GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

 

Die „Empörten“ – eine Bewegung voller Illusionen über Demokratie und Marktwirtschaft

 

Europa spart – am Lebensunterhalt seiner Bürger. Die demokratischen europäischen Regierungen machen das Leben ihrer Völker dafür haftbar, dass ihre Wirtschaft zu wenig wächst und die Kreditwürdigkeit ihrer Nation im Eimer ist. Deswegen haben die verantwortlichen Staatsführer ihren Bürgern ein gewaltiges soziales Abbruchprogramm verordnet. Betroffene melden sich zu Wort und protestieren gegen ein Wirtschaftssystem, das, wie sie sagen, die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht; gegen Politiker, Manager und Banker, die die Krisenprogramme machtvoll durchsetzen und damit zahllose Lebensperspektiven zerstören. Dass die Betroffenen sich zu Wort melden und protestieren, ist überfällig: Nur wie!

 

Einer ihrer kritischen Kernsätze über den Kapitalismus lautet:

 

Ziel und Absicht des derzeitigen Systems sind die Anhäufung von Geld, ohne dabei auf den Wohlstand der Gesellschaft zu achten.

 

Dass sich alles um Schulden und Geld dreht, dass alle ihre Berechnungen auf eine auskömmliche Existenz einem stabilen Euro und einer soliden staatlichen Schuldenwirtschaft geopfert werden, ist nicht zu übersehen. Die europäischen Politiker sagen auch ganz offen dazu, dass es dazu, den Leuten ihren Wohlstand zu kürzen, damit Griechenland, Spanien, Portugal, Italien usw. wieder auf die Beine kommen, einfach keine Alternative gibt. Da könnte man sie doch einmal beim Wort nehmen: Ja, Spanien, Griechenland und alle anderen Nationen, das sind nichts als Kapitalstandorte, die ihren Erfolg auf die nützliche Armut der Masse ihrer Bevölkerung gründen; einen Erfolg, der sich in wachsenden Schulden und Geldvermögen und einer stabilen Währung bilanziert. Kapitalvermehrung und Wachstum des staatlich bilanzierten Geldreichtums, das ist der nationale Wohlstand, auf den es ankommt, dessen Mehrung zu fördern, ist Ziel und Aufgabe der politischen Verwalter des Systems, etwas anderes hat man von diesen Gesellschaften also nicht zu erwarten. Die Protestbewegung der „Empörten“ hält aber die derzeitigen Verhältnisse offenbar bloß für eine Übertreibung, eine Entgleisung sozusagen, die eigentlich gar nicht sein müsste in diesem System. Sie – die Empörten – schreiben nämlich:

 

Wir brauchen eine ethische Revolution. Anstatt das Geld über den Menschen zu stellen, sollten wir es wieder in unsere Dienste stellen. Wir sind Menschen, keine Waren.

 

Was soll denn da heißen „wieder“? In welcher Sekunde der Geschichte des Kapitalismus hätte das Geld je im Dienste des Wohlergehens der Menschen und ihrer materiellen Wohlfahrt gestanden? Wie sollte so ein Dienst auch aussehen? Etwa so, dass das Geld einen Boom auf dem spanischen Wohnungs- und Arbeitsmarkt veranstaltet, wo die Menschen sich krummgelegt haben für eine Wohnung und den zu bedienenden Kredit, sich abgestrampelt haben für irgendeinen meist schlecht bezahlten Job? Trauern sie etwa diesen beschissenen „besseren Zeiten“ nach, weil jetzt die Wohnung zwangsversteigert wird oder der Job weg ist? Dann liegen sie verkehrt, denn gestern waren haargenau dieselben Systemzutaten mit haargenau den gleichen Rechnungsweisen in Kraft, wie sie heute, in Krisenzeiten, massenhaft Leute, die von ihrer Arbeit leben müssen, in den Ruin treiben. Was diese Menschen heute erleben ist nichts anderes als die unausweichliche Konsequenz von gestern, wo ihre Perspektiven mit einem Auskommen samt Wohnung und Job auch nichts anderes waren als Instrumente privater Eigentümer, mit ihren Schulden oder ihrer Arbeit ihr Geldvermögen zu vermehren. Arbeiten für Geld, Wohnen nur, wenn man einen Bankkredit bedient oder Miete bezahlt, ein Bankwesen überhaupt, usw. usf. – das gehört zum bleibenden Inventar einer kapitalistischen Wachstumsmaschine und stiftet die alltäglichen Notlagen für die, die in diesen Verhältnissen ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, der von der Bedienung all dieser Geschäftsrechnungen abhängt. Deswegen steigen im Krisenfall, wenn die ganzen Wachstumsansprüche der Wirtschaft nicht zur Zufriedenheit aufgehen, auch die Unkosten für all diejenigen, die vom Dienst an diesen Ansprüchen leben.

