GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Die demokratische Öffentlichkeit bespricht die Krise (Teil 1)

Seit Mitte September ist klar, dass die Finanzkrise ist nicht bloß ein "amerikanisches Phänomen" bleibt: Sie kommt auch hier mit voller Wucht an. Es meldet sich Nikolaus Piper von der Wirtschaftsredaktion der SZ (18.9.):

"Der Kapitalismus lebt"!

"Milliardenvermögen wurden vernichtet, eine Weltrezession kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Die Kreditkrise hat sich erneut dramatisch verschärft… Sie ist aber, historisch betrachtet, keine beispiellose Krise, und schon gar nicht das Ende des Kapitalismus."

Obwohl das niemals irgendjemand behauptet hat, drängt es den Abteilungsleiter ‚Wirtschaft‘ zu diesem Dementi: ein frohgemutes Lebenszeichen vom unverwüstlichen System Kapitalismus! Das Geld geht dahin, die Welt droht, erstmals seit fast 80 Jahren wieder in eine allgemeine Rezession abzugleiten, "aber", so der journalistische Ordnungsruf: Halb so wild! Alles schon mal da gewesen! "Unser" bekanntlich bestes aller menschenmöglichen System lebt!

Ein eigenartiges Dementi der Brisanz der Krisenlage weltweit: Immerhin sind die historischen Krisen"beispiele" – die legendäre Weltwirtschaftskrise von 1929 wird da immer mehr zitiert – ja auch alles andere als ermutigend. Was nagt denn da an Herrn Piper, dass er meint, so beschwichtigen zu müssen? Sehr einfach: Er weiß selbst allzu genau, dass in freiheitlichen Gemeinwesen üblicherweise der Misserfolg am meisten gegen die erfolglose Sache spricht. Herr Piper ist ja bestens vertraut mit dieser Sorte ‚Logik‘ – schließlich hat er jahraus, jahrein seinem Publikum die fraglose Überlegenheit des Kapitalismus vorgebetet, abgeleitet aus dessen unschlagbarer Effizienz und unwiderstehlichem Erfolg in Geschäftsdingen. Der Erfolg ist jetzt dahin, und insofern besteht für Herrn Piper offenbar ein gewisser Erklärungs- und Einordnungsbedarf beim deutschen Publikum, der sofort von berufener Seite gestillt werden muss: Diese Krise ist keine des Systems, Systemkritik wäre also völlig fehl am Platz! Beim demokratischen Kapitalismus spricht der Misserfolg nicht gegen die Sache, sondern er ist Ausweis von Versäumnissen, und die sind woanders passiert, vor allem in den USA. Hauptsächlich den dort gemachten Fehlern haben wir die Einbrüche überhaupt zu verdanken. Die SZ:

"Krisen brechen immer dann aus, wenn Geld zu billig ist. Genau dies ist zu Beginn dieses Jahrzehnts geschehen... Viel billiges Geld löst Euphorie aus, der nach einiger Zeit unweigerlich die Depression folgt."

Dafür muss man schon studiert haben, um zu erkennen, wie einfach das ist: Wenn’s bergauf geht, geht’s auch wieder bergab, nach Euphorie ist immer Katerstimmung, Amerika musste einfach in die Krise kommen, weiß jetzt auf einmal der sachverständige Piper von der Süddeutschen:

"Mit dem Terminus ‚billiges Geld‘ lässt sich auch die Krise Amerikas umschreiben. Seit gut vier Jahrzehnten lebt die größte Volkswirtschaft der Welt über ihre Verhältnisse. Die Amerikaner konsumieren zu viel und sparen zu wenig. Das äußert sich in den Defiziten von Staatshaushalt und Leistungsbilanz, aber auch in den Budgets von Durchschnittsfamilien. Die können ihren Lebensstandard oft nur mit teuren Krediten wahren. Der letzte Exzess dieser Kreditkultur war der Boom zweitklassiger Hauskredite (‚Subprime Loans‘), dessen Ende im vergangenen Jahr die Krise ausgelöst hat."

