GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Die EU statuiert an Griechenland ein Exempel:
Eine „Experten“regierung setzt produktive Verelendung als „Sach“zwang durch

So komisch es im ersten Moment klingt: Griechenland ist ein Vorbild. Allerdings ein übles – es wird nämlich dazu hergerichtet./i>

Es heißt: Das Land habe „jahrelang über seine Verhältnisse gelebt“ und deshalb müsse „den Menschen jetzt viel abverlangt werden“. Man kann gerade zusehen, wie die „Verhältnisse“, die diesen Menschen offenbar bloß zustehen, hergestellt werden: Innerhalb kürzester Zeit werden sie durch drastische Sparmaßnahmen auf ein Elendsniveau hinuntergedrückt. Aber bei diesem Verarmungsprogramm gehe es nicht darum, versichert Finanzminister Schäuble, „das griechische Volk zu quälen“. Was dann? Die Sparmaßnahmen seien nur dafür da, sagt Schäuble, „die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Griechenland eine vernünftige Entwicklung hin zu einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft nehmen und irgendwann seine Schulden wieder bedienen kann“. Und EU-Kommissar Rehn schiebt nach: „Einen anderen Weg zu Wachstum und Stabilität gibt es nicht.“

Wohl wahr, vorsätzliche Volksquälerei ist im modernen kapitalistischen Rechtsstaat genauso verboten wie Tierquälerei. Wenn den Griechen „viel abverlangt werden muss“, dann ist das eben im Kapitalismus keine Quälerei, sondern ein von der Politik verordneter Sachzwang, und der ist „leider“ unumgänglich. Das ist er dann, der ganz und gar alternativlose „Weg zu Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum“. Man kann es den griechischen Politikern überlassen, wie sie diesen „Weg“ verklären und daraus das Versprechen einer rosigeren Zukunft basteln. Die EU stellt für Griechenland klar: Der „Weg“ ist das Ziel. Es steht in den Sternen, ob Griechenland jemals eine erfolgreiche Wirtschaft hinkriegt, die in der EU-Konkurrenz mithalten kann, aber es wird von ihm verlangt, alles für seine Konkurrenzfähigkeit zu unternehmen. Das heißt: Staat und Volk sind als radikal zu beschneidender Kostenfaktor zu behandeln, als in weiten Teilen unerträgliche Last für das private Geschäftemachen. Der Staat darf seine Nützlichkeit demonstrieren

durch die amtliche Suspendierung aller Tarifverträge und ‑verhandlungen,

durch die sofortige Absenkung des gesamten Lohnniveaus des Landes einschließlich des Mindestlohns, der auf ein neu herunterdefiniertes soziales Existenzminimum festgesetzt wird,

durch drastische Senkung aller staatlichen Sozialleistungen – Renten, Arbeitslosengeld, Gesundheitswesen – kurz: durch das rigorose Zusammenstreichen aller materiellen Grundlagen der Lebensplanung seines Volkes.

Der Vorwurf an Griechenland lautet: All das hat es sich nur geleistet und konnte es sich nur leisten mit Hilfe des Kredits, den es sich als Mitglied der Euro-Zone beschaffen konnte. Was liegt dem zugrunde?

Mit der Einführung des Euro war klar: Die griechische Ökonomie ist der Konkurrenz der stärkeren Euro-Staaten und der Kapitalmacht ihrer Unternehmen nicht gewachsen. Deswegen hat der griechische Staat aber nicht das Handtuch geworfen. Er hat vielmehr – was ihm als Mitglied der Euro-Zone ja zustand – die Möglichkeit, sich in dem neuen Euro-Kredit zu verschulden, genutzt. Und er hat auch die günstigen Konditionen, zu denen man sich diesen Kredit aufgrund seiner Stärke als Gemeinschaftswährung beschaffen konnte, ausgenutzt. Damit hat Griechenland genau dasselbe gemacht, wie alle anderen Euro-Staaten (einschließlich dem Musterland D nicht nur in seinen neuen Ostländern): Es hat Kredit aufgenommen, um damit Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum zu schaffen und um Investitionsgelegenheiten anzuschieben, die griechische und internationale Investoren im kapitalistisch weniger entwickelten Griechenland als nicht lohnend genug einschätzten. Mit diesem Kredit sprang der Staat mit immer mehr eigenen Aktivitäten für die konkurrenzschwache Ökonomie im Lande in die Bresche. Dazu gehörte auch, sein Volk nicht weiter in für den griechischen Staat und den gesamteuropäischen Standort unproduktiven Produktionsverhältnissen herumwerkeln oder es einfach ungenutzt in Arbeitslosigkeit versinken zu lassen, sondern Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, die die private Wirtschaft im Vergleich mit anderen Standorten in Griechenland für nicht hinreichend rentabel hielt.

