GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Ein Kommentar in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung":

Ein großes Lob für die Klassengesellschaft: Sie macht Krisen zu unserem „Schicksal"

Ein Kommentar der renommierten „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" versucht, das Publikum über die gegenwärtige Krise aufzuklären. Das Fazit steht schon in der Überschrift: „Krisen sind unser Schicksal". Die Botschaft ist klar: Das Schicksal ist ein Schicksal, das kann man nicht ändern, man muss es hinnehmen und sich nicht sinnlos bei jeder neuen Krise wieder aufregen. Wie schicksalhaft die Krisen sein sollen, behauptet noch einmal die Unterüberschrift: „Ob Staatsbankrott, Bankenzusammenbruch oder Hyperinflation: Krisen gehören zum Kapitalismus wie ein Gewitter zum Sommer". Dafür beruft sich der Kommentator auf ein neues Buch zweier amerikanischer Ökonomen. Der Titel des Buches: „Diesmal ist alles anders – Acht Jahrhunderte Finanzkrisen", und gemeint ist damit: Natürlich ist diesmal nichts anders, die gegenwärtige Krise belegt nur die Unausweichlichkeit von Krisen – ein Kernsatz des Buches: „Die Stabilität von Währungen, Banken und Staaten ist eine Illusion". Und wenn es mal eine krisenfreie Zeit gibt, dann sei das nur eine „gespenstische Ruhe" bis unweigerlich wieder die nächste Krise ausbricht. Mit den Worten der Ökonomen aus den USA: „Jede Ruhe-Phase wird unweigerlich von einer neuen Welle der Krisen abgelöst". Somit haben wir bislang gelernt: Krisen gibt es immer wieder. Oder anders: Die Erklärung der Krise bestand in der Beobachtung, dass es sie immer wieder gibt.

Dabei will es der FAS-Kommentar allerdings nicht bewenden lassen. Es liegt ja auch ein zu offensichtlicher Widerspruch vor. Was ist denn von der Behauptung zu halten, beim Kapitalismus handele es sich um die effizienteste Wirtschaftsweise aller Zeiten, wenn man dann erfährt, dass drei tragende Pfeiler des Kapitalismus – Währungen, Banken, Staaten – immerzu vom Einsturz bedroht sind? Ist es denn ein Kompliment, wenn – wie es zuvor hieß – Staatsbankrott, Bankenzusammenbruch, Hyperinflation zum Kapitalismus gehören wie ein „Gewitter zum Sommer", also eine Art Naturgesetz dieser Wirtschaftsweise sein sollen? Der Kommentar stellt sich diesem Problem teilnahmsvoll:

„So scheint die Krise unser Schicksal zu sein. Aber ist sie das wirklich? Müssen wir die ewigen Zumutungen hinnehmen, die Menschen auch jetzt wieder in Angst und eventuell in Armut versetzen?"

Die Antwort lautet: Ja, genau das müssen wir! Das verlangt der Kapitalismus von uns, weil nämlich seine Effizienz genau darauf beruhen soll. Ein ausgewiesener Fachmann für gesellschaftliche Fragen, der Direktor des Max Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, begründet das so:

„Der Kapitalismus ist das dynamischste Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das die Menschheit erfunden hat. Kapitalismus ist das unablässige Bohren hochmotivierter und hochkreativer Individuen an sozialen Ordnungen, in die andere sich gerne einleben würden."

Der Zeitungsschreiber verdolmetscht, wer an „sozialen Ordnungen" bohrt und was dabei herauskommt:

„Der Unternehmer ist die Quelle der Krise … der Kapitalismus ist also ein System, dass von Unternehmen zur permanenten Selbstzerstörung und Erneuerung getrieben wird."

Es leuchtet ja ein, dass es manchmal sinnvoller sein kann, ein Haus abzureißen und ein neues zu bauen, statt sich eine mühsame Sanierung vorzunehmen. Aber als Prinzip des Wirtschaftens, dass „permanent" ein Haufen Wert kaputt gemacht werden muss, damit was Neues zustande kommen kann – das soll vernünftig sein? Doch, genau so ist es, behauptet der Chefdenker vom Max Planck-Institut:

„Wir feiern den kapitalistischen Unternehmer als den unkonventionellen Menschen par excellence, als den größten Neuerer aller Zeiten, der uns alles gibt, was wir wollen, auch wenn wir nie geahnt hätten, dass wir es je wollen würden."

Viele hochtrabende Worte – und eine dreiste Zumutung an den Verstand. Soll man allen Ernstes den kapitalistischen Unternehmer gerade deswegen feiern, weil er die Menschen, die „sich in ihren sozialen Ordnungen gerne einleben" würden, immer wieder aus diesen „sozialen Ordnungen" aufscheucht, sprich: sie mit Krisen überzieht – wobei klar ist, wer dabei Krisengewinner und wer Krisenverlierer ist. Dem Unternehmer steht diese Macht einfach zu, und diese Macht wird reichlich unverfroren begründet: Erstens tue ein Kapitalist das ausgerechnet im Auftrag der „Menschheit", die sich angeblich nichts mehr wünsche als das „dynamischste Wirtschafts- und Gesellschaftssystem", und zweitens könne er das nur tun aufgrund individueller herausragender Fähigkeiten – und die würde so eine Unternehmerpersönlichkeit dann auch dazu verpflichten, seiner Mission im Dienste des Fortschritts der Menschheit nachzukommen.

