GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Die Öffentlichkeit bespricht die Finanzkrise (Teil 4)

1.
Für Heribert Prantl von der "Süddeutschen" ist die Finanzkrise Anlass für eine Art moralischer Genugtuung. Sie ist für ihn der Beweis, dass der Kapitalismus auf einen moralischen Irrweg geraten ist:

"Die Form des Kapitalismus, die man ‚Turbo-Kapitalismus‘ genannt hat, widerlegt, zerlegt und besiegt sich gerade selbst. Der Turbo war die Gier. Die Gierlehre, die eine Irrlehre war, behauptete, dass die gigantische Geldakkumulation an der Spitze nicht nur den Leuten an der Spitze, sondern, im Wege des Durchsickerns, auch den Armen helfe und so für Gerechtigkeit sorge. Die Theorie blieb aber Theorie. Die Praxis zeigt sich jetzt: Der Turbokapitalismus frisst seine Kinder, seine Künder und seine Derivate."

Gegen den Kapitalismus selbst will er damit nichts gesagt haben, aber – das sagt schon die Überschrift: "Die kapitale Läuterung" – er bedarf dringend einer Läuterung bzw. durchläuft sie gerade. Im Grunde ist der Kapitalismus gut, dann nämlich, wenn er ‚Soziale Marktwirtschaft‘ heißt, die aber ist durch den "Turbo" geschändet worden: Wir haben es mit einem unanständigen Exzess einer eigentlich wunderbaren Einrichtung zu tun. Da kann es gar nicht ausbleiben, dass ein Strafgericht über die Sünder hereinbricht und die Sünder zurück auf den rechten Weg führt: "Die Welt erlebt derzeit ein Fegefeuer des Kapitalismus". Im Weltbild des Heribert Prantl ist der Kapitalismus nun einmal fest mit dem Ideal sozialer Wohltätigkeit verknüpft, also ist für ihn ausgemacht: Weil die Verhältnisse der letzten Jahre für ihn unanständige Exzesse und fatale Irrtümer waren, mussten sie in die Krise geraten und scheitern! So verschafft die Krise in seinen Augen der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit ein schlagendes Argument und damit seinem Ideal eines besseren Kapitalismus eine wundervolle Perspektive. Aufgrund ihres Misserfolgs werden die Veranstalter des realen Geschäfts nicht darum herumkommen, ihre Exzesse und Irrtümer einzugestehen und abzustellen. Die wundervolle Perspektive besteht dann z. B. darin, dass die Sünder ihr Versprechen einlösen und dass von ihrem gigantischen Reichtum "auf dem Wege des Durchsickerns" auch was bei den Armen ankommt und so für Gerechtigkeit gesorgt ist. So bleiben die Armen zwar die Armen und die Reichen die Reichen, aber mehr will die Gerechtigkeit ja auch nicht: Irgendwie verträglicher soll das Ganze halt sein. Ein Vorbild kann man sich dabei nehmen an einer Läuterung, wie sie immerhin schon mal der Staat hingekriegt hat:

"Manche vergleichen den nackten Kapitalismus mit einem Krieg, einem Krieg gegen Arbeitsplätze unter anderem. Wenn man bei diesem Vergleich bleiben will: Die Weltgemeinschaft hat es zwar nicht vermocht, den Krieg abzuschaffen – aber immerhin, ihn einzuhegen, Regeln dafür aufzustellen, was im Krieg erlaubt ist und was nicht. Das muss auch für den Kapitalismus gelingen."

