssystem“ und ein „Gleichgewicht zwischen den Grundsätzen der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten und der Solidarität“ schaffen soll. „Mehr Abschiebungen für mehr Kooperation“ werden diese beiden Säulen des EU-Migrationspaktes von der Zeitschrift Zeit in besagtem Artikel nicht ganz unzutreffend zusammengefasst.
Zur Entscheidungsgrundlage für die Vorschläge zu effizienteren Asyl- und Migrationsverfahren erfährt man in dem genannten Artikel nämlich Folgendes:
„EU-Kommissarin Johansson betont, dass 2019 nur 140.000 Flüchtlinge in der EU um Asyl gebeten hätten. Ein Drittel von ihnen, so Johansson, seien politische Flüchtlinge, die ihr Recht auf Asyl in der EU wohlverdient hätten. Blieben also jene zwei Drittel von der Grenze, im Jahr 2019 etwa 93.000 Flüchtlinge, die keinen Grund für Asyl hatten und entsprechend der nun anvisierten Maßnahmen des Migrationspaktes in Zukunft schneller zurückgewiesen werden sollen. "Diese 140.000 müssen wir viel besser managen als bisher", sagte Johansson“ (ebenda)
Dieses bessere Management soll wie folgt verwirklicht werden:
„Es folgt ein Bündel von Maßnahmen, wie anders in Zukunft mit den Flüchtlingen, die auf einer griechischen Insel oder anderswo in der EU ankommen, umgegangen werden soll. Fünf Tage lang will man sie bald bei ihrer Ankunft untersuchen und identifizieren, nach einem EU-genormten Verfahren, dem die Grenzbehörden aller EU-Länder folgen sollen. Viel gründlicher als bisher soll das geschehen. Die Behörden sollen nach Familienangehörigen in der EU fragen, nach vorherigen Besuchen und Visa. Das nämlich sei der große Unterschied zum bisherigen Dublin-Verfahren, wo jeder Flüchtling, der ankomme, einfach nur dem Land seiner Ankunft zugeordnet wird, heißt es. Wobei die fünftägige Grenzkontrolle noch einen weiteren Nutzen haben soll: Wer nämlich aus einem Land kommt, dessen Anerkennungsquote bei Asylverfahren europaweit unter 20 Prozent liegt, der kommt gleich in ein zwölfwöchiges Schnellverfahren an der Grenze, nach dem ihm die rasche Abschiebung droht.
Allerdings wissen auch die Brüsseler Kommissarinnen und Kommissare, dass Abschiebungen keine leichte Sache sind. Geflüchtete können versuchen, einer Abschiebung zu entgehen, ihre Heimatländer wollen sie mitunter nicht mehr aufnehmen, der Transport ist teuer. Es gibt viele Hindernisse, weshalb bisher weniger als ein Drittel der abgelehnten Asylbewerber in der EU wirklich die Heimreise antreten. Das aber ist die ganz besondere Idee des neuen Migrationspaktes: Ausgerechnet die EU-Länder, die sich wie Ungarn bisher weigern, auch nur einen einzigen Flüchtling aufzunehmen, sollen nun dafür sorgen, sie abzuschieben.“ (ebenda)
Die bisherigen „Flüchtlingsverweigerer“ in der EU wie Orban und Kurz sollen ins Boot einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik geholt werden durch ein „System flexibler Beiträge der Mitgliedsstaaten“:
„Diese reichen von der Umverteilung von Asylwerbern aus dem Land der ersten Einreise bis hin zur Übernahme der Rückführung von Personen ohne Aufenthaltsrecht oder auch verschiedene Formen der operativen Unterstützung.“ heißt es dazu in der Pressemitteilung der EU-Kommission vom 23.September 2020
So könnten Orban und Kurz mit ihrer unveränderten Position in Zukunft einen Beitrag zu einer gemeinsamen Asylpolitik der EU leisten. So ließe sich doch die bisher vergeblich eingemahnte Solidarität unter den europäischen Staaten endlich realisieren.
Die europäische Lehre aus den Zuständen auf Lesbos ist also die Erkenntnis, dass man in der Frage einer Unterordnung aller europäischen Souveräne unter ein verbindliches Asyl- und Migrationsregime nur vorankommt, wenn man den widerwilligen Kurz, Orban & Co in drastischer Weise recht gibt. In Europa gibt es längst viel zu viele um Asyl bittende Fremde, weshalb mitfühlendes zwischenstaatliches Handeln darin besteht, den schwächsten Gliedern in der europäischen Staatenfamilie mit „Abschiebepatenschaften“ dabei zu helfen, möglichst schnell und viel von der unerträglichen menschlichen Last loszuwerden – damit sich solche humanitären Katastrophen wie in Moria nicht mehr wiederholen.
