GEGENSTANDPUNKT | GEGENARGUMENTE |
Die
„Empörten“ – eine Bewegung voller Illusionen über Demokratie und Marktwirtschaft
Europa spart – am Lebensunterhalt seiner Bürger.
Die demokratischen europäischen Regierungen machen das Leben ihrer Völker dafür
haftbar, dass ihre Wirtschaft zu wenig wächst und die Kreditwürdigkeit ihrer
Nation im Eimer ist. Deswegen haben die verantwortlichen Staatsführer ihren
Bürgern ein gewaltiges soziales Abbruchprogramm verordnet. Betroffene melden
sich zu Wort und protestieren gegen ein Wirtschaftssystem, das, wie sie sagen,
die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht; gegen Politiker,
Manager und Banker, die die Krisenprogramme machtvoll durchsetzen und damit
zahllose Lebensperspektiven zerstören. Dass die Betroffenen sich zu Wort melden
und protestieren, ist überfällig: Nur wie!
Einer ihrer kritischen Kernsätze über den
Kapitalismus lautet:
„Ziel und
Absicht des derzeitigen Systems sind die Anhäufung von Geld, ohne dabei auf den
Wohlstand der Gesellschaft zu achten“.
Dass sich alles um Schulden und Geld dreht, dass
alle ihre Berechnungen auf eine auskömmliche Existenz einem stabilen Euro und
einer soliden staatlichen Schuldenwirtschaft geopfert werden, ist nicht zu
übersehen. Die europäischen Politiker sagen auch ganz offen dazu, dass es dazu,
den Leuten ihren Wohlstand zu kürzen, damit Griechenland, Spanien, Portugal,
Italien usw. wieder auf die Beine kommen, einfach keine Alternative gibt. Da
könnte man sie doch einmal beim Wort nehmen: Ja, Spanien, Griechenland und alle
anderen Nationen, das sind nichts als Kapitalstandorte, die ihren Erfolg auf die
nützliche Armut der Masse ihrer Bevölkerung gründen; einen Erfolg, der sich in
wachsenden Schulden und Geldvermögen und einer stabilen Währung bilanziert.
Kapitalvermehrung und Wachstum des staatlich bilanzierten Geldreichtums, das
ist der nationale Wohlstand, auf den es ankommt, dessen Mehrung zu fördern,
ist Ziel und Aufgabe der politischen Verwalter des Systems, etwas anderes hat
man von diesen Gesellschaften also nicht zu erwarten. Die Protestbewegung der „Empörten“ hält aber die derzeitigen
Verhältnisse offenbar bloß für eine Übertreibung, eine Entgleisung
sozusagen, die eigentlich gar nicht sein müsste in diesem System. Sie – die
Empörten – schreiben nämlich:
„Wir brauchen
eine ethische Revolution. Anstatt das Geld über den Menschen zu stellen, sollten
wir es wieder in unsere Dienste stellen. Wir sind Menschen, keine Waren.“
Was soll denn da heißen „wieder“? In
welcher Sekunde der Geschichte des Kapitalismus hätte das Geld je im Dienste des
Wohlergehens der Menschen und ihrer materiellen Wohlfahrt gestanden? Wie sollte
so ein „Dienst“ auch
aussehen? Etwa so, dass das Geld einen Boom auf dem spanischen Wohnungs- und
Arbeitsmarkt veranstaltet, wo die Menschen sich krummgelegt haben für eine
Wohnung und den zu bedienenden Kredit, sich abgestrampelt haben für irgendeinen
meist schlecht bezahlten Job? Trauern sie etwa diesen beschissenen „besseren Zeiten“ nach, weil jetzt die
Wohnung zwangsversteigert wird oder der Job weg ist? Dann liegen sie verkehrt,
denn gestern waren haargenau dieselben Systemzutaten mit haargenau den
gleichen Rechnungsweisen in Kraft, wie sie heute, in Krisenzeiten,
massenhaft Leute, die von ihrer Arbeit leben müssen, in den Ruin treiben. Was
diese Menschen heute erleben ist nichts anderes als die unausweichliche
Konsequenz von gestern, wo ihre Perspektiven mit einem Auskommen samt Wohnung
und Job auch nichts anderes waren als Instrumente privater Eigentümer, mit ihren
Schulden oder ihrer Arbeit ihr Geldvermögen zu vermehren. Arbeiten für Geld,
Wohnen nur, wenn man einen Bankkredit bedient oder Miete bezahlt, ein Bankwesen
überhaupt, usw. usf. – das gehört zum bleibenden Inventar einer kapitalistischen
Wachstumsmaschine und stiftet die alltäglichen Notlagen für die, die in diesen
Verhältnissen ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, der von der Bedienung all
dieser Geschäftsrechnungen abhängt. Deswegen steigen im Krisenfall, wenn die
ganzen Wachstumsansprüche der Wirtschaft nicht zur Zufriedenheit aufgehen, auch
die Unkosten für all diejenigen, die vom Dienst an diesen Ansprüchen leben.