 

Ihre Not von heute beweist also etwas ganz anderes als eine ethische Verantwortungslosigkeit. Sie beweist, welche armseligen und prekären Rechnungen sie gestern mit dem kapitalistischen System eingegangen sind. Und sie beweist überhaupt nicht, dass in der Krise jetzt der Missbrauchdes Geldes eingerissen wäre und die Macher des Systems ihrer Verantwortung nicht gerecht würden, wie es im Manifest der Bewegung behauptet wird. Nicht einmal jetzt wollen sie die Einrichtungen, die ihnen das Leben jetzt so schwer machen, angreifen; sie bilden sich statt dessen ein, mit einer anderen, wie sie meinen, verantwortungsvolleren Einstellung seiner Agenten wäre der kapitalistische Laden für ihre Lebensinteressen dienstbar zu machen – da können sie lange warten, die Angesprochenen weisen doch unmissverständlich auf ihre nationale Verantwortung hin, die ihnen keine Alternative zu ihrem Verarmungsprogramm lässt.

 

In ihrem Manifest fordern sie öffentliches Eigentum anstelle von Privatisierung – das soll es bringen, wo ihnen doch jetzt gerade die öffentliche Gewalt als Arbeitgeber, Rentenverwalter oder Steuereintreiber das Leben schwer macht? Ist es nicht zu bescheiden, als Konsequenz von Zwangsräumungen und Versteigerungen empört Mietbeihilfen zu fordern – und gegen das Recht der Immobilieneigentümer, an den Wohnbedürfnissen ordentlich zu verdienen, kein böses Wort zu verlieren? Ist es nicht jämmerlich, die Verstaatlichung von Banken zu fordern – also ihre staatlich betreute Sanierung, damit dann nach der Krise ihre Kredit- und Spekulationsgeschäfte wieder erfolgreich losgehen? Gibt es denn nicht mehr zu fordern als Arbeitsplatzsicherheit? Die ganze Hoheit über die Arbeit soll bei den Herren Arbeitgebern bleiben – sie sollen die lohnabhängige Bevölkerung nur ganz bestimmt in den bezahlten Dienst an ihrem Eigentum nehmen! Ein sehr bescheidener Antrag, der überhaupt nur im Vergleich einen Vorteil bietet – zur einzigen Alternative nämlich, die das marktwirtschaftliche System für Arbeitnehmer bereithält: dem Elend der Arbeitslosigkeit.

 

Die „Empörten“ sagen:

 

Wir sind keine Systemfeinde – das System ist uns gegenüber feindlich.

 

Keine Frage, da haben sie Recht: Das System ist ihnen gegenüber feindlich. Ein Generalangriff auf ihre Lebensbedingungen hat stattgefunden und findet noch statt. Das Leben, in dem sie sich bislang schlecht und recht durchgeschlagen haben, wird ihnen nicht nur immer schwieriger, sondern in immer größerem Umfang unmöglich gemacht. Immer mehr, auch und gerade die immer wieder zitierten „gut ausgebildeten Jugendlichen“, werden auf Dauer arbeitslos gemacht, die Staaten streichen gnadenlos die Sozialleistungen zusammen usw. Das „System“ nimmt ihnen die Perspektive, die sie gewohnt waren. Dagegen halten sie, dass sie doch nichts Unbilliges verlangen, wenn sie dieses Leben weiterführen können wollen, dass sie doch ganz normale Menschen sind und überhaupt nicht nachvollziehen können, warum man ihnen so übel mitspielt:

 

Wir sind normale Menschen. Wir sind wie du: Menschen, die jeden Morgen aufstehen, um studieren zu gehen oder einen Job zu finden, Menschen mit Familien und Freunden. Menschen, die jeden Tag hart arbeiten." (Manifest der spanischen Demonstranten)

 

Da muss man die „Empörten“ fragen: Wie kommen sie darauf, dass sie mit der Berufung auf ihre Normalität so etwas wie einen Berechtigungsausweis erworben hätten, ein Recht, von ihrer Obrigkeit berücksichtigt zu werden? Und umgekehrt: Liegt denn ein Vergehen der Obrigkeit vor, wenn die die Normalität neu definiert? Denn das ist es, was geschieht und was die „Empörten“ nicht begreifen wollen.