2. Moria und die Unzulänglichkeit moralischer Kritik
Vier Monate nach dem Brand von Moria hat sich die Lage der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln nicht nur nicht verbessert, sondern – wie man den Medien entnehmen konnte – sogar noch verschlechtert.
Die Wochenzeitschrift Falter veröffentlichte in ihrer letzten Ausgabe des Jahres 2020 unter dem Titel „Warum Kinder in Europa von Ratten gebissen werden“ ein Interview mit Marcus Bachmann, einem Vertreter von „Ärzte ohne Grenzen“, in welchem dieser wie folgt berichtete:
Bachmann: …abseits von den Feuern sind speziell für Frauen, Mädchen und auch Kinder selbst so simple Dinge gefährlich, wie nachts auf die Toilette zu müssen. … In der Nacht ist es dort stockdunkel und extrem unsicher. Viele Frauen und auch Kinder fürchten sich und hören deshalb zu Mittag mit dem Trinken auf, um nachts nicht auf die Toilette gehen zu müssen. Vorige Woche wurde ein dreijähriges Mädchen nachts vergewaltigt auf einem der Dixi-Klos im Lager Kara Tepe auf Lesbos gefunden. Das ist das Lager, das nach dem Brand in Moria mit EU-Geldern errichtet wurde. Ich habe in der Vergangenheit zahlreiche Einsätze in Kriegs- und Krisenregionen geleitet. Bei der Errichtung von Flüchtlingslagern zählen sichere und beleuchtete Toilettanlagen zum Mindeststandard. In den griechischen Lagern nicht. Als Ärzte ohne Grenzen müssen wir in Griechenland Dinge tun, die sonst nur in Ländern nötig sind, in denen das Gesundheitssystem völlig zusammengebrochen ist.“
Als Beispiel führt Bachmann Tetanus-Impfungen an und führt weiter dazu aus:
„Im Dezember führten wir im Flüchtlingslager Vathy auf Samos eine Tetanus-Impfkampagne durch. Tetanus ist eine tödliche Krankheit, der Impfstoff ist hochwirksam und kostet nur wenige Cent. Selbst extrem arme Länder mit einem nur rudimentären Gesundheitssystem bekommen das besser hin. Aber wir müssen in einem europäischen Flüchtlingslager Tetanus impfen, weil dort die hygienischen Bedingungen so unglaublich schrecklich sind. …Alleine der Gestank ist kaum zu ertragen. Wenn die Menschen hier bei uns, die im Fernsehen die Bilder aus den Lagern sehen, auch eine Duftspur übertragen bekämen, würden sie sofort in Ohnmacht fallen. Und danach fordern, die Menschen aus diesem Elend herauszuholen. In Kara Tepe gab es bis vor kurzem keine einzige Duschmöglichkeit für die etwa 7000 Menschen, die dort leben müssen. … Solange die Temperaturen halbwegs erträglich waren, haben sie sich und ihre Kinder notdürftig im Meer gebadet und auch ihre Kleidung dort gewaschen. Jetzt gibt es im Lager zwar Duschen, aber kein Warmwasser. Also schütten sie sich einen Kübel kaltes Wasser über den Kopf. Weil es keine Kanäle und Abflüsse gibt, rinnt das dreckige Wasser durch das Lager. Der furchtbare Gestank entsteht aber auch durch die fehlende Müllentsorgung. Leider ist das fertig verpackte Essen, das jeden Tag ausgeteilt wird, oft verdorben. Die Leute werfen es weg, der Dreck und der Müll landen in den Gräben und das lockt Nagetiere wie Ratten an. So kommt es zu Bisswunden, vor allem bei Kindern.“ (Quelle Falter 52/2020, Warum Kinder in Europa von Ratten gebissen werden)
