Zur Bodenlosigkeit der Engels-Rezeptionen anlässlich dessen 200sten Geburtstags
Die bürgerliche Welt lässt keine Gelegenheit verstreichen, sich selbst als das letztendliche Telos aller Geschichte zu feiern. Alle vergangenen Ereignisse gelten ihr – gleichgültig gegen deren wahren Inhalt – als mehr oder weniger große Meilensteine auf dem Weg vom Gestern zum Heute. Diesem Verfahren der Einordnung und Subsumtion entkommt – zu den dem dekadischen Zahlensystem geschuldeten passenden Zeitpunkten – nichts und niemand von Rang und Bedeutung, noch nicht einmal die Kritiker dieser Verhältnisse.
War es vor zwei Jahren Karl Marx, der 200 Jahre nach seiner Geburt vor den Vorhang geholt und in seiner Rolle für hier und heute gewürdigt wurde, ist es heuer, dem historischen Zufall späterer Geburt geschuldet zwei Jahre später, Friedrich Engels.
Freilich ist eine solche Einordnung dieses Klassikers der kommunistischen Bewegung nicht zu haben, ohne ihm theoretisch einigermaßen Gewalt anzutun. So würdigt der ORF Friedrich Engels auf seiner Homepage als einen herausragenden „Chronisten des Elends“, gerade so als ob es Engels Absicht gewesen wäre, der Bourgeoisie durch Ausmalung eines besonders eindringlichen Bildes der tristen Lebensumstände des Proletariats einen Spiegel ihres allzu rücksichtslosen und für die Gesellschaft als Ganzes gefährlichen Verhaltens vorzuhalten. Marx und Engels ging es aber nicht darum, der Bourgeoisie „vorzuwerfen“, „rücksichtslos der Kapitalakkumulation nachzugehen“. Sie hatten erkannt, dass die Lage der arbeitenden Klasse – nicht nur im England ihrer Zeit, sondern ganz grundsätzlich – nicht das Resultat eines allzu rücksichtslosen und gleichgültigen Verhaltens der neuen Klasse der Bourgeoisie ist, sondern dass die damals im Entstehen begriffenen und auf der Herrschaft des Privateigentums fußenden neuen Produktionsverhältnisse auf dem dauerhaften Ausschluss der Arbeiter vom vorhandenen Reichtum gründen. Sie waren sich daher sicher, dass eine Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse keine Frage moralischer Appelle ist, sondern dass die Arbeiterklasse sich nur durch einen Klassenkampf gegen das Privateigentum, durch den „Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung“ aus ihrer miesen Lage befreien kann.
Einen Schritt weiter in der Vereinnahmung von Friedrich Engels geht ein im Spiegel vom 28.November veröffentlichter Gastbeitrag mit dem Titel „200 Jahre Friedrich Engels – Die Kraft der bürgerlichen Systemkritik“ von Uwe Schneidewind, Mitglied der deutschen Grünen und Oberbürgermeister von Wuppertal,. Dem grünen Oberbürgermeister von Wuppertal hat es offensichtlich nicht gereicht, den Geburtstag von Wuppertals berühmtem „Sohn“ Friedrich Engels touristisch auszuschlachten – „Als Geburtsstadt dieser weltberühmten Persönlichkeit möchte Wuppertal seinem Sohn Friedrich Engels zum 200. Geburtstag ein großes Veranstaltungsjahr widmen“ heißt es auf der Homepage seiner Stadt.
(https://www.wuppertal.de/microsite/engels2020/engelsjahr/index.php).
Nein, er plädiert für eine neuartige „Engels-Rezeption“, deren Kern darin besteht, sich endgültig von jedem Inhalt der Schriften von Marx und Engels zu verabschieden und an ihnen nur das Moment der „Systemkritik“ festzuhalten, gleichgültig dagegen wogegen sie sich richtet, um auf dieser brutalen Abstraktion aufbauend Bewegungen wie Fridays-for-Future und – nicht zu vergessen – auch seine Partei, die Grünen, als Ausdruck bedeutender Systemkritik in der Tradition von Friedrich Engels zu feiern.