 

Sie sagen, sie seien es gewohnt, hart zu arbeiten. Sie sagen auch, sie seien es gewohnt, mit bescheidenen Ansprüchen durchs Leben zu gehen – das tragen sie ja wie ein Gütesiegel vor sich her, wenn sie sagen: Wir fordern doch nichts Besonderes, eben nur unsere Normalität. Sie beteuern also ihre Bereitschaft, in diesem System als kleine Rädchen – weiter! - mitzuarbeiten. Dabei haben sie sich das, wo sie wie gewohnt ihre Dienste tun wollen, nicht ausgesucht, geschweige denn selber hergestellt. Vielmehr wurde ihnen diese Normalität hingestellt, nämlich von ihrer Obrigkeit. Die hat mit ihren Gesetzen bis ins Kleinste hinunter geregelt, wie diese Normalität auszusehen hat bzw. wie man sich in ihr zu bewegen und bewähren hat. Sie hat festgelegt, wie man sich seinen Lebensunterhalt überhaupt nur verdienen kann oder ohne einen Verdienst auskommen muss, wie man eine Familie gründet und organisiert, wie man sich einen Altersunterhalt erwirbt oder auch nicht, usw. usf. In einem Wort: In der Normalität, die die Empörten zurückhaben wollen, waren sie nichts anderes als abhängige Variable, eine Manövriermasse des Staates. Wenn sie jetzt sagen: „Wir hatten eine Chance, die man uns jetzt nimmt“, dann war das eine „Chance“, die der Staat eingerichtet hatte – und zwar nicht, um den Leuten ihre Normalität zu ermöglichen, sondern nach seinen Berechnungen und zu seinem Nutzen. Daran hat sich gar nichts geändert, was das jetzige Handeln der Staaten nur beweist und was die „Empörten“ selbst erfahren und beklagen: Auf Basis der von ihnen erlassenen Gesetzeslage machen die, die für die Belange des Staates zuständig sind, also die Politiker, die Gesetze, mit denen sie die neue Normalität herstellen, die für den Staat notwendig ist – und wenn das die Lebensnotwendigkeiten der Leute über den Haufen wirft, dann setzt der Staat damit seine Notwendigkeiten durch. Es ist keine dem „System“ eingeschriebene Eigenschaft, sich nach den Lebensnotwendigkeiten der ihm unterworfenen Leute zu richten, deren Lebensumstände werden vielmehr eingerichtet und sie haben sich danach zu richten, was dieses „Systemfür sich für notwendig hält. Es stellt klar, wie kläglich sich die Berechnung der so genannten „kleinen Leute“ zu dem verhalten, was die in diesem „Systemzählenden Berechnungen sind. Was das „System“ aktuell für notwendig hält, ist im Übrigen kein Geheimnis, wird sogar offen gesagt: Diese Gesellschaft beruht auf und lebt vom Funktionieren des Kreditsystems – und wenn dessen „Rettung“ an erster Stelle steht, dann gibt es nicht nur Wichtigeres als die Normalität, nach der die „Empörten“ sich sehnen, diese Normalität ist mit der durchzuziehenden Rettung des Kreditsystems ganz offensichtlich unvereinbar. Wie es der griechische Finanzminister ausdrückte:

 

Unsere Maßnahmen sind hart und ungerecht, aber es führt kein Weg daran vorbei.

 

Die „Empörten“ sagen: "Das System ist uns gegenüber feindlich." Sie konstatieren also, dass von Seiten des „Systems“ eine Kündigung ausgesprochen wurde, die auf ihre Lebensumstände keinerlei Rücksicht nimmt. Sehr deutlich sagen sie aber auch, dass sie – wie die erste Hälfte des Plakatspruches versichert - eine Gegenkündigung gegenüber dem, was sie von Seiten des Staates erfahren, nicht aussprechen wollen: Wir sind keine Systemfeinde. Das „System“ sagt ihnen nach ihrer eigenen Auskunft den Kampf an, sie wollen diesen Kampf aber nicht erwidern. Mit diesem Widerspruch gehen sie so um, dass sie ihn immerzu nur beschwören: Seht ihr denn nicht, was ihr uns antut, das kann doch niemand wollen, das haben wir doch nicht verdient! Der ganze Protest ist durchdrungen von einer hartnäckigen Verständnislosigkeit, ist ein in Beschwerdeform vorgetragenes einziges Jammern, und er fasst sich in dem Ausruf zusammen: Das kann doch nicht wahr sein!