Jetzt, nachdem eine Finanzkrise und daran anschließend eine Schuldenkrise den Euro erschüttert hat, lautet das von den EU-Großmächten vollstreckte Urteil: So dem freien, zerstörerischen Wirken der Konkurrenz ins Handwerk zu pfuschen, ohne dass dadurch „ein selbst tragender Aufschwung“ wird, sei im Kapitalismus streng verboten und ein schwerer Missbrauch des Euro-Kredits. Alle Maßnahmen, Subventionen und Projekte, mit denen der griechische Staat versucht hat, Volk und Territorium für den „Anschluss an Europa“ tauglich zu machen, hat er daher jetzt, wo der griechische Standort die Konkurrenz um den Zustrom lukrativer Investitionen trotz aller mit Schulden bezahlten staatlichen Vorleistungen verloren hat, zu suspendieren. Die bescheidenen staatlichen Wohltaten, die die Griechen in den letzten 20 Jahren als Überwindung der früheren Armut bei sich verbuchen konnten, werden wie unrecht erworbenes Gut wieder einkassiert. Und die Gläubiger, die in den letzten 10 Jahren in griechische Staatsanleihen investierten, weil sie sie für ein lukratives Investment hielten und bisher mit pünktlich fließenden Zinsen bedient wurden, haben jetzt entdeckt, dass den Zinsen gar kein auf Konkurrenzerfolg beruhendes Wachstum in Griechenland entspricht, und daher dem griechischen Staatskredit ihr Vertrauen entzogen. Das heißt aber nicht, dass mit dem ausbleibenden Wachstum auch die Staatsanleihen, die es anstoßen sollten, annulliert werden. Im Gegenteil, Gläubiger und in der europäischen Konkurrenz erfolgreichere Euro-Staaten bestehen darauf, dass Griechenland für seine Anleihen geradesteht, auch wenn der damit angesteuerte Zweck – künftiges Wachstum – misslungen ist.[ * ]

Vorbild ist Griechenland also, weil es dafür steht und weil an ihm mit aller Härte das Prinzip durchexerziert wird, das im Zuge der Eurokrise zum für die ganze EU gültigen und vorherrschenden erklärt wurde: Für Europas Durchsetzung auf dem Weltmarkt muss ein unschlagbar profitables Verhältnis von Lohn und Leistung geschaffen werden. Während Griechenland das Vorbild für die Härten ist, die alle Staaten bei sich durchsetzen müssen, gilt Deutschland als Vorbild dafür, was mit der Durchsetzung dieser Härten erreicht wird – es ist das mittlerweile von allen Euro-Staaten vorbehaltlos anerkannte Erfolgsmodell. Und Deutschland übt sich in der Kunst der Vergleichs und führt den anderen vor, dass es noch viel Luft nach unten gibt. Schäuble laut „Tagesspiegel“ vom 19.2.:

„Der griechische Mindestlohn wird ungefähr auf das Niveau Spaniens abgesenkt. Außerdem: Was sollen die Menschen in den osteuropäischen und den baltischen Ländern Europas sagen, deren Mindestlöhne noch deutlich niedriger sind und die ebenfalls dazu beitragen, Griechenland zu helfen?“

In Deutschland beherrscht man die staatsbürgerliche Tugend des Vergleichs schließlich schon lange vorbildlich. Jedes vom Fernsehen präsentierte Elend anderswo hilft, die eigene „jahrelange Lohnzurückhaltung“ und den sich stetig ausbreitenden, darüber inzwischen europaweit vorbildlichen flächendeckenden Leiharbeits- und Niedriglohnsektor zu einem „Erfolg für uns alle“ zu verklären – obwohl unübersehbar ist, dass der Gegensatz zwischen dem Erfolg der Nation und dem Erfolg derer, die von nichts als ihrer Arbeit leben, immer ruinöser wird, für Letztere nämlich. Und Deutschland hat überhaupt keine Scheu, ganz Europa zu erklären, was es für den Erfolg einer Nation braucht und wie er zustande kommt:

Überlegene Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt beruht auf Armut und Verzicht – und die müssen in der Nation erzwungen werden.