Ihre Not von heute beweist also etwas ganz
anderes als eine „ethische
Verantwortungslosigkeit“. Sie beweist, welche armseligen und prekären
Rechnungen sie gestern mit dem kapitalistischen System eingegangen sind.
Und sie beweist überhaupt nicht, dass in der Krise jetzt der
„Missbrauch“ des Geldes
eingerissen wäre und die Macher des Systems ihrer
„Verantwortung“ nicht gerecht würden, wie es im Manifest der
Bewegung behauptet wird. Nicht einmal jetzt wollen sie die Einrichtungen, die
ihnen das Leben jetzt so schwer machen, angreifen; sie bilden sich statt dessen
ein, mit einer anderen, wie sie meinen,
verantwortungsvolleren Einstellung seiner Agenten wäre der kapitalistische
Laden für ihre Lebensinteressen dienstbar zu machen – da können sie lange
warten, die Angesprochenen weisen doch unmissverständlich auf ihre nationale
Verantwortung hin, die ihnen keine Alternative zu ihrem Verarmungsprogramm
lässt.
In ihrem Manifest
fordern sie öffentliches Eigentum anstelle von Privatisierung –
das soll es bringen, wo ihnen doch jetzt gerade die öffentliche Gewalt als
Arbeitgeber, Rentenverwalter oder Steuereintreiber das Leben schwer macht? Ist
es nicht zu bescheiden, als Konsequenz von Zwangsräumungen und Versteigerungen
empört Mietbeihilfen zu fordern – und gegen das Recht der
Immobilieneigentümer, an den Wohnbedürfnissen ordentlich zu verdienen, kein
böses Wort zu verlieren? Ist es nicht jämmerlich, die Verstaatlichung von
Banken zu fordern – also ihre staatlich betreute Sanierung, damit dann
nach der Krise ihre Kredit- und Spekulationsgeschäfte wieder erfolgreich
losgehen? Gibt es denn nicht mehr zu fordern als Arbeitsplatzsicherheit?
Die ganze Hoheit über die Arbeit soll bei den Herren Arbeitgebern bleiben – sie
sollen die lohnabhängige Bevölkerung nur ganz bestimmt in den bezahlten Dienst
an ihrem Eigentum nehmen! Ein sehr bescheidener Antrag, der überhaupt nur im
Vergleich einen Vorteil bietet – zur einzigen Alternative nämlich, die das
marktwirtschaftliche System für Arbeitnehmer bereithält: dem Elend der
Arbeitslosigkeit.
