GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Ägypten: Volksaufstand gegen das „System Mubarak“ (1/2)

Mubarak weg!“, mit dieser Parole hat sich eine breite Protestbewegung in Ägypten Gehör verschafft. „Machtgierig“ sollen er und seine Günstlinge gewesen sein, und über 3 Jahrzehnte ein System der Unterdrückung befehligt haben, das dazu noch durch und durch „korrupt“ war. Der Protest wird von Leuten aus allen Schichten getragen: Rechtsanwälte, Handwerker, Lohnarbeiter, Händler und Lehrer fühlen sich durch das „System Mubarak“ gegängelt, unterdrückt und abkassiert und empören sich gegen den allmächtigen, weil allzuständigen Staat. Eine andere Regierung soll her, die endlich für gerechte Verhältnisse sorgt.

Was die Protestbewegung anklagt und angreift, hat nicht nur irgendwie ‚System‘, sondern kennzeichnet tatsächlich das ganze politökonomische System des Landes. Denn offenbar läuft es in Ägypten so: Wie alle Insassen der globalen Marktwirtschaft, so brauchen auch die Ägypter Geld, also eine Einkommensquelle. In ihrem Bemühen darum sind sie mit einem Herrschaftsapparat konfrontiert, der flächendeckend über die Zuteilung von Arbeitsplätzen, von Lizenzen für Unternehmer und Freiberufler, von Krediten, überhaupt von Bedingungen und Mitteln des Gelderwerbs entscheidet. Dieser bürokratische Apparat besteht aus lauter Volksgenossen, die den Zipfel staatlicher Macht, den sie sich durch Protektion ergattert oder gekauft haben, dazu benutzen, eigene Leute zu protegieren und sich für die Zuteilung von Erwerbsquellen und ‑mitteln bezahlen zu lassen. Diese landesweit herrschenden Zuteilungsverhältnisse bringen viel Elend und Abhängigkeiten auf jeder Stufe der sozialen Hierarchie hervor, und das lässt ein paar Rückschlüsse zu:

Erstens darauf, dass da offensichtlich ein flächendeckender Mangel an Überlebensmitteln und Geldquellen verteilt wird. Mangel herrscht aber nicht nur im Volk, sondern auch in dem Apparat, der die Verteilung des Mangels vornimmt: Weil es überall so wenig zuzuteilen gibt, finden sich ganz viele von der erstrebten Existenz ausgeschlossen. Wer aber an eine Einkommensquelle herankommt, der steht eben lauter verfügungsberechtigten Staatsagenten gegenüber, die aus ihrer eigenen Not eine Tugend und aus ihrem Stück Staatsmacht Geld machen.

An diesem System der Mangelverwaltung wird zweitens ersichtlich, wie es um den ägyptischen Kapitalismus überhaupt bestellt ist: Dass im Dienst an fremdem Reichtum Geld verdient werden muss, steht fest. Doch für die flächendeckende Indienstnahme der verfügbaren Arbeitskräfte und ein darauf aufbauendes System bürgerlicher Revenuequellen reicht das Kapital, das von privaten Arbeitgebern im Land akkumuliert und aus dem Ausland investiert wird, bei weitem nicht. Die Ökonomie, von der die Nation lebt, ist überwiegend das Werk der Staatsmacht. Sie besteht zu einem erheblichen Teil aus Tourismuseinrichtungen, Ölvorkommen und dem Suez-Kanal, deren Einnahmen der Staat kassiert. Sie besteht des Weiteren zum großen Teil aus Unternehmen, die von staatlichen Agenturen – nicht zuletzt von der Armee – bzw. deren Schützlingen betrieben werden.

Diese Wirtschaft hängt ab von den Mitteln, die die Regierung zu beschaffen und einzusetzen vermag. Eine umfassende, kapitalistisch produktive Ausbeutung des Volkes kommt dadurch nicht zustande. Deswegen ist für die große Masse ihr pures Existenzminimum davon abhängig, dass die Regierung für die vielen Armen ein Unterstützungswesen organisiert. Was an nationalem Reichtum zustande kommt, reicht auch nicht dafür aus, dass die besseren Stände ihn standesgemäß in freier Konkurrenz abgreifen; er wird von der Funktionärsclique verteilt und verzehrt.

Dieser Herrschaftsapparat zieht verständlicherweise viel Unzufriedenheit auf sich, weil er den Mangel organisiert. Und er zieht logischerweise alle Unzufriedenheit im Volk auf sich, weil er als die alleinzuständige Verteilungsinstanz fungiert. Deswegen können Staat und Staatspartei auch – anders als in einer gefestigten Demokratie – mit der massenhaften Unzufriedenheit nichts Positives anfangen. Schon der Wunsch im Volk nach durchgreifender Besserung der Verhältnisse bedeutet eine Kampfansage an das etablierte Zuteilungssystem. Deswegen sorgen jede Menge offizielle und geheime Polizei für die Niederschlagung jedes Protests von unten. Soweit aus der Unzufriedenheit in Selbsthilfe der Betroffenen etwas Konstruktives folgt, nämlich ein paralleles Versorgungswesen durch die islamische Religionsgemeinschaft mit ihrer eigenen klerikalen Hierarchie, passt die Obrigkeit rigide darauf auf, dass hier wirklich bloß Versorgungsleistungen und moralische Aufrüstung passieren. So etwas lässt sie gerne von ihren Muslimbrüdern erbringen, aber ein rivalisierender Apparat, der seine eigenen Abhängigkeiten und Loyalitäten erzeugt und die herrschende Zuteilungswirtschaft in Frage stellt, wird nicht geduldet: Solche potenziellen Konkurrenzführer sperrt man weg oder bringt sie gleich um, während die fromme Gemeinde die guten Werke zur Elendsbetreuung weiter verrichten darf. Die Geheimpolizei achtet bei ihnen, aber natürlich auch sonst im Volk darauf, dass sich die unter den Massen verbreitete islamische Sittlichkeit keinesfalls als Gegenprogramm zu den im Land herrschenden politischen Sitten aufstellt.