Griechenland habe – so heißt es – den größten Nachholbedarf in Sachen ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ und dürfe deshalb vor keiner Radikalität zurückschrecken. Der griechische Staat muss seine Ausgaben zur Erhaltung von Land und Leuten als halbwegs brauchbares Material für kapitalistische Ausbeutung zusammenstreichen, ob das Ausgaben für Infrastruktur, Waldbrandbekämpfung, Umwelt- und Denkmalschutz sind, oder Ausgaben für Ausbildung, Gesundheitswesen und elementare Sozialleistungen. Mit der Entlassung großer Teile der Bevölkerung in die Überflüssigkeit, mit dem Todesurteil „unproduktiv“ über ganze Geschäftszweige betätigt sich der griechische Staat als ein einziges Abbruchunternehmen. Was das für ihn und sein Volk bedeutet, zählt nicht, schließlich geht es ums Prinzip.

Und weil es darum geht, werden auch der ansonsten immer und überall hochgeschätzten Demokratie neue Spielregeln verpasst: Der griechische Staat führt jetzt buchstäblich ein Notstandsregime gegen das eigene Volk durch, und in diesem Ausnahmezustand kommen Änderungen an diesem Programm durch parlamentarische Debatten und Beschlüsse, womöglich durch eine Einmischung des Volkes per Wahlen nicht in Frage. Deswegen gibt es jetzt eine von Deutschland und Frankreich mit aller Macht herbeigeführte „Experten“-Regierung. Gegen die griechischen Parteien sei höchstes Misstrauen angebracht, meinen die Euro-Finanzminister, und jeglicher Versuch, das von der Euro-Zone verordnete Programm zum Gegenstand ihrer Parteienkonkurrenz zu machen, muss solchen Politikern entschieden untersagt werden. In freien demokratischen Wahlen zur Führung ihrer Nation ermächtigt? Vergiss es! Jetzt wird die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, unter Leitung eines unabhängigen Experten, angeordnet, und das gewählte Parlament hat sie abzusegnen.

Deren Programm besteht aus einem Punkt: ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ – und das mit aller Radikalität. Als Expertenregierung hat sie die prinzipielle Alternativlosigkeit dieses Programms als unumstößlichen Sachzwang durchzusetzen. Die Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen Programms fällt diesen Experten nicht schwer. Sie stehen nämlich einem Staat vor, dem sein entscheidendes Lebensmittel abhanden gekommen ist: Er hat keinen Kredit mehr. Diesem Staat fehlt die entscheidende materielle Grundlage seiner Souveränität. Alles, was diesen Staat vor der vollständigen Zahlungsunfähigkeit nach innen wie nach außen bewahrt und ihn überhaupt handlungsfähig erhält, ist eine von außen gestiftete Leihgabe. Die kommt daher wie ein Hilfsangebot, und „Experten“-Regierung bedeutet: Die Nation unterwirft sich durch die Einsetzung dieser Experten diesem Angebot, sie akzeptiert, dass die Regierung selbst, ihre Souveränität, zur Leihgabe der Euro-Staaten geworden ist. Aber aus der Abhängigkeit von diesem Hilfsangebot will die „Experten“-Regierung Griechenland wieder befreien. An der Vorgabe ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ ist nicht zu rütteln, aber es kommt darauf an, sie in eigener Regie durchzusetzen. So behauptet Griechenland seine Souveränität – und wenn dafür der Preis einer massenhaften Verelendung des Volkes zu entrichten ist, dann muss das wohl sein. ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ geht so und nicht anders.

Eine Lehre lässt sich daraus allemal ziehen: ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ geht zu Lasten derer, die dafür benutzt werden. Noch schlimmer für die, für die es keine Verwendung gibt. Griechenland ist dafür ein drastisches Beispiel, aber deutsche Arbeiter und Angestellte könnten sich ja mal fragen, was mit ihnen unter dem Diktat „Deutschland muss wettbewerbsfähig sein und bleiben!“ in den letzten Jahren angestellt wurde.


[ * ]

Warum die Gläubiger jetzt auf einen Teil ihrer Ansprüche verzichten und zugleich auf ihren Ansprüchen aus dem verbleibenden Schulden umso unerbittlicher bestehen, wird in GegenStandpunkt 1-12, der am 22. März erscheint (und in einer der nächsten Radio-Analysen) erklärt.

Mehr zum Thema Finanzkrise 2.0
in GS 2-11: »ESM, Pakt für den Euro, Wirtschaftsregierung etc.: Die Rettung des Euro«,
in GS 3-11: »Das Ergebnis von 4 Jahren Krisenbewältigung: Die Krise ist zurück!« und
in GS 4-11: »Fortschritte in der Krisenkonkurrenz der Weltwirtschaftsmächte«.


© GegenStandpunkt Verlag 2012