Die „Empörten“
sagen:
„Wir sind keine Systemfeinde –
das System ist uns gegenüber feindlich.“
Keine Frage, da haben sie Recht: Das System ist ihnen
gegenüber feindlich. Ein Generalangriff auf ihre Lebensbedingungen hat
stattgefunden und findet noch statt. Das Leben, in dem sie sich bislang schlecht
und recht durchgeschlagen haben, wird ihnen nicht nur immer schwieriger, sondern
in immer größerem Umfang unmöglich gemacht. Immer mehr, auch und gerade die
immer wieder zitierten „gut ausgebildeten
Jugendlichen“, werden auf Dauer arbeitslos gemacht, die Staaten streichen
gnadenlos die Sozialleistungen zusammen usw. Das „System“ nimmt ihnen die Perspektive,
die sie gewohnt waren. Dagegen halten sie, dass sie doch nichts Unbilliges
verlangen, wenn sie dieses Leben weiterführen können wollen, dass sie doch ganz
normale Menschen sind und überhaupt nicht nachvollziehen können, warum man ihnen
so übel mitspielt:
„Wir sind normale Menschen.
Wir sind wie du: Menschen, die jeden Morgen aufstehen, um studieren zu gehen
oder einen Job zu finden, Menschen mit Familien und Freunden. Menschen, die
jeden Tag hart arbeiten."
(Manifest der spanischen Demonstranten)
Da muss man die „Empörten“ fragen: Wie kommen sie darauf,
dass sie mit der Berufung auf ihre Normalität so etwas wie einen
Berechtigungsausweis erworben hätten, ein Recht, von ihrer Obrigkeit
berücksichtigt zu werden? Und umgekehrt: Liegt denn ein Vergehen der
Obrigkeit vor, wenn die die Normalität neu definiert? Denn das ist
es, was geschieht und was die „Empörten“
nicht begreifen wollen.
Sie sagen, sie seien es gewohnt, hart zu arbeiten. Sie sagen
auch, sie seien es gewohnt, mit bescheidenen Ansprüchen durchs Leben zu gehen –
das tragen sie ja wie ein Gütesiegel vor sich her, wenn sie sagen: Wir fordern
doch nichts Besonderes, eben nur unsere Normalität. Sie beteuern also ihre
Bereitschaft, in diesem System als kleine Rädchen – weiter! - mitzuarbeiten.
Dabei haben sie sich das, wo sie wie gewohnt ihre Dienste tun wollen, nicht
ausgesucht, geschweige denn selber hergestellt. Vielmehr wurde ihnen
diese Normalität hingestellt, nämlich von ihrer Obrigkeit. Die hat mit
ihren Gesetzen bis ins Kleinste hinunter geregelt, wie diese Normalität
auszusehen hat bzw. wie man sich in ihr zu bewegen und bewähren hat. Sie hat
festgelegt, wie man sich seinen Lebensunterhalt überhaupt nur verdienen kann
oder ohne einen Verdienst auskommen muss, wie man eine Familie gründet und
organisiert, wie man sich einen Altersunterhalt erwirbt oder auch nicht, usw.
usf. In einem Wort: In der Normalität, die die
„Empörten“ zurückhaben wollen, waren sie nichts anderes als abhängige Variable,
eine Manövriermasse des Staates. Wenn sie jetzt sagen: „Wir hatten eine Chance, die man uns jetzt
nimmt“, dann war das eine „Chance“,
die der Staat eingerichtet hatte – und zwar nicht, um den Leuten ihre Normalität
zu ermöglichen, sondern nach seinen Berechnungen und zu seinem
Nutzen. Daran hat sich gar nichts geändert, was das jetzige
Handeln der Staaten nur beweist und was die „Empörten“ selbst erfahren und beklagen: Auf Basis der von ihnen erlassenen
Gesetzeslage machen die, die für die Belange des Staates zuständig sind, also
die Politiker, die Gesetze, mit denen sie die neue Normalität herstellen,
die für den Staat notwendig ist – und wenn das die Lebensnotwendigkeiten
der Leute über den Haufen wirft, dann setzt der Staat damit seine
Notwendigkeiten durch. Es ist keine dem „System“ eingeschriebene Eigenschaft,