Das hat sich eine relevante Minderheit empörter Ägypter nicht mehr gefallen lassen.

Ihr Beweggrund ist eine tief sitzende Unzufriedenheit nicht bloß mit der vom Präsidenten befehligten Bürokratie, die den Leuten ihre – durchaus unterschiedlichen – Lebensverhältnisse zuteilt; auch nicht allein mit der Tour, wie die Staatsgewalt dabei zu Werke geht. Sie stehen auf gegen die großenteils armseligen Existenzbedingungen, die ihnen aufgeherrscht werden und die in so schreiendem Gegensatz zum Reichtum stehen, der den Ägyptern im Fernsehen ausgemalt, in Form unerschwinglicher Konsumgüter vor die Nase gesetzt, vielen auch übers Handy und Internet nahe gebracht wird. Zum Gegenstand ihrer Proteste macht die Bewegung aber nicht wirklich diese Lebensbedingungen, sondern deren ungerechte Verteilung, die dabei waltende Beziehungs- und Bestechungswirtschaft, die Härte des obrigkeitlichen Zuschlagens gegen zu laute Kritik sowie das dafür verantwortliche Personal. Sie richtet sich also nicht gegen den Mangel und dessen Gründe, sondern gegen die Art und Weise seiner Verwaltung. Der Änderungswille der Demonstranten ist radikal; sie wollen die Übel ihres Daseins an der Wurzel packen. Doch als Grund allen materiellen und sozialen Elends identifizieren sie dann doch nicht das System des mit viel Gewalt verabreichten ägyptischen Drittwelt-Kapitalismus und den darin programmierten Mangel an bitter benötigten Erwerbsquellen, sondern die zu diesem System gehörigen Formen, in denen dem Volk seine staatskapitalistische Mangelexistenz verabreicht wird. Und je größer und gerechter die Empörung, gespeist durch die Gemeinheiten des polizeilichen Draufhauens, desto entschiedener richtet sie sich gegen Mubarak und dessen Schergen.

Der ägyptische Aufruhr ist gewaltig genug, um die Machtfrage zu stellen, will sagen: die Macht der Staatspartei, der Staatsgewalt und der herrschenden Familien in Frage zu stellen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die: Die ganze Herrschaftskritik gelangt nur bis zur polemischen Unterscheidung zwischen der schlechten Herrschaft und einer guten, die an deren Stelle treten soll. Und deswegen langt der ganze Aufruhr auch praktisch zu weiter nichts als einem Appell von unten an eine oberste Instanz, die über dem Gegensatz steht und dem Volk gegen seine schlechte Herrschaft zu seinem Recht verhelfen soll. Als solcher Garant der wahren Einheit von Volk und Führung kommt für die Aufständischen nur die Armee in Frage. Diese tragende Säule des verhassten Systems ist für sie die einzige Institution, die sich bei Korruption und Unterdrückung nicht die Hände schmutzig gemacht hat, und sich für die Rolle des machtvollen Subjekts anbietet, bei dem das bessere Ägypten gut aufgehoben ist.

Und da hat die Bewegung Glück: Ihre blauäugige Spekulation, die Militärmacht des Staates ließe sich einfach so von den Machenschaften ihres obersten Befehlshabers und den Resten seines Gewaltapparats abtrennen und auch noch als Hebel verwenden, um den Herrscher aus seinem Amt zu jagen, geht auf. Das vom Volk zur definitiven Klärung der Machtfrage auserkorene Militär übernimmt tatsächlich die Rolle des überparteilichen, allein um das Gesamtwohl der Nation besorgten Streitschlichters. Gewiss nicht deswegen, weil es den Generälen wesensfremd wäre, „auf das eigene Volk zu schießen“. Dies halten sie für unangebracht seit der Volksaufstand eindeutig zu erkennen gibt, dass er die Gestaltung der künftigen Staatsordnung dem Militär anvertrauen will. Dazu kommt, dass die Führungsmacht des Westens ihren Mubarak fallen lässt und dem Militär den geordneten Übergang zu neuen, stabilen Verhältnissen im Land zutraut. Also retten die Kommissköpfe die Einheit der Nation. Der Rat des Militärs opfert die Figuren, an denen sich die Entzweiung zwischen Volk und Führung festmacht, und übernimmt selbst die Macht im Staat, freilich nur vorübergehend. Der Putsch soll auftragsgemäß dem übergeordneten Zweck dienen, den „Übergang zu demokratischen Verhältnissen“ auf den Weg zu bringen. Das soll Ägypten Verkehrsformen im Umgang des Staats mit seinem Volk bringen, in denen letzteres sich nicht unterdrückt, endlich gerecht behandelt und daher auch gut beheimatet fühlt: Die Militärs geben eine Reform der Verfassung in Auftrag, die in Zukunft die Rechtsformen garantieren soll, in denen sich die Interessen des Volkes zu Wort melden dürfen, und erklären damit den Grund aller Proteste für erledigt – und die Demonstranten feiern auf ihrem Tahrir-Platz, als sei dies alles ihr Sieg.