 

Nun ist es aber wahr, und die „Empörten“ suchen nach Erklärungen für das eigentlich Unfassbare. Auf die Erklärung, dass das „Systemjetzt wie früher nach seinen Notwendigkeiten handelt und dass die „Empörtenjetzt wie früher nur das Material dafür abgeben, kommen sie nicht oder - „Wir sind keine Systemfeinde“ - wollen sie nicht kommen. Das eigentlich Unfassbare können sie sich nur damit erklären, dass eine große Abweichung, ein Verstoß vorliegt, nämlich des „Systems“ gegen sich selbst - die „existente“ Demokratie ist gar nicht echt:

 

Die Demokratie gehört den Menschen (demos = Menschen, krátos = Herrschaft), wobei die Regierung aus jedem Einzelnen von uns besteht. Dennoch hört uns in Spanien der Großteil der Politiker überhaupt nicht zu. Politiker sollten unsere Stimmen in die Institutionen bringen, die politische Teilhabe von Bürgern mit Hilfe direkter Kommunikationskanäle erleichtern, um der gesamten Gesellschaft den größten Nutzen zu erbringen, sie sollten sich nicht auf unsere Kosten bereichern und deswegen vorankommen, sie sollten sich nicht nur um die Herrschaft der Wirtschaftsgroßmächte kümmern und diese durch ein Zweiparteiensystem erhalten, welches vom unerschütterlichen Akronym PP & PSOE angeführt wird.“(ebenda)

 

Sie imaginieren sich ein positives Prinzip der Demokratie, wo sie – unter Missbrauch von Etymologie und Vernunft – die wahren Herren derer sind, als deren entbehrliches Menschenmaterial sie sich gerade erleben: Demokratie (demos = Mensch, krátos = Herrschaft), die den Menschen gehört, wobei die Regierung aus jedem Einzelnen von uns besteht“.

 

Als Bürger schlechthin treten sie auf, vergessen, dass sie sich nicht wegen solcher politologischen Kalauer über die Demokratie, sondern wegen eines sozialen Anliegens zusammengefunden haben. Nicht mehr als Klasse von Ausgegrenzten, als Anhängsel eines Geschäftsinteresses, das ihnen (k)eine Arbeit gewährt, führen sie sich auf, sondern kritisieren als Staatsbürger, die sich für einen besseren Bauplan ihres Gemeinwesens zuständig erklären. Der besteht zwar in nichts anderem als in der billigen Vorstellung, dass wenn alles anders wäre, eben alles auch nicht so hässlich wäre. So arbeiten sie sich dazu vor, sich eine virtuelle Welt auszudenken, ein wahres, gutes und schönes Gemeinwesen, in dem die handfesten Interessensgegensätze zwischen ihnen und ihrer Obrigkeit ebenso wenig vorkommen, wie die zwischen ihnen und all den unternehmerischen, grundeigentümerlichen, finanzkapitalistischen Instanzen, die ihnen das Leben im schnöden Alltag schwer machen.

 

Politiker sollten unsere Stimmen in die Institutionen bringen, die politische Teilhabe von Bürgern mit Hilfe direkter Kommunikationskanäle erleichtern, um der gesamten Gesellschaft den größten Nutzen zu erbringen"(ebenda).

 

Wenn das allen Bekenntnissen der Politiker zur Demokratie zum Trotz derzeit nicht geschieht, wenn auf die Lebensumstände der Menschen keine Rücksicht genommen wird, kann das nur einen Grund haben, diese „Mächtigen“ sind verantwortungslos und versagen an ihrer eigentlichen Aufgabe der Bewahrung der „Normalität“, und zwar, weil sie nur auf ihren eigenen Vorteil schauen und das Gute, Wahre, Schöne gegen Silberlinge verkaufen. Kurz: Das „System“ handelt nicht auf der Grundlage seiner eigenen Gesetzgebung, sondern ist zu einem einzigen Rechtsverstoß verkommen – es ist, wohin man schaut, von Korruption durchdrungen. In den Worten eines Manifests:

 