sich nach den Lebensnotwendigkeiten der ihm unterworfenen Leute zu richten,
deren Lebensumstände werden vielmehr eingerichtet und sie haben sich
danach zu richten, was dieses „System“
für sich für notwendig hält. Es stellt klar, wie kläglich sich die
Berechnung der so genannten „kleinen Leute“
zu dem verhalten, was die in diesem „System“ zählenden Berechnungen sind. Was das „System“ aktuell für notwendig hält,
ist im Übrigen kein Geheimnis, wird sogar offen gesagt: Diese Gesellschaft
beruht auf und lebt vom Funktionieren des Kreditsystems – und wenn dessen „Rettung“ an erster Stelle steht, dann
gibt es nicht nur Wichtigeres als die Normalität, nach der die „Empörten“ sich sehnen, diese
Normalität ist mit der durchzuziehenden Rettung des Kreditsystems ganz
offensichtlich unvereinbar. Wie es der griechische Finanzminister
ausdrückte:
„Unsere Maßnahmen sind hart
und ungerecht, aber es führt kein Weg daran vorbei.“
Die „Empörten“
sagen: "Das System ist uns gegenüber feindlich." Sie konstatieren also,
dass von Seiten des „Systems“ eine
Kündigung ausgesprochen wurde, die auf ihre Lebensumstände keinerlei
Rücksicht nimmt. Sehr deutlich sagen sie aber auch, dass sie – wie die erste
Hälfte des Plakatspruches versichert - eine Gegenkündigung gegenüber dem, was
sie von Seiten des Staates erfahren, nicht aussprechen wollen:
„Wir sind keine Systemfeinde“.
Das „System“ sagt ihnen nach ihrer
eigenen Auskunft den Kampf an, sie wollen diesen Kampf aber nicht erwidern. Mit
diesem Widerspruch gehen sie so um, dass sie ihn immerzu nur beschwören:
Seht ihr denn nicht, was ihr uns antut, das kann doch niemand wollen, das haben
wir doch nicht verdient! Der ganze Protest ist durchdrungen von einer
hartnäckigen Verständnislosigkeit, ist ein in Beschwerdeform vorgetragenes
einziges Jammern, und er fasst sich in dem Ausruf zusammen: Das kann doch
nicht wahr sein!
Nun ist es aber wahr, und die „Empörten“ suchen nach
Erklärungen für das eigentlich Unfassbare. Auf die Erklärung, dass das „System“ jetzt wie früher nach
seinen Notwendigkeiten handelt und dass die „Empörten“ jetzt wie früher nur das Material dafür abgeben, kommen sie
nicht oder - „Wir sind keine Systemfeinde“
- wollen sie nicht kommen. Das eigentlich Unfassbare können sie sich nur damit
erklären, dass eine große Abweichung, ein Verstoß vorliegt, nämlich des „Systems“ gegen sich selbst - die „existente“ Demokratie ist gar nicht
echt:
„Die Demokratie gehört den
Menschen (demos = Menschen, krátos = Herrschaft), wobei die Regierung aus jedem
Einzelnen von uns besteht. Dennoch hört uns in Spanien der Großteil der
Politiker überhaupt nicht zu. Politiker sollten unsere Stimmen in die
Institutionen bringen, die politische Teilhabe von Bürgern mit Hilfe direkter
Kommunikationskanäle erleichtern, um der gesamten Gesellschaft den größten
Nutzen zu erbringen, sie sollten sich nicht auf unsere Kosten bereichern und
deswegen vorankommen, sie sollten sich nicht nur um die Herrschaft der
Wirtschaftsgroßmächte kümmern und diese durch ein Zweiparteiensystem erhalten,
welches vom unerschütterlichen Akronym PP & PSOE angeführt wird.“(ebenda)
Sie imaginieren sich ein positives Prinzip der
Demokratie, wo sie – unter Missbrauch von Etymologie und Vernunft – die
wahren Herren derer sind, als deren entbehrliches Menschenmaterial sie sich
gerade erleben: „Demokratie (demos =
Mensch, krátos = Herrschaft), die den Menschen gehört, wobei die Regierung aus
jedem Einzelnen von uns besteht“.