Das ist unverwüstlicher Humanismus – noch in den größten Brutalitäten staatlichen Wirkens entdeckt man zivilisatorische Fortschritte! Ein gelungenes Angebot an die neoliberalen Kollegen: Ihr müsst euren ‚Krieg gegen die Proleten‘ noch nicht mal aufgeben, ihr müsst ihn nur ein wenig beschränken, dann geht er auch schon in Ordnung und ist obendrein noch viel erfolgreicher als euer gescheitertes Turbo-Modell, wie schon bewiesen:

"Es gibt ihn schon, in kleinem Format, man kann seinen Erfolg studieren – er heißt soziale Marktwirtschaft. Die soziale Marktwirtschaft ist die erfolgreichste Wirtschafts- und Sozialordnung, die es in der Wirtschaftsgeschichte je gegeben hat. Sie ist nicht Kapitalismus pur. Sie ist der erfolgreiche Versuch, Wettbewerb und soziale Gerechtigkeit auf einen Nenner zu bringen."

Das ist doch mal eine schöne Werbung für soziale Gerechtigkeit: Mit etwas mehr Berücksichtigung seiner sozialen Opfer wird unser Spitzensystem auch noch krisenfest!

2.
Wie steht es nun um die Läuterung der großen Bankenbosse? Ein erster Schritt zur Besserung wäre die Annahme des staatlichen ‚Rettungspakets‘. Bild redet den Bankern ins Gewissen:

"Kaum zu glauben, dass plötzlich viele Geldhäuser die staatlichen Hilfen angeblich nicht in Anspruch nehmen wollen. Auf dieses staatliche Hilfsangebot zu verzichten ist kein Zeichen von Stärke, sondern ein Zeichen von Überheblichkeit und vielleicht sogar von Gier. Denn möglicherweise geht die Aktie einer Bank, die Staatshilfe will, deutlich ins Minus – und damit auch der Bonus des Vorstands." Jetzt aber "sollte jeder verantwortungsvolle Bankchef sorgfältig prüfen, ob die Milliardenhilfen und Garantien in Anspruch genommen werden können."

Schon nett: Die Öffentlichkeit drängt die Banken, neulich noch der hemmungslosen Geldgier bezichtigt, im Verein mit der Politik, gefälligst die vom Staat angebotenen Milliarden anzunehmen, und entdeckt die Gier nun darin, dass Banker mit dem Angebot ihre eigenen Berechnungen anstellen und es nach Möglichkeit vermeiden. Da ist schon wieder pure private Bereicherungssucht von Bankern statt Verantwortung für das Bankgeschäft am Werk.

Beim Chef der Deutschen Bank Ackermann scheint es mit der Läuterung nicht so recht zu klappen. Er gibt sich stark: "Ich würde mich schämen, wenn wir in der Krise Staatsgeld annehmen würden." Damit redet er die Konkurrenten, die das Staatsangebot in Anspruch nehmen wollen und müssen, gründlich schlecht. Zugleich demonstriert so seine Entschlossenheit, die Krise als Gewinner zu überstehen. Die Banker stehen nämlich überhaupt nicht auf dem Standpunkt einer nationalen Rettung, den die Öffentlichkeit ihnen anträgt. Die aber lässt sich von ihrem Standpunkt nicht abbringen.

"Das sind völlig neue Töne. Hält das Gesetz des Stärkeren Einzug in die privat organisierten Banken?",

entrüstet sich die SZ. Das sollen ‚neue Töne‘ sein, dazu noch ‚völlig‘ neue? Irgendwie scheint dem Kommentator in seiner Entrüstung zwischenzeitlich der Bezug zur Realität verloren gegangen zu sein. Weil er sich einbildet, es ginge nun um gemeinschaftliche Bewältigung der ‚Katastrophe‘, blendet er einfach aus, dass die Banken immer in Konkurrenz zueinander stehen, dass die Krise also nicht das Ende der Bankenkonkurrenz ist: Vielmehr ist der Kampf um Krisengewinne und Schadensverteilung in vollem Gange. Erbittert klagt die SZ an, dass der Vorstand einer nationalen Bank mit der ihm durch die Größe seines Finanzgeschäft zugewachsenen ökonomischen Macht im Rücken so wenig national ‚verantwortlich‘ denkt:

"Wer sich schämen muss? Josef Ackermann gefährdet den Erfolg des Rettungsfonds... Die Finanzkrise so mitverursacht zu haben, wäre ein Anlass, sich zu schämen – nicht eine Inanspruchnahme staatlicher Hilfe."