Die Hoffnungen von Ärzte ohne Grenzen und all den anderen Organisationen und Initiativen, die seit Jahr und Tag an Europas Politiker appellieren, die „unmenschliche“, „menschenunwürdige“ Situation der Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen zu beenden, die Katastrophenbilder müssten doch endlich das moralische Gewissen von Europas Politikern sosehr aufrühren, dass sie den Menschen in diesen Lagern endlich eine Behandlung zukommen lassen, wie es „unsere europäischen Werte“ verlangen, hat sich nicht bewahrheitet. Welche Behandlung Europas Politiker den in Europa landenden Flüchtlingen tatsächlich angedeihen lassen wollen, das kann man seit Jahr und Tag studieren. Wie die Verbesserungen einer akkordierten gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationspolitik laut Vorschlag der EU-Kommission aussehen sollen, das kann man deren Vorschlag für eine neue Migrations- und Asylpolitik entnehmen. Dass mit den darin enthaltenen Vorschlägen – angefangen vom besseren Außengrenzschutz, schnelleren Grenzfahren, schnelleren Abschiebungen bis hin zu den „Abschiebepartnerschaften“ – die „europäischen Werte“ nicht verletzt, sondern geradezu verwirklicht werden, das stellt die für Inneres zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson in einer Pressemitteilung der EU-Kommission vom 23.September 2020 wie folgt fest:
„Mit unseren heutigen Vorschlägen schaffen wir eine langfristige Migrationspolitik, die europäische Werte in die Praxis umsetzen kann. Die Vorschläge werden für klare, faire und schnellere Grenzverfahren sorgen, damit Menschen nicht in einem Zustand der Ungewissheit warten müssen. Dies bedeutet eine verstärkte Zusammenarbeit mit Drittstaaten im Hinblick auf rasche Rückführungen, mehr legale Zugangswege und ein entschlossenes Vorgehen gegen Schleuser. Mit der neuen Migrationspolitik schützen wir grundsätzlich das Recht auf Asyl.“
Die diversen Flüchtlingshilfsorganisationen setzen davon unbeeindruckt ihre bisher geübte Praxis des Appells an die Adresse der Verantwortlichen wie gehabt fort:
„Man werde aber nicht aufhören, den Appell zu wiederholen, solange keine entsprechende Lösung gefunden wurde.“ sagt der Generalsekretär des österreichischen Roten Kreuzes im Dezember (Quelle: https://orf.at/stories/3195473)
Was der Mangel ihres Vorwurfs der „unmenschlichen“ und „menschenunwürdigen“ Behandlung der Flüchtlinge ist und warum sie die eigentlich fälligen Lehren aus ihren Erfahrungen mit der Politik nicht ziehen wollen, darum geht es im Folgenden.
a. Anmerkungen zur Behauptung eines Versäumnisses der österreichischen und europäischen Flüchtlingspolitik
Der europäischen Politik wird mit dem Hinweis auf „unmenschliche“ und „unwürdige“ Lebensbedingungen der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern in Griechenland ein Versäumnis vorgeworfen. Verabsäumen würde sie, das zu tun, was nach Ansicht dieser Kritiker eigentlich ihre Aufgabe wäre, nämlich für menschliche und würdevolle Bedingungen in den Flüchtlingslagern zu sorgen. Angesichts des „unmenschlichen“ Elends in den Flüchtlingslagern wäre es insbesondere die Aufgabe Österreichs, „Menschlichkeit“ zu zeigen, indem es Schutzbedürftige aus Moria – ein paar zumindest – aufnimmt.
Dabei leisten sich die Kritiker einen folgenschweren Widerspruch: Ausgangspunkt ihres eigenen Tuns und Kritisieren ist doch gerade ihre Unzufriedenheit mit den Taten der Politik; dass die österreichische Bundesregierung nicht das tut, was ihrer Meinung nach die richtige und eigentlich fällige Politik wäre. Eigentlich, müsste es doch die Aufgabe der Europäischen Union sein, für menschliche und menschenwürdige Zustände in den Flüchtlingslagern zu sorgen. Eigentlich müsste Österreich doch wenigstens eine kleine Zahl an Flüchtlingen, wenigstens Kinder und Frauen, aus den griechischen Lagern aufnehmen. In diesem Sinne treten sie fordernd und appellierend an die Politik heran.