Als Bürger schlechthin treten sie auf, vergessen, dass sie sich nicht wegen solcher
politologischen Kalauer über die Demokratie, sondern wegen eines sozialen
Anliegens zusammengefunden haben. Nicht mehr als Klasse von Ausgegrenzten, als
Anhängsel eines Geschäftsinteresses, das ihnen (k)eine Arbeit gewährt, führen
sie sich auf, sondern kritisieren als Staatsbürger, die sich für einen
besseren Bauplan ihres Gemeinwesens zuständig erklären. Der besteht zwar in
nichts anderem als in der billigen Vorstellung, dass wenn alles anders wäre,
eben alles auch nicht so hässlich wäre. So arbeiten sie sich dazu vor, sich eine
virtuelle Welt auszudenken, ein wahres, gutes und schönes Gemeinwesen, in dem
die handfesten Interessensgegensätze zwischen ihnen und ihrer Obrigkeit ebenso
wenig vorkommen, wie die zwischen ihnen und all den unternehmerischen,
grundeigentümerlichen, finanzkapitalistischen Instanzen, die ihnen das Leben im
schnöden Alltag schwer machen.
„Politiker sollten unsere Stimmen in die Institutionen
bringen, die politische Teilhabe von Bürgern mit Hilfe direkter
Kommunikationskanäle erleichtern, um der gesamten Gesellschaft den größten
Nutzen zu erbringen"(ebenda).
Wenn das allen Bekenntnissen der Politiker zur Demokratie
zum Trotz derzeit nicht geschieht, wenn auf die Lebensumstände der Menschen
keine Rücksicht genommen wird, kann das nur einen Grund haben, diese „Mächtigen“ sind
verantwortungslos und versagen an ihrer
eigentlichen Aufgabe der Bewahrung der „Normalität“, und zwar, weil sie nur auf ihren eigenen Vorteil schauen und
das Gute, Wahre, Schöne gegen Silberlinge verkaufen. Kurz: Das „System“ handelt nicht auf der
Grundlage seiner eigenen Gesetzgebung, sondern ist zu einem einzigen
Rechtsverstoß verkommen – es ist, wohin man schaut, von
„Korruption“ durchdrungen. In den Worten eines Manifests:
„Wir sind besorgt und wütend
angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive,
die sich um uns herum präsentiert: Die Korruption unter Politikern,
Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- wie auch sprachlos. Und diese
Situation ist mittlerweile zur Normalität geworden - tägliches Leid ohne
jegliche Hoffnung."
(ebenda)
Es ist erstens ein Rätsel, warum dieselben Politiker,
Geschäftsleute und Banker, die für die alte und angeblich aushaltbare Normalität
zuständig waren und sie verbürgten, so plötzlich eine verbrecherische Laufbahn
eingeschlagen haben sollen. Es ist zweitens ein Fehler, diesen
Figuren, den Zapateros und Papandreous eine Absage entgegen zu schleudern, auch
wenn sie noch so frech - „Haut alle ab!“ - daherkommt: Diese Absage richtet sich gerade
nicht gegen die legitimen Machtbefugnisse, die das Amt diesen
Personen verleiht, sondern eben nur gegen die Personen. Was soll dabei
mehr herauskommen, als neue Personen, die dieselben Ämter
besetzen? Weswegen drittens die Aufregung über Korruption lächerlich
ist, denn was ist eine persönliche Bereicherung schon im Vergleich zu der
Gewalt, die Personen nach allen Regeln der Demokratie befugt gegen andere
ausüben können?
Aber all das interessiert die „Empörten“ nicht weiter –
Hauptsache, sie haben ihre Schuldigen gefunden und können an das eigentlich
gute „System“ weiterhin glauben. Die
Schuldigen nun mit aller Macht zu bekämpfen, kommt ihnen nicht in den Sinn,
vielmehr wollen sie bei „den Mächtigen“
damit Eindruck machen, dass sie ihnen anklagend ihre eigene „Hilf- und Sprachlosigkeit“ vorhalten.