Derselbe Mann, der uns und die Weltwirtschaft in verantwortlicher Position mit an den Rand des Abgrundes geführt hat, stößt uns mit seiner destruktiven Haltung jetzt möglicherweise noch ganz hinein! Er sollte sich also schämen für seine Verantwortungslosigkeit und damit für einen moralischen Neustart im deutschen Bankgewerbe sorgen! Dann stünde dem Erfolg des Rettungsfonds nichts mehr im Wege – außer natürlich die unberechenbare Bankenkrise...

3.
Aus der so genannten "Realwirtschaft" kommen schlechte Nachrichten. Daimler und VW melden Absatz- und Gewinneinbrüche, kündigen Zwangsurlaub und Entlassungen von Leiharbeitern sowie Verzicht auf Sonder- und Wochenendschichten an: "Automobilindustrie in der Krise". Die "Frankfurter Allgemeine" begibt sich vor Ort und schaut nach:

"Daimler-Chef Dieter Zetsche versucht, seiner Mannschaft Mut zu machen. Das ist vielleicht die wichtigste Botschaft für die Mitarbeiter wie auch die Aktionäre des Stuttgarter Autoherstellers an diesem Tag: dass dem unter seinem markanten Walrossbart ewig freundlich wirkenden Daimler-Vorstandschef das Lachen offenbar noch nicht ganz vergangen ist. Zugleich mit den Finanzmärkten informiert er auch die Mitarbeiter – und fordert von ihnen, was er selbst am besten verkörpert: Kampfgeist und Durchhaltevermögen."

Da spricht nicht ein zwielichtiger Finanzer, sondern ein vorbildlicher Betriebsführer von der ehrlichen Ausbeutungsfront, und er steht den Betroffenen in schwerer Stunde zur Seite. Betroffen sind natürlich die "Finanzmärkte": Sie müssen informiert werden, damit sie eine Ahnung haben, mit welchen Profiten oder Profitausfällen von Daimler sie in Zukunft kalkulieren können. Betroffen sind auch die, die für die Erzeugung bzw. Rettung der Profite mobil gemacht werden: Ihr Beitrag besteht zunächst einmal darin, dass jede Menge Leiharbeiter unter ihnen entlassen werden und die Stammbelegschaft in Zwangsurlaub geschickt wird. Das Kapital führt vor, wie mobil und einsatzfähig moderne Belegschaften sind, wenn es gilt, sich der Krisenkonkurrenz durch Kosteneinsparungen in Gestalt von Produktionsanpassungen, Personalabbau und flexiblem Arbeitseinsatz zu stellen. Die atmende Fabrik beginnt, kräftig auszuatmen und zeigt, was an Potenzen für die Steigerung der Rentabilität in ihr steckt, die es braucht, um sich auf schrumpfenden Märkten zu behaupten: Hire and fire auf Deutsch und völlig freie Verfügung der Arbeitsanwender über ihre Arbeitskräfte. Dass diese vom Verkauf ihrer Arbeitskraft auch noch leben müssen, zählt nicht. Dafür appelliert Zetsche an deren "Kampfgeist" und an ihr "Durchhaltevermögen". Die entlassenen Leiharbeiter und die Zwangsurlauber dürfen ihm für den Appell an ihre Belegschaftstugenden danken. Sie werden den "Kampfgeist" noch brauchen – für den Krisenkonkurrenz-Kampf, den Zetsche mit ihnen gegen die Konkurrenten von Daimler gewinnen will – und das "Durchhaltevermögen" – dafür, dass sie mal weniger, mal mehr Arbeitszeit abzuleisten haben, aber mit immer weniger Lohn auskommen müssen…