GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Lehren aus der Krise (I):
Wenn es so selbstverständlich ist, dass jede Krise auf Kosten der Lohnarbeiter geht – wozu dann das Gejammer?

Krisen hat die freie Marktwirtschaft schon etliche durchgemacht und jedes Mal herrschte große Aufregung – danach wurde dann so weitergemacht wie zuvor. Diesmal behaupten die verantwortlichen Politiker und die kritischen Kommentatoren, sie hätten sogar "in den Abgrund geschaut". Mit "Abgrund" ist gemeint, dass es einen Moment lang so aussah, als ob sogar das Allerheiligste dieser Wirtschaftsordnung, das Geld, den Bach hinuntergehen könnte. Und was soll man daraus lernen? Dass unbedingt wieder die Normalität einkehren muss - nix wie weg vom Abgrund! Dass also das gewöhnliche marktwirtschaftliche Geschäftsleben, für die das Geld Dreh- und Angelpunkt ist und das in die Krise geführt hat, wieder voll in Gang kommt. So gesehen steht ein Krisenprofiteur also fest: Der Kapitalismusder soll wieder funktionieren wie gehabt. Wer vorher als Betroffener des gewöhnlichen Gangs des Geschäftslebens einige Unzufriedenheit verspürt hat, weil das Geld am Monatsende notorisch nicht reichen will oder mit der nächsten Kündigungswelle gerechnet werden muss, der darf dies angesichts viel größerer Krisenschäden vergessen und sich nach dem "Vorher" zurücksehnen.

Natürlich: "So etwas darf uns nicht noch mal passieren". Wie in jeder Krise werden Schuldige ausgemacht, und diesmal hat man sich auf die "Bankster" mit ihrer "Gier" geeinigt. Das ist praktisch, denn da kann der Staat mit allerlei Auflagen und Gesetzen machtvoll zur Tat schreiten, er kann Boni und Gehälter begrenzen und härtere Vorschriften in Sachen "Risiko" erlassen – und eins ist damit auf jeden Fall erreicht: Der gute Glaube an die eigentlich wohltätigen und volkswirtschaftlich so unverzichtbaren Wirkungen des Bankgeschäfts darf sich gestärkt fühlen, wenn nur die "schwarzen Schafe" ordentlich eins auf die Nase kriegen. An der nächsten Krise ist dann jemand oder etwas anderes schuld. Da hat die "Klimakatastrophe" gute Aussichten…

Für jede Krisenbewältigung gilt: Sie will – mit viel propagandistischem aber auch gesetzgeberischem Aufwand – die Krise als Ausnahme von der Regel verstanden wissen, was umgekehrt der Regel das allerbeste Zeugnis ausstellt. Dagegen treiben wie einmal den Aufwand zu zeigen, was man aus der Ausnahme über die Regel lernen kann – wenn man sich mal nicht bloß wünscht, dass das Krisenunglück wieder aufhört.

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Um gleich – Lehre Nr.1 – mit der Hauptsache anzufangen. Die große Masse der Leute hat im System der Marktwirtschaft nur die eine Chance, sich einen Lebensunterhalt zu verschaffen: Ein Arbeitgeber muss her, dem man sich, seine Arbeitskraft - sonst hat man ja nichts - gegen ein Entgelt andienen kann. In der Krise machen noch deutlich mehr Menschen als sonst die Erfahrung, und der Rest kriegt es auch hautnah mit, was für eine unsichere Sache so ein Lebensunterhalt ist. Eine Krise stellt in dieser Hinsicht allerdings keine Besonderheit dar, unsicher ist eine solche Existenz immer: Geld kriegt man ja nicht, weil man es braucht, sondern nur, wenn ein Arbeitgeber eine solche Ausgabe für lohnend erachtet – für den Profit der Firma. Öffentliche Arbeitgeber rechnen auch nicht anders. Der Profit – ohne den geht nichts und von dem hängt alles ab. Darum gilt im Kapitalismus eine Art Naturgesetz: Der Lohn muss niedrig sein, die dafür zu erbringende Leistung ist ständig zu steigern. Alle Arbeitsplätze stehen unter diesem Diktat – und eben deswegen ist nicht gewährleistet, dass sie sich rentieren. Jeder Unternehmer sieht zu, dass seine Arbeitsplätze noch rentabler sind als die der Konkurrenten. Darum verlangt er jedem Arbeitsplatz Tag für Tag den Rentabilitätsnachweis ab – und darum fallen ständig Arbeitsplätze durch das Raster. Streng nach kapitalistischer Logik muss das Geld, das sich nicht länger rentabel verwerten lässt, eingespart werden, damit also der Mensch, dessen Einkommen davon abhängt.