Warum meinen sie, damit bei „den Mächtigen“
einen Stich machen zu können? Ist es so, dass sie sich gar nicht Anderes
vorstellen können, als dass ihre Lebensumstände weiterhin von Politikern,
Geschäftsleuten und Bankern festgelegt werden, dass sie sich weiterhin nach
deren Vorgaben richten müssen? „Tägliches Leid ohne jegliche Hoffnung“ sagen sie pathetisch – sie wollen
also wieder hoffen können. Sie selber sind „hilf- und sprachlos“ und können nur darauf hoffen, dass „die Mächtigen“ sich wieder besinnen,
denn nur die können ihnen wieder eine bessere Normalität verschaffen.
Mehr ist der ganze Protest nicht.
*
Dieser Protest hat eine Bibel, das 2010 erschienene,
millionenfach verkaufte 14-seitige Pamphlet
„Empört euch!“; ihr
Evangelist und Prediger ist der französische Résistance-Veteran Stéphane Hessel.
Zahlreichen Protestierenden muss diese Schrift dermaßen gefallen haben, dass sie
sich gleich „die Empörten“
nennen: Sie meinen tatsächlich, dass die öffentlich vorgetragene
moralische Entrüstung, die zur Schau getragene Betroffenheit eine
Trumpfkarte ihres Protests wäre, weil sie sich mit ihren bescheidenen
Forderungen nach Wohnen und Arbeiten, ihrer unbedarften staatsbürgerlichen
Haltung absolut im Recht wähnen: Eigentlich wäre ihnen das in den
Grundrechten des herrschenden Systems versprochen, beteuern sie und deuten die
schönen Ideale guten Regierens als eine einzulösende Pflicht einer Herrschaft,
die ihnen zwar praktisch das Gegenteil beweist, bei der sie aber trotzdem Gehör
zu finden hoffen.
Von der Kanzel der moralischen Empörung herab predigt auch
St. Stéphane. Seine Liste der Missstände liest sich in etwa genauso wie
die der jungen Empörten, die in Madrid oder Athen auf die Straße gehen: die
Streichung der „sozialen
Errungenschaften“, die unwürdige Behandlung der Immigranten, die
private Geldbereicherung, der „Vorrang
des Geldes“ über die „gerechte
Verteilung des Reichtums“, „der
Abstand zwischen den Ärmsten und den Reichsten, der noch nie so groß war wie
heute“, die „aktuelle
Diktatur der Finanzmärkte, die den Frieden und die Demokratie bedrohen“
und dergleichen mehr.
Nur: Wo sich die Demonstranten wegen ihrer materiellen
Belange aufstellen, da stellt Hessel die Sache auf den Kopf: Er fordert die
Jugend zur Empörung auf, weil er die materiellen Nöte der Leute wie vieles
andere als Beweis für einen Notstand und einen Geschädigten anderer, höherer Art
begreift. Seine Republique, für die er
in der französischen Resistance kämpfte, sieht er als eine bedrohte sittliche
Gemeinschaft, die es zu retten gilt. Der Veteran der Resistance fordert dazu
auf, die Nation, für die er gekämpft hat, zu verteidigen und erinnert an das „Fundament seines politischen Engagements“,
„die Jahre der
Resistance und das Programm, das der Nationale Widerstandsrat vor 66 Jahren
erarbeitete. In diesem Rat kamen alle im Widerstand aktiven Bewegungen, Parteien
und Gewerkschaften im besetzten Frankreich zusammen und proklamierten ihre Treue
zum kämpfenden Frankreich und dessen Führer General de Gaulle. Dieser Grundsätze
und Werte bedürfen wir heute dringender denn je. Wir müssen alle darüber wachen,
dass unsere Gesellschaft eine Gesellschaft bleibt, auf die wir stolz sein
können, und nicht zu der Gesellschaft der illegalen Einwanderer, der
Abschiebungen und des Misstrauens gegen die Immigranten wird; in der man die