Fällig wäre, sich klar zu machen, worum es der österreichischen Regierung geht. Welche Zwecke Österreich und die EU mit ihrer Flüchtlingspolitik tatsächlich verfolgen. Dann würde man erkennen, dass es beim Asylrecht nicht – wie gemeinhin unterstellt – um die Verwirklichung ewiger moralischer Werte der Humanität und Menschenwürde geht, sondern um den Gebrauch von Flüchtenden als Mittel diplomatischer Verurteilung unliebsamer Herrschaften. Wo Flüchtlinge andererseits dafür nicht taugen, geht das Interesse der Staaten am Asylrecht zusehends verloren. Mit dem Abtreten des einstigen großen gegnerischen Blocks von der Weltbühne und der Schaffung einer großen, den Grundwerten des Kapitalismus verbundenen Welt, wissen daher die Herrschenden nicht nur in Europa nichts rechtes mehr mit dem Asylrecht anzufangen, ohne es freilich abzuschaffen. Wohl versuchen sie aber mit allen legalen und halblegalen Mitteln Flüchtlinge gleich gar nicht in Europa anlanden zu lassen. Die politischen Entscheidungsträger in Sachen Asylpolitik hierzulande und europaweit sind also eine denkbare schlechte Adresse für das Anmelden von Schutzbedürfnissen der nicht zuletzt wegen deren eigener Politik weltweit ständig zunehmenden Zahl an Flüchtlingen.
Statt sich mit den tatsächlichen Zwecken des Asylrechts zu befassen, machen die Kritiker etwas völlig anderes, diametral entgegengesetztes. Dass Österreich nicht tut, was sie für die Aufgabe der Politik halten, erklären sie ohne weiteres Argument zur Unterlassungssünde Österreichs. Österreich täte nicht das, was eigentlich seine Aufgabe wäre. Es ist aber ein Unterschied ums Ganze, ob man erklärt, was und warum Österreich und die EU machen oder ob man sich die praktizierte Politik als Unterlassungssünde zurechtlegt. Mit letzterer Vorgangsweise fällt man, ob man will oder nicht, ein Urteil über das Weiß Warum Österreichs und der Europäischen Union, allerdings eines nicht über deren wirkliche Zwecke, sondern darüber, was man selbst für diese Zwecke hält. Man erklärt den eigenen Wunsch zum eigentlichen Zweck der Politik und macht damit die tatsächlich stattfindende Politik zur Abweichung davon, das Uneigentliche, das, was nicht wahr sein kann und darf.
Gelingen tut dieses Kunststück durch das Auseinanderdividieren von Politik und den Politikern an den Schaltstellen Österreichs bzw. der Europäischen der Union. Eigentlich wäre es Aufgabe der Politik für eine menschliche und menschenwürdige Asylpolitik zu sorgen, nur leider werden die Politiker dieser Aufgabe wieder einmal nicht gerecht. Sie verstoßen gegen die angeblichen Grundsätze „guter“ Politik – der Menschlichkeit, der Menschenwürde und handeln damit unmoralisch.
Wer aber keinen anderen Maßstab der Beurteilung der Politik mehr kennt als die eigenen moralischen Vorstellungen und Wünsche, der hat sich methodisch davon verabschiedet, ein objektives Urteil über die Politik zu fällen. So fragt ein mit Moral ausgestatteter Mensch angesichts der verheerenden Lage der Flüchtlinge in griechischen Flüchtlingslagern nie mehr nach den politischen Absichten von Europa, Österreich oder Griechenland, sondern hält gerade gegen seine eigene Erfahrung eisern daran fest, dass das – weil unmenschlich – unmöglich gewollt sein kann und mahnt menschliches Verhalten ausgerechnet bei denen ein, die für diese Lage verantwortlich zeichnen.
Mit einer solchen Kritik wird ausgerechnet der politischen Macht, die für die aufgezeigten Zustände sorgt, der Auftrag erteilt, sich der Lage vor Ort anzunehmen. Ein Auftrag, den die Politik, gerne aufgreift. Der Dienst einer Kritik im Namen moralischer Prinzipien ist nicht zu übersehen. Politikern, wie dem österreichischen Bundeskanzler, eröffnet sich die Gelegenheit, zu zeigen, dass er sich bei der von ihm praktizierten Politik mitnichten an moralischen Maßstäben blamieren zu lassen braucht.