Irgendwie weiß jeder, dass der Laden so läuft, und er rechnet auch damit. Aber dann passiert mit fataler Regelmäßigkeit was Merkwürdiges: Wenn, wie derzeit, die Entlassungen sich häufen, Neueinstellungen unterbleiben, auch Lohnverzicht und Mehrarbeit im Rahmen von "Beschäftigungssicherungsverträgen" nicht mehr helfen und die hart verdiente "bürgerliche Existenz" kaputt geht, dann ist doch wieder fast jeder überrascht und erschrocken und es gibt ein großes öffentliches Lamento. Da wird offenkundig: Die Menschheit ist einerseits ständig bemüht, sich an die "Realitäten" – die, wie es so heißt, "nun mal so sind" – anzupassen, natürlich nur, um für sich das Beste daraus zu machen – und in ihrer ganzen Realitätstüchtigkeit glaubt diese Menschheit andererseits nicht wirklich, nimmt es jedenfalls nicht richtig ernst, was eigentlich ein jeder merkt und weiß: Einen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit gibt es tatsächlich nur, solange die Berechnungen des Arbeitgebers aufgehen. Man klammert sich an das "solange", als gäbe es wirklich das "eine Boot", in dem die Firma und ihre Dienstkräfte gemeinsam drinsitzen. Solange man Arbeit hat, will man einfach nicht wahrhaben, dass es Geld für Arbeit nur deswegen gibt, weil und damit das Unternehmen mit der Benutzung dieser Arbeit selber Geld verdient. Man will nicht wahrhaben, dass die eine Chance, die die übergroße Mehrheit hat, nämlich durch Lohnarbeit das Lebensnotwendige zu erwerben, in der Marktwirtschaft kein Zweck ist, sondern ein für allemal bloß Mittel – für die Zwecke des Arbeitgebers.

Wenn jetzt wieder das allgemeine Gejammer losgeht über "verlorene Arbeitsplätze" und die "schweren Einzelschicksale", die "dahinter stehen", hat das den einen Nährwert: Damit wird die Lebenslüge bekräftigt, mit der sich der realitätstüchtige Mensch, der aus allem das Beste für sich macht, durchs Leben schlägt: Irgendwie und letztlich müsste es im marktwirtschaftlichen System doch, wenigstens auch, um die Lohnabhängigen gehen und darum, dass die sich den Lohn, von dem sie abhängen, auch verdienen können. Dabei ist die Lektion eindeutig: Krise ist nicht, wenn die Leute in der Krise sind, wenn ein Großteil der abhängig Beschäftigten in Existenznot gerät und der Rest sich seines Einkommens auch nicht mehr sicher sein kann – Krise ist, wenn das Gewinnemachen nicht mehr klappt. Dann werden Existenzen massenhaft geopfert, weil sie im marktwirtschaftlichen System ohnehin keine andere ökonomische Existenzberechtigung haben als durch den Nutzen, den ein Unternehmen aus dem Gebrauch ihrer Arbeit herausholt. In der Krise wird das noch nicht einmal beschönigt; aber einfach so gelten lassen will die Klarstellung auch niemand.

Am allerwenigsten ausgerechnet die gewerkschaftliche Arbeitnehmervertretung. Die weiß mit schlafwandlerischer Sicherheit, dass es nur eine Abhilfe gibt: Das Gewinnemachen muss – wieder – funktionieren. Als Vertretung der "lohnabhängig Beschäftigten" hat sie dafür das und nur das eine Angebot auf Lager, wie die gewinnträchtige Ausnutzung von Lohnabhängigen wieder in Schwung kommen und die massenhafte Kündigung von Arbeitskräften in Grenzen gehalten werden könnte: noch mehr Lohnverzicht, noch mehr unbezahlte Arbeit, noch mehr Opfer an freier Zeit – und keiner merkt, sie selbst schon gleich nicht, dass ihre Offerte nur bestätigt, was niemand wahrhaben will: Die Geschäftsinteressen der Arbeitgeber, in der Krise ultimativ zugespitzt, stehen zu den Existenznotwendigkeiten und Sicherheitsbedürfnissen der Arbeitnehmer in einem unversöhnlichen Gegensatz. Die spezielle Lebenslüge der Gewerkschaft ist es aber, es ließe sich mit ihrem Angebot dieser unversöhnliche Gegensatz trotz allem versöhnlich gestalten – ganz zu Lasten der Lohnabhängigen. Und nicht einmal damit kann sie landen: Die Krise durchkreuzt noch die letzte Hoffnung auf Vereinbarkeit der Notwendigkeiten eines Gelderwerbs mit den Gesetzen marktgerechten Wirtschaftens. Natürlich verlangt eine Firma Lohnverzicht und Mehrarbeit ihrer Belegschaft, wenn sie in Schwierigkeiten kommt; sie nimmt entsprechende Angebote gerne wahr. Aber damit werden schon in normalen Zeiten keine "Arbeitsplätze geschaffen", sondern Kosten gesenkt und Arbeitskräfte überflüssig gemacht. Und wenn das Gewinnemachen allgemein stockt, dann werden Verdienste und Verdienstmöglichkeiten zusammengestrichen – freiwillige bzw. von der Gewerkschaft angeleitete Verelendung "rettet" da gar nichts.