Rente in Frage stellt; deren Medien sich in den Händen der Reichen befinden –
Dinge, die wir niemals akzeptiert hätten, wenn wir die wahren Erben des
nationalen Widerstands wären.“ (www.faz.net – Auszüge aus Hessels Pamphlet „Empört Euch!“)
Hier meldet sich ein Mahner, der von tiefer Sorge um das
gute Erbe seiner Grande Nation, das er an verantwortlicher Stelle mit
gestiftet hat, getragen ist, und das stilisiert er sich so zurecht:
„Erinnern wir uns, dass die
soziale Sicherheit im Sinne des Widerstands begründet wurde, mit dem Ziel, allen
Menschen das Grundbedürfnis nach materieller Sicherheit zu gewährleisten. Ganz
besonders zu Zeiten, in denen sie nicht oder nur unzureichend aus eigener Kraft
für ihr existenzielles Überleben sorgen können. Eine Rente, die allen
Arbeitnehmern einen würdevollen Lebensabend sichert. Die Energiequellen Strom
und Gas, die Kohlebergwerke, die großen Banken sind nationalisiert. Das Programm
(des
damaligen Rates des französischen Widerstands von 1944; d.V.) empfiehlt die
‚Rückkehr zur Nation der großen monopolistischen Produktionsmöglichkeiten,
Frucht der gemeinsamen Arbeit, der Energiequellen, der Bodenschätze, der
Versicherungen und großen Banken, die Einrichtung einer wirklich
wirtschaftlichen und sozialen Demokratie.‘“(ebenda)
Die Restaurierung der vom Krieg zerstörten Nation, ihre
Herrichtung zum erfolgreichen Kapitalstandort mit allen sozialen Einrichtungen,
die eine auch auf Dauer rentable Benutzung der arbeitenden Klasse braucht,
verklärt Hessel zum Vorhaben, alle Franzosen von materiellen Sorgen zu befreien,
sie so in einer Republik zu vereinen, die ein einziger Hort praktizierten
französischen Gemeinsinns ist und die sie daher mit Recht als ihre
wahre Heimat auffassen können. Dieser große Patriot hat selbst
hingebungsvoll mitgewirkt an der Überhöhung des postfaschistischen
Staatsprogramms und an den Idealen demokratischer Herrschaft in der
UNO-Menschenrechtskonvention von 1948. Jahrelang hat er seinen Landsleuten den
Sieg über den deutschen Faschismus und die nachfolgende Etablierung der neuen
französischen Herrschaft als nationale Verpflichtung gegenüber hehren Idealen
und Werten der Menschheit verkauft hat und von Frankreich auf seinem Weg
„zum demokratischen Staat in seiner
Vollendung“ – und jetzt, wo er in Gestalt von Arbeitslosigkeit,
Rentenkürzung, Verelendung der Jugend, Privatisierung der erfolgreichen
französischen Konzerne mit den Ergebnissen des 65-jährigen Wirkens dieser
schönen Demokratie konfrontiert ist, ordnet er die in sein patriotisches
Weltbild ein und ist radikal enttäuscht: Diese großartige Nation hat sich von
sich selbst entfremdet, so, wie sie aktuell verfasst ist, können Franzosen sich
in ihr unmöglich gut beheimatet finden! So werden die Vielen, die sich über die
Durchkreuzung ihrer Lebenschancen empören, in ihrem Fehler bestätigt. Von
genau denen, denen sie ihr Elend zu verdanken haben, wünschen sie sich
Verhältnisse, mit denen sie sich ihre Besserstellung ausrechnen: Für ein
auskömmliches Leben in der Klassengesellschaft zu sorgen, fällt in ihrem
unverwüstlichen Glauben ja genuin in den Zuständigkeitsbereich demokratischer
Herrscher, also sollen die auch endlich ihrem Auftrag nachkommen. Für den
französischen Großmoralisten ist dieser Auftrag dem neuen Frankreich gleich bei