b. zur Kritik an der Politik im Namen moralischer Werte wie „Menschlichkeit“ und „Menschenwürde“
An den Entgegnungen von Sebastian Kurz zu den Anträgen auf Aufnahme von Flüchtlingen könnte man die Untauglichkeit einer Kritik an seiner Flüchtlingspolitik im Namen moralischer Kategorien studieren. In einer Videobotschaft verteidigt Kurz seine Ablehnung des an ihn gerichteten Antrags auf Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria mit genau denselben Titeln, die gegen ihn in Anschlag gebracht wird – „Menschlichkeit“ und „Menschenwürde“. In einer auf Facebook veröffentlichten Videobotschaft lässt er die Österreicher wissen:
„In den letzten Tagen haben uns schreckliche Bilder aus dem abgebrannten Flüchtlingslager Moria in Griechenland erreicht. Es sind Bilder, die keinen von uns kalt lassen und die in mir eine unglaubliche Betroffenheit auslösen…“
Welche Lehren er aus solch schrecklichen Bildern gezogen hat, dazu lässt er in seiner Videobotschaft weiters wissen:
„Es seien die „schrecklichen Bilder am Bahnhof in Budapest“ im Sommer 2015 gewesen, die dazu geführt hätten, „dass die europäische Politik dem Druck nachgegeben hat und die Grenzen geöffnet hat“, sagte Kurz. Daraufhin hätten sich Tausende, dann Zehntausende und am Ende eine Million auf den Weg gemacht. Schlepper hätten Unsummen verdient, unzählige Menschen seien im Mittelmeer ertrunken. Nun sehe er dieselbe Gefahr mit der Situation in Moria. „Dieses menschenunwürdige System aus 2015, das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren ….“ (zitiert nach ORF-Homepage vom 12.9.2020, https://orf.at/stories/3181048/)
Gerade weil er so tief betroffen und den Werten der Menschlichkeit verpflichtet sei, könne er nicht tun, was seine Kritiker von ihm verlangen. Wirklich unmenschlich wäre seinem Dafürhalten nach nicht, die Flüchtlinge in den Lagern unter den ihm am besten von allen bekannten Zuständen festzuhalten, unmenschlich wäre es im Gegenteil, Flüchtlinge von dort aufzunehmen. Begründet wird dies von ihm mit der verqueren Logik, dass Flüchtlinge dies als Einladung missverstehen könnten, sich in die Hände von Schleppern zu begeben und den lebensgefährlichen Fluchtweg über das Mittelmeer zu wagen. Gerade so als ob Menschen nicht aus ihren Herkunftsländern flüchten, weil ihnen dort – nicht zuletzt unter tatkräftiger Mitwirkung Europas – das Überleben unmöglich gemacht wird, sondern weil sie die Aufnahme bereits Geflüchteter aus griechischen Flüchtlingslagern als Einladung missverstehen könnten, es ihnen gleichzutun.
Daraus könnte man lernen, aus den „schrecklichen Bildern aus Moria“ und dem Gebot der Menschlichkeit folgt mitnichten eine bestimmte Handlung. Das ist alles andere als ein Zufall. Moral taugt nämlich ganz grundsätzlich nicht als Handlungsanleitung, weil sie selbst niemals Zweck und Inhalt einer Handlung sein kann. Kategorien wie „Menschlich“ und „unmenschlich“, das Gute und das Böse benennen keinen Zweck – etwa wie im gegenständlichen Fall der Asylpolitik –, sondern sind befürwortende oder ablehnende Stellungnahmen zu einer Praxis, ohne sich um den Zweck dieser Praxis zu kümmern. Wie im Konkreten eine menschliche und die Würde der Menschen achtende Politik aussieht, geht aus solchen moralischen Werten selbst daher noch gar nicht hervor. Es gehört daher zu den Eigenarten solcher moralischen Kategorien, dass sie erst noch der Interpretation bedürfen.
Diese Interpretation nimmt in jedem konkreten Einzelfall derjenige vor, der sich auf diese moralischen Grundsätze bezieht, sei es als Kritiker der Flüchtlingspolitik oder als Politiker, der dem an ihn erteilten Auftrag, seiner moralischen Verantwortung gerecht zu werden, wie man am österreichischen BK Kurz studieren konnte, gerne nachkommt. Diese Gelegenheit, mit der Autorität seines Amtes verbindlich festzulegen, wie menschliches und würdevolles Handeln aussieht, hat sich der österreichische BK Kurz nicht entgehen lassen. Wahre Menschlichkeit, so der Schluss, den er gezogen sehen will, beweise, wer wie er die Menschen vor Ort im Morast versinken lasse. Nur so ließe sich das „unmenschliche“ Resultat einer falschen Politik – Tote bei der Überfahrt nach Europa – vermeiden. Jetzt mag man diese Position zynisch nennen – ist sie natürlich auch. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie den Mangel einer Kritik an der Flüchtlingspolitik im Namen moralischer Kritik aufzeigt.