Das Wesentliche an Friedrich Engels – davon ist er überzeugt – sei nicht im Inhalt seiner Kapitalismuskritik zu finden, die er gemeinsam mit Marx zu Papier gebracht hat, – da würde er sich mit seiner Absicht auch schwer tun – wesentlich sei seine Herkunft als „Sohn eines vermögenden bergischen Industriellen“. Am Beispiel Engels könne man lernen: „Erfolgreiche Systemkritik kommt oft aus dem Bürgertum“. Engels sei ein Beispiel für die „Kraft einer Systemkritik, die aus der bürgerlichen Herzkammer des Systems“ komme, so müsse man Friedrich Engels sehen, lautet seine Botschaft. Zur Herkunft von Engels als „Sohn eines vermögenden bergischen Industriellen“, weiß er weiters zu berichten:
„Sein tiefer Einblick in die Zusammenhänge und Spielregeln des Unternehmertums seiner Zeit, seine herausragende Bildung, seine Sprachkompetenz, seine ökonomischen Ressourcen: All das entsprang seiner bürgerlichen Herkunft aus einer führenden (Wuppertal)-Barmer Textilfabrikanten-Familie. Es war die Grundlage dafür, sowohl theoretisch als auch politisch praktisch wirken zu können.“ (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/friedrich-engels-die-kraft-der-buergerlichen-systemkritik-a-fc7c817f-fa9d-4b08-8bb0-5aa762c50eb1)
Die Kritik von Engels und Marx an der bürgerlichen Gesellschaft derart erfolgreich jeden Inhaltes entleert, drechselt Schneidewind sich freihändig seine Gemeinsamkeit von Engels mit Bewegungen wie der seinen, der Fridays-for-Future-Bewegung bis hin sogar der Katholischen Kirche – wen stört schon, dass Marx und Engels scharfe Kritiker jeder Religion waren:
„Heute gilt gleiches für die charismatischen und zumeist hochgebildeten Stimmen der Fridays-for-Future-Bewegung, aber letztlich auch für die (ökologische) Systemkritik der Grünen, deren Wählergruppen überwiegend aus den gebildeten und wohlhabenden Milieus kommen. Die katholische Kirche mit der päpstlichen Enzyklika Laudato Si (2015) reiht sich in die Stimmen der Systemkritik derzeit genauso ein wie der Weltwirtschaftsgipfel in Davos. Die Systemkritik gewinnt zunehmend an bürgerlicher Kraft.“ (ebenda)
Der Wille, Parallelen zwischen Engels und all diesen Bewegungen zu ziehen, verschafft sich sein Material für das gewünschte Ergebnis. Kommen nicht die „charismatischen und zumeist hochgebildeten Stimmen der Fridays-for-Future-Bewegung“ ebenso wie die Vertreter der Grünen „ökologischen Systemkritik“ ebenfalls aus den gebildeten und wohlhabenden Milieus? Gilt das nicht auch für ihre Wähler? Eben! Damit sei doch ausreichend belegt, dass es Engels im Kern doch auch um gar nichts anders gegangen sein kann, wie ebendiesen Bewegungen. Was macht es schon, dass der Zug der Grünen zur Macht, um dort angekommen, „den Rechtsstaat zu schützen“, so ziemlich das Gegenteil der Kritik von Marx und Engels an der Herrschaft des Privateigentums ist.
Ausgerechnet die Fridays-for-Future Bewegung, die im Namen eines angeblich die Menschheit einenden Kampfes gegen den dieselbe Menschheit bedrohenden Klimawandel antritt und die Grünen, die sich als die angestammten Repräsentanten dieses Anliegens im politischen Establishment ins Spiel bringen, soll man als Vertreter einer Systemkritik ähnlich der von Engels an der Klassengesellschaft sehen.
Dazu, was Marx und Engels von derlei – wie sie die Grünen sicher genannt hätten – kleinbürgerlichen Bewegungen hielten, haben sie im von ihnen verfassten Kommunistischen Manifest das Nötige gesagt:
„Ein Teil der Bourgeoisie wünscht den sozialen Mißständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern. Es gehören hierher: Ökonomisten, Philantrophen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeitsvereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art.“ (Aus dem »Manifest der Kommunistischen Partei«, Kapitel III, Abschnitt 2 »Der konservative oder Bourgeoissozialismus«)
Engels und Marx wollten in ihrem Kommunistischen Manifest nicht zu einer Sammlung von verantwortungsbewussten Gattungswesen aufrufen, sondern deutlich machen, dass die kapitalistische Produktion von Reichtum zur weltweiten Verelendung der Arbeiter führt. Sie haben das für einen unerträglichen Widerspruch gehalten, der nach Auflösung schreit. Sie haben also nicht für eine Vereinigung von Menschen zur Lösung von Menschheitsproblemen agitiert, sondern waren von der Notwendigkeit einer proletarischen Revolution überzeugt. Insofern hat die Skulptur des „Jungen Engels“ zwar wirklich nichts im Amtszimmer des grünen Oberbürgermeisters von Wuppertal zu suchen, kann einem aber wiederum egal sein kann.
Nicht egal sein sollte einem freilich die vom Autor des Spiegel-Artikels geübte Ignoranz gegenüber der inhaltlichen Kritik, für die Engels steht. Wer an der Theorie von Marx und Engels interessiert ist, den verweisen wir einerseits auf unsere frühere Sendung: Was man von Marx über Arbeit und Reichtum im Kapitalismus lernen kann?
In dieser Sendung geht es um das Kommunistische Manifest und was von der darin geäußerten Kritik an unserer Gesellschaft zu halten ist. Eines sollte schon jetzt klar sein, als Berufungsinstanz für Grüne eignen sich die Argumente von Marx und Engels mit Sicherheit nicht.
Lesetipps: Das kommunistische Manifest – ein mangelhaftes Pamphlet, aber immer noch besser als sein moderner guter Ruf https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/kommunistische-manifest,
150 Jahre „Das Kapital“ und seine bürgerlichen Rezensenten. Der Marxismus – zu Tode interpretiert, vereinnahmt, bekämpft https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/150-jahre-kapital-seine-buergerlichen-rezensenten
Was man von Marx über Arbeit und Reichtum im Kapitalismus lernen kann! http://www.gegenargumente.at/radiosend/radiosend_07/reichtum_wert_und_abstrakte_arbeit_I_und_II.htm , Audio-Datei zum Nachhören https://cba.fro.at/7241 und https://cba.fro.at/7443