Wir sind besorgt und wütend angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive, die sich um uns herum präsentiert: Die Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- wie auch sprachlos. Und diese Situation ist mittlerweile zur Normalität geworden - tägliches Leid ohne jegliche Hoffnung." (ebenda)

 

Es ist erstens ein Rätsel, warum dieselben Politiker, Geschäftsleute und Banker, die für die alte und angeblich aushaltbare Normalität zuständig waren und sie verbürgten, so plötzlich eine verbrecherische Laufbahn eingeschlagen haben sollen. Es ist zweitens ein Fehler, diesen Figuren, den Zapateros und Papandreous eine Absage entgegen zu schleudern, auch wenn sie noch so frech - Haut alle ab! - daherkommt: Diese Absage richtet sich gerade nicht gegen die legitimen Machtbefugnisse, die das Amt diesen Personen verleiht, sondern eben nur gegen die Personen. Was soll dabei mehr herauskommen, als neue Personen, die dieselben Ämter besetzen? Weswegen drittens die Aufregung über Korruption lächerlich ist, denn was ist eine persönliche Bereicherung schon im Vergleich zu der Gewalt, die Personen nach allen Regeln der Demokratie befugt gegen andere ausüben können?

 

Aber all das interessiert die „Empörten“ nicht weiter – Hauptsache, sie haben ihre Schuldigen gefunden und können an das eigentlich gute „System“ weiterhin glauben. Die Schuldigen nun mit aller Macht zu bekämpfen, kommt ihnen nicht in den Sinn, vielmehr wollen sie bei „den Mächtigen“ damit Eindruck machen, dass sie ihnen anklagend ihre eigene „Hilf- und Sprachlosigkeit“ vorhalten. Warum meinen sie, damit bei „den Mächtigen“ einen Stich machen zu können? Ist es so, dass sie sich gar nicht Anderes vorstellen können, als dass ihre Lebensumstände weiterhin von Politikern, Geschäftsleuten und Bankern festgelegt werden, dass sie sich weiterhin nach deren Vorgaben richten müssen? „Tägliches Leid ohne jegliche Hoffnung“ sagen sie pathetisch – sie wollen also wieder hoffen können. Sie selber sind „hilf- und sprachlos“ und können nur darauf hoffen, dass „die Mächtigen“ sich wieder besinnen, denn nur die können ihnen wieder eine bessere Normalität verschaffen. Mehr ist der ganze Protest nicht.

 

*

 

Dieser Protest hat eine Bibel, das 2010 erschienene, millionenfach verkaufte 14-seitige Pamphlet Empört euch!; ihr Evangelist und Prediger ist der französische Résistance-Veteran Stéphane Hessel. Zahlreichen Protestierenden muss diese Schrift dermaßen gefallen haben, dass sie sich gleich die Empörten nennen: Sie meinen tatsächlich, dass die öffentlich vorgetragene moralische Entrüstung, die zur Schau getragene Betroffenheit eine Trumpfkarte ihres Protests wäre, weil sie sich mit ihren bescheidenen Forderungen nach Wohnen und Arbeiten, ihrer unbedarften staatsbürgerlichen Haltung absolut im Recht wähnen: Eigentlich wäre ihnen das in den Grundrechten des herrschenden Systems versprochen, beteuern sie und deuten die schönen Ideale guten Regierens als eine einzulösende Pflicht einer Herrschaft, die ihnen zwar praktisch das Gegenteil beweist, bei der sie aber trotzdem Gehör zu finden hoffen.

Von der Kanzel der moralischen Empörung herab predigt auch St. Stéphane. Seine Liste der Missstände liest sich in etwa genauso wie die der jungen Empörten, die in Madrid oder Athen auf die Straße gehen: die Streichung der sozialen Errungenschaften, die unwürdige Behandlung der Immigranten, die private Geldbereicherung, der Vorrang des Geldes über die gerechte Verteilung des Reichtums, der Abstand zwischen den Ärmsten und den Reichsten, der noch nie so groß war wie heute, die aktuelle Diktatur der Finanzmärkte, die den Frieden und die Demokratie bedrohenund dergleichen mehr.