c. Fazit und Ausblick auf künftige Zumutungen für moralisch gesinnte Flüchtlingshelfer…
Sämtliche im Bereich der Flüchtlingshilfe tätigen Menschen und Organisationen nehmen „frustriert“ die immer größer werdende Diskrepanz zwischen der hierzulande und europaweit praktizierten Flüchtlingspolitik und ihrem Ideal von ihr zur Kenntnis. Dem moralischen Ausgangspunkt ihrer Kritik entsprechend setzen sie ihre Praxis fort, sich nicht darum zu kümmern, worauf europäische Regierungen sich in Sachen Flüchtlingspolitik schon alles geeinigt haben und was sie dabei umsetzen und umzusetzen gedenken. Jeder neuen restriktiven Maßnahme, jeder weiter Verschärfung im Asylrecht entnehmen sie – sich durch keine noch so negative Erfahrung irre machen lassend – immer nur das ewig Gleiche, die Regierungen würden verabsäumen zu tun, was eigentlich ihre Aufgabe sei, ergänzt um den monoton wiederholten illusionslosen Appell, dieser Aufgabe doch endlich gerecht zu werden:
„Dass der „gebetsmühlenartig“ wiederholte Ruf des Roten Kreuzes und anderer Hilfsorganisationen nach Aufnahme Schutzbedürftiger in Österreich zumindest bei der Regierung im Leeren verhallt, sei „natürlich frustrierend“. „Man werde aber nicht aufhören, den Appell zu wiederholen, solange keine entsprechende Lösung gefunden wurde.“ Sagt der Generalsekretär des österreichischen Roten Kreuzes im Dezember - https://orf.at/stories/3195473
Dass es sich bei der Meinung des Roten Kreuzes um alles andere als eine singuläre Einzelmeinung handelt, beweist die Aktion Eisblock von SOS-Mitmensch am 19.Jänner 2021, zu der man auf deren Homepage Folgendes nachlesen kann:
„Aus Protest gegen die Politik der eisigen Kälte gegenüber Geflüchteten hat SOS Mitmensch heute zwei 50kg schwere Eisblöcke vor dem Bundeskanzleramt aufgestellt. SOS Mitmensch ruft zur umgehenden Beteiligung Österreichs an der Evakuierung der Menschen aus den Elendslagern auf!“ – heißt es z.B. in einer Aktion von SOS-Mitmensch am 19.Jänner 2021
Eines ist sicher, das was Europas Politiker in Sachen Flüchtlingspolitik vorantreiben, sorgt auch in Zukunft für ausreichend viel Stoff, an dem sich humanistisch gesinnte Gemüter abarbeiten dürfen. So erfährt man von einem Vertreter von Ärzte ohne Grenzen in einem Falter-Interview in der letzten Ausgabe des Jahres 2020 auf die Frage des Reporters:
„Aber gibt es für die Menschen in den Lagern zumindest eine Perspektive, dass sich die Zustände auf den griechischen Inseln langfristig verbessern werden?“
„Nein, ganz im Gegenteil. Es wird leider schlimmer statt besser. Auf den griechischen Inseln Chios, Kos und Leros werden mit Unterstützung der EU derzeit neue Lager errichtet. Das sind dann geschlossene Lager, umzäunt von doppeltem, vier Meter hohem Stacheldraht. Ab Mitte nächsten Jahres sollen Menschen, die einen Asylantrag stellen, in solche Lager weggesperrt werden. Kontakt zur Außenwelt ist dann nicht mehr möglich. Die Zivilgesellschaft, die jetzt noch in der Lage ist, Missstände öffentlich zu machen, hat dann keine Möglichkeit mehr, mit diesen Menschen in den Lagern Kontakt zu kommen. Das zeigt, dass Europa primär auf das Abschotten von Grenzen fokussiert. Der Schutz dieser Menschen spielt überhaupt keine Rolle mehr.“
Wie hat Kurz vor fünf Jahren verlautbart? „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.” (13. Jänner 2016, Die Tageszeitung Die Welt) In Zukunft vielleicht doch, werden die Lager doch zu Hochsicherheitsgefängnissen umgebaut, aus denen garantiert nichts und niemand mehr nach außen dringt. Ob die Humanisten daher in Zukunft überhaupt noch Material für ihre moralische Empörung kriegen, ist bei dieser geplanten hermetischen Abriegelung der Flüchtlingslager nämlich längst nicht mehr ausgemacht.