Eine Erklärung der Krise ist das wahrlich nicht, stattdessen eine gnadenlose Verherrlichung der Klassengesellschaft. Dagegen ein paar sachdienliche Hinweise, die das Ganze vom Kopf auf die Füße stellen:

- Was ist eigentlich das „Bohren an sozialen Ordnungen"? Was so großspurig nach Weitsicht, Vision, Erfindergeist, Nicht-Konformität usw. usf. klingen soll, hat doch einen ganz banalen und harten Inhalt. Der Unternehmer bohrt an der „sozialen Ordnung", die er kontrolliert, weil sie ihm gehört, an seinem Betrieb. Der ist für ihn keine anregende Werkstatt, in der ihm neue Produktideen zum Wohle der Menschheit zufliegen, sondern da geht es von Anfang an und immerzu darum, die Kosten zu senken und die Erträge zu steigern. Und im Zentrum dieser anstrengenden Tätigkeit – für die er, wenn der Laden gut genug läuft, so schnell wie möglich Funktionsträger einstellt, die ihn ersetzen – steht das unablässige Herumbohren am „Faktor Arbeit", heißt: Die Lohnarbeit muss immer billiger werden und sie muss immer mehr Leistung liefern. Die „Senkung der Lohnstückkosten" - Herzstück der Wettbewerbsfähigkeit, wie Frau Merkel kürzlich wieder einmal betont hat – ist also nichts anderes, als den menschlichen Trägern des „Faktors Arbeit" das Leben systematisch schwer bis unmöglich zu machen.

- Warum kann und darf der Kapitalist so mit Mensch und Material umspringen? Woher hat er seine Macht? Die große Lobrede auf den Unternehmer will uns weismachen, diese Macht komme aus seinem Inneren, aus seiner besonderen „Motivation" und „Kreativität". Aber die außergewöhnliche Persönlichkeit des Unternehmers hat wieder nur einen banalen und harten Inhalt: Welche Eigenschaften auch immer er haben mag, sie sind nichts wert ohne das Eigentum an den Produktionsmitteln, über das er exklusiv verfügt. Aufgrund dieses Eigentums kann er alle, die auf Arbeit angewiesen sind, weil sie nur sich selbst und eben keine Produktionsmittel besitzen, dazu zwingen, für ihn zu arbeiten. Und er lässt sie selbstverständlich nur bei sich arbeiten, wenn ihm diese Arbeit mehr einbringt, als er dafür ausgegeben hat - wenn nicht, dann nicht. Dass er dazu motiviert ist, kann man ihm glauben, viel Kreativität braucht es dazu allerdings nicht.

- Damit ist auch schon beantwortet, warum der kapitalistische Unternehmer – wie der Direktor des Max Planck-Institutsfast schon ehrfürchtig lobhudelt – „uns alles gibt, was wir wollen, auch wenn wir nie geahnt hätten, dass wir es je wollen würden". Zweifelsohne ist dieser unternehmerische Menschenschlag ein großer Fan des technischen Fortschritts. Machen lässt er ihn jedoch von anderen! Mit seinem Geld kann er sich, im Unterschied zur gewöhnlichen Menschheit, die so genannten „Innovationen" - Maschinen, Werkstoffe, Organisations-Know-How usw. - kaufen, und je mehr Kapital er hat, desto mehr kann er sich von diesen Sachenkaufen. Die Kapitalgröße und die damit betriebene Umwälzung der Produktion sind seine entscheidenden Waffen im Kampf um die „Senkung der Lohnstückkosten". Dabei kommen in der Regel mehr und bisweilen auch bessere Produkte zustande, aber nur dann und nur dafür, dass sie ihm mehr Profit eintragen. Der lohnabhängige Teil der Menschheit ist die Manövriermasse dieser unternehmerischen „Kreativität": An ihrem Lohn wird permanent gespart, ein Teil wird ausgemustert, die verbliebene Belegschaft hat umso mehr zu arbeiten. Je besser das einem Unternehmen gelingt, desto mehr setzt es sich gegen die Konkurrenz durch, desto mehr kann es von seinen Waren in den Markt hinein-und die Waren der anderen hinausrücken. Die „permanente Selbstzerstörung" und die großartige „Erneuerung", von denen zuvor die Rede war, sind in Wahrheit nichts anderes als der banale und harte Konkurrenzkampf: Bei dem einen Unternehmen wird Kapital vernichtet, was die Zerstörung von Maschinen, Gebäuden und Arbeitereinkommen einschließt, bei dem anderen Unternehmen floriert es. Der nicht-unternehmerische Rest der „Menschheit" kann sich ansonsten mit Segen und Fluch der neuen Produkte herumschlagen: Kaufen dürfte sie sie jederzeit und mögen würde sie schon wollen, dem steht aber entgegen, dass sie sich bei der Herstellung dieser Produkte dem Diktat der „Senkung der Lohnstückkosten" hat unterwerfen müssen und zu wenig verdient. Das ist die Dauerkrise ihres Alltags. Und das „Schicksal" kann dafür garantiert nichts.