 

Nur: Wo sich die Demonstranten wegen ihrer materiellen Belange aufstellen, da stellt Hessel die Sache auf den Kopf: Er fordert die Jugend zur Empörung auf, weil er die materiellen Nöte der Leute wie vieles andere als Beweis für einen Notstand und einen Geschädigten anderer, höherer Art begreift. Seine Republique, für die er in der französischen Resistance kämpfte, sieht er als eine bedrohte sittliche Gemeinschaft, die es zu retten gilt. Der Veteran der Resistance fordert dazu auf, die Nation, für die er gekämpft hat, zu verteidigen und erinnert an das „Fundament seines politischen Engagements“,

 

die Jahre der Resistance und das Programm, das der Nationale Widerstandsrat vor 66 Jahren erarbeitete. In diesem Rat kamen alle im Widerstand aktiven Bewegungen, Parteien und Gewerkschaften im besetzten Frankreich zusammen und proklamierten ihre Treue zum kämpfenden Frankreich und dessen Führer General de Gaulle. Dieser Grundsätze und Werte bedürfen wir heute dringender denn je. Wir müssen alle darüber wachen, dass unsere Gesellschaft eine Gesellschaft bleibt, auf die wir stolz sein können, und nicht zu der Gesellschaft der illegalen Einwanderer, der Abschiebungen und des Misstrauens gegen die Immigranten wird; in der man die Rente in Frage stellt; deren Medien sich in den Händen der Reichen befinden – Dinge, die wir niemals akzeptiert hätten, wenn wir die wahren Erben des nationalen Widerstands wären.“ (www.faz.net – Auszüge aus Hessels Pamphlet „Empört Euch!“)

 

Hier meldet sich ein Mahner, der von tiefer Sorge um das gute Erbe seiner Grande Nation, das er an verantwortlicher Stelle mit gestiftet hat, getragen ist, und das stilisiert er sich so zurecht:

 

Erinnern wir uns, dass die soziale Sicherheit im Sinne des Widerstands begründet wurde, mit dem Ziel, allen Menschen das Grundbedürfnis nach materieller Sicherheit zu gewährleisten. Ganz besonders zu Zeiten, in denen sie nicht oder nur unzureichend aus eigener Kraft für ihr existenzielles Überleben sorgen können. Eine Rente, die allen Arbeitnehmern einen würdevollen Lebensabend sichert. Die Energiequellen Strom und Gas, die Kohlebergwerke, die großen Banken sind nationalisiert. Das Programm (des damaligen Rates des französischen Widerstands von 1944; d.V.) empfiehlt die ‚Rückkehr zur Nation der großen monopolistischen Produktionsmöglichkeiten, Frucht der gemeinsamen Arbeit, der Energiequellen, der Bodenschätze, der Versicherungen und großen Banken, die Einrichtung einer wirklich wirtschaftlichen und sozialen Demokratie.‘“(ebenda)

 

Die Restaurierung der vom Krieg zerstörten Nation, ihre Herrichtung zum erfolgreichen Kapitalstandort mit allen sozialen Einrichtungen, die eine auch auf Dauer rentable Benutzung der arbeitenden Klasse braucht, verklärt Hessel zum Vorhaben, alle Franzosen von materiellen Sorgen zu befreien, sie so in einer Republik zu vereinen, die ein einziger Hort praktizierten französischen Gemeinsinns ist und die sie daher mit Recht als ihre wahre Heimat auffassen können. Dieser große Patriot hat selbst hingebungsvoll mitgewirkt an der Überhöhung des postfaschistischen Staatsprogramms und an den Idealen demokratischer Herrschaft in der UNO-Menschenrechtskonvention von 1948. Jahrelang hat er seinen Landsleuten den Sieg über den deutschen Faschismus und die nachfolgende Etablierung der neuen französischen Herrschaft als nationale Verpflichtung gegenüber hehren Idealen und Werten der Menschheit verkauft hat und von Frankreich auf seinem Weg zum demokratischen Staat in seiner Vollendung“ – und jetzt, wo er in Gestalt von Arbeitslosigkeit, Rentenkürzung, Verelendung der Jugend, Privatisierung der erfolgreichen französischen Konzerne mit den Ergebnissen des 65-jährigen Wirkens dieser schönen Demokratie konfrontiert ist, ordnet er die in sein patriotisches Weltbild ein und ist radikal enttäuscht: Diese großartige Nation hat sich von sich selbst entfremdet, so, wie sie aktuell verfasst ist, können Franzosen sich in ihr unmöglich gut beheimatet finden! So werden die Vielen, die sich über die Durchkreuzung ihrer Lebenschancen empören, in ihrem Fehler bestätigt. Von genau denen, denen sie ihr Elend zu verdanken haben, wünschen sie sich Verhältnisse, mit denen sie sich ihre Besserstellung ausrechnen: Für ein auskömmliches Leben in der Klassengesellschaft zu sorgen, fällt in ihrem unverwüstlichen Glauben ja genuin in den Zuständigkeitsbereich demokratischer Herrscher, also sollen die auch endlich ihrem Auftrag nachkommen. Für den französischen Großmoralisten ist dieser Auftrag dem neuen Frankreich gleich bei seiner Geburt mit auf den Weg gegeben worden, so dass für ihn Franzosen nicht in ihren beschädigten Interessen einen Grund zur Empörung haben. Der Umstand, dass ihr Vaterland es so weit hat kommen lassen, dass ein Humanist, der nichts begreifen will, an ihm verzweifelt, ist für ihn der Generalgrund für Empörung. Seinen jungen Landsleuten ruft er daher Empört Euch!zu und versichert ihnen, dass sie dann, wenn sie nur suchen, die Gründe ihrer Empörung ganz bestimmt finden werden – und auch, welche Konsequenz daraus folgt:

 

Den jungen Leuten sage ich: schaut Euch um, ihr findet genug Themen, Euch zu empören – wie man mit den Immigranten umgeht, mit Menschen ohne ‚juristische Legitimation‘, mit den Roma und Sinti. Ihr werdet konkrete Situationen finden, die Euch zu kraftvollem Handeln als Bürger veranlassen werden. Sucht und ihr werdet finden!“(ebenda)

 

Die Empörung, die Hessel einfordert, zielt also ausdrücklich nicht auf eine Absage, sondern auf eine verantwortungsvolle Haltung, die anständige französische Bürger angesichts des Zustands ihres Landes einzunehmen hätten, auf ein „kraftvolles“ staatsbürgerliches Engagement, das sich der Nation als sittlichem Kollektiv verpflichtet weiß. Werdet radikal – aus Sorge um euer Vaterland!

 

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Zwei haben sich jedenfalls schon mal gefunden: Auf der einen Seite viele junge Menschen, die sich weigern, der beschissenen Lage, an der sie Anstoß nehmen, auf den Grund zu gehen und daher Kritik durch Alternativvorschläge ersetzen, wie Demokratie und Kapitalismus doch auch gut zu ihrem Vorteil funktionieren könnten. Und ein Fundamentalkritiker auf der anderen Seite, der von vorneherein jeden materiellen Grund zur Kritik zum bloßen Anlass degradiert, sich in der Empörung Luft zu verschaffen, auf die er als Patriot sich versteht, und darin die Perspektive für eine Generation sieht, die für ihr Auskommen keine mehr hat. Als gute Bürger sollen die Jungen den nationalen Gemeinsinn repräsentieren, der den Regierenden abgeht, und können sich – und sollen sich vor allem auch – bei allem, worüber sie sich empören, in einem sicher sein: Insofern sie sich nur nach Maßgabe all der idealen Prinzipien, denen nach Auffassung guter Menschen das Gemeinwesen verpflichtet ist, um dessen sittliche Vervollkommnung bemühen, ist ihre Empörung absolut gerechtfertigt. Nicht zufällig spricht der Mann damit vielen aus dem Herzen, die Grund haben, aufzubegehren, das aber so verkehrt tun. Zwar ist das Gefühl, unbedingt im Recht zu sein, der einzige Ertrag, den eine symbolträchtige Versammlung von ihrer Regierung enttäuschter Bürger vor Parlamenten oder auf großen Plätzen abwirft. Aber insofern die derart Empörten das gar nicht als Mangel ihres Protestes, vielmehr umgekehrt ihr massenhaftes Versammeln schon als dessen Erfolg begreifen, haben sie in den Herzensergießungen eines missionierenden Vaterlandsliebhabers ihre goldrichtige Bibel gefunden: Sie deuten auf ihre elende Lage und landen mit ihrer Kritik bei der Beschwörung eines Idealbilds von Demokratie, der so ein Elend doch fremd zu sein habe – und bekommen von einem Missionar des Sich-Empörens gesagt, dass ihr alberner Idealismus die einzig senkrechte Antwort auf ihre Lage ist, weil nämlich die Demokratie grundsätzlich als Verfahren zur Fürsorge für die eingerichtet wurde, um deren Lebensglück es notorisch schlecht bestellt ist.