seiner Geburt mit auf den Weg gegeben worden, so dass für ihn Franzosen nicht in
ihren beschädigten Interessen einen Grund zur Empörung haben. Der Umstand, dass
ihr Vaterland es so weit hat kommen lassen, dass ein Humanist, der
nichts begreifen will, an ihm verzweifelt, ist für ihn der Generalgrund
für Empörung. Seinen jungen Landsleuten ruft er daher
„Empört Euch!“ zu und versichert ihnen, dass sie dann, wenn sie
nur suchen, die Gründe ihrer Empörung ganz bestimmt finden werden – und auch,
welche Konsequenz daraus folgt:
„Den jungen Leuten sage ich:
schaut Euch um, ihr findet genug Themen, Euch zu empören – wie man mit den
Immigranten umgeht, mit Menschen ohne ‚juristische Legitimation‘, mit den Roma
und Sinti. Ihr werdet konkrete Situationen finden, die Euch zu kraftvollem
Handeln als Bürger veranlassen werden. Sucht und ihr werdet finden!“(ebenda)
Die Empörung, die Hessel einfordert, zielt also ausdrücklich
nicht auf eine Absage, sondern auf eine verantwortungsvolle Haltung, die
anständige französische Bürger angesichts des Zustands ihres Landes einzunehmen
hätten, auf ein „kraftvolles“
staatsbürgerliches Engagement, das sich der Nation als sittlichem Kollektiv
verpflichtet weiß. Werdet radikal – aus Sorge um euer Vaterland!
*
Zwei haben sich jedenfalls schon mal gefunden: Auf der einen
Seite viele junge Menschen, die sich weigern, der beschissenen Lage, an der sie
Anstoß nehmen, auf den Grund zu gehen und daher Kritik durch
Alternativvorschläge ersetzen, wie Demokratie und Kapitalismus doch auch gut zu
ihrem Vorteil funktionieren könnten. Und ein Fundamentalkritiker auf der anderen
Seite, der von vorneherein jeden materiellen Grund zur Kritik zum bloßen Anlass
degradiert, sich in der Empörung Luft zu verschaffen, auf die er als
Patriot sich versteht, und darin die Perspektive für eine Generation sieht, die
für ihr Auskommen keine mehr hat. Als gute Bürger sollen die Jungen den
nationalen Gemeinsinn repräsentieren, der den Regierenden abgeht, und können
sich – und sollen sich vor allem auch – bei allem, worüber sie sich empören, in
einem sicher sein: Insofern sie sich nur nach Maßgabe all der idealen
Prinzipien, denen nach Auffassung guter Menschen das Gemeinwesen verpflichtet
ist, um dessen sittliche Vervollkommnung bemühen, ist ihre Empörung
absolut gerechtfertigt. Nicht zufällig spricht der Mann damit vielen aus dem
Herzen, die Grund haben, aufzubegehren, das aber so verkehrt tun. Zwar ist das
Gefühl, unbedingt im Recht zu sein, der einzige Ertrag, den eine
symbolträchtige Versammlung von ihrer Regierung enttäuschter Bürger vor
Parlamenten oder auf großen Plätzen abwirft. Aber insofern die derart Empörten
das gar nicht als Mangel ihres Protestes, vielmehr umgekehrt ihr massenhaftes
Versammeln schon als dessen Erfolg begreifen, haben sie in den
Herzensergießungen eines missionierenden Vaterlandsliebhabers ihre goldrichtige
„Bibel“ gefunden: Sie
deuten auf ihre elende Lage und landen mit ihrer Kritik bei der Beschwörung
eines Idealbilds von Demokratie, der so ein Elend doch fremd zu sein habe – und
bekommen von einem Missionar des Sich-Empörens gesagt, dass ihr alberner
Idealismus die einzig senkrechte Antwort auf ihre Lage ist, weil nämlich die
Demokratie grundsätzlich als Verfahren zur Fürsorge für die eingerichtet wurde,
um deren Lebensglück es notorisch schlecht bestellt ist.