Wie das nur geht: 40 Jahre lang über seine Verhältnisse leben!? Aber klar, für einen promovierten deutschen Ökonomen addieren sich halt der größte Staatshaushalt der Welt, eine gewaltige Leistungsbilanz, Konsumentenkredite von Normalverdienern und das US-Hypothekenwesen zu einem einzigen gewaltigen Fehler in der amerikanischen Volkswirtschaft zusammen: die Amis verbrauchen mehr als sie produzieren, und das schon seit 40 Jahre! Kein Wunder, wenn dann die notwendige "Depression" ein bisschen tiefer ausfällt! Schon komisch, wie "wir" Deutschen uns von diesen unsoliden Amerikanern auch noch genauso lang vormachen ließen, sie seien die überlegene, den Kapitalismus am erfolgreichsten exerzierende Nation!

*

Die Finanzkrise klärt dass breite Publikum schonungslos darüber auf, dass die Ersparnisse des ‚kleinen Mannes‘ im Kreislauf des Finanzkapitals zirkulieren und Material sind für dessen – jetzt in Turbulenzen geratene – Manöver. Das hält in Expertenkreisen niemand für einen Skandal. Stattdessen stehen die Zeitungen voll mit Tipps, wie man das eigene Geld, das mit sich zusammengespart und in der Hoffnung auf Vermehrung angelegt hat, über die Krise retten kann. Das deutsche Volk von Sparern und Kleinanlegern wird also nicht mit seinen Sorgen allein gelassen. Die Ratgeber von der Presse nehmen die deutschen Bürger an der Hand und begleiten sie durch die große Welt des Finanzkapitals, auf der Suche nach Antworten auf die Frage

"Ist das Geld der Sparer noch sicher?"

"Die 25 wichtigsten Fragen und Antworten für Anleger und Arbeitnehmer" stehen in der SZ (17.9.).

So lesen wir in Frage und Antwort Nr. 4:

"Sind auch deutsche Banken vom Konkurs bedroht? Genau weiß das keiner. Immerhin IKB …" usw. usf. Atem anhalten – "wir" Deutsche sind betroffen, da hilft alles nichts. Also Frage und Antwort Nr. 5:

"Was passiert, wenn eine deutsche Privatbank pleite gehen sollte? Dann greift der Einlagensicherungsfonds des Bankenverbandes. Ihm gehören die großen Bankhäuser sowie viele kleinere Institute an. … Jedenfalls: Bei der Dresdner Bank z. B. sind konkret Spareinlagen bis zu 2,8 Milliarden Euro geschützt, und zwar pro Kunde!"

Na also, kein Grund zur Panik, als deutscher Sparer kann man aufatmen und sich beruhigt zurücklehnen! 2,8 Mrd. pro Kunde, eine Spitzenversicherung, das dürfte in jedem Falle reichen. Wir dürfen also getrost den Banken weiterhin unser Vertrauen schenken, vor allem den Sparkassen, Genossenschaftsbanken, bei denen "unser" Geld sogar noch sicherer sein soll. Bleibt bloß noch Frage 8:

"Wann geht dem Einlagensicherungsfonds das Geld aus? Eine Frage, vor der die ganze Branche zittert – und deshalb keine Antwort gibt."

Wie bitte? Wieso "zittert"? 2,8 Mrd. pro Kunde, das muss doch reichen! Also weiter:

"Unbestritten ist, dass die Sicherungssysteme ausreichen, um Pleiten von kleineren und mittleren Banken aufzufangen. Was passiert aber bei einer Pleitewelle? Bundesfinanzminister Steinbrück soll einmal erklärt haben, die gesamten Sicherungseinlagen aller Institute beliefen sich auf nur 4,6 Milliarden Euro… Branchenkenner raunen, die IKB wurde nur deshalb gerettet, weil die Einlagensicherung an ihre Grenzen gestoßen wäre."

Aha, der Sicherungsfonds darf in so gut wie keinem Falle in Anspruch genommen werden, sonst reicht er nämlich nicht! Wenn alle auf die Bank rennen, nützt das also gar nichts, das Geld ist eh nicht da! So bleiben wir ruhig, behalten unser Gottvertrauen in Banken und Politiker, dass sie alles Mögliche für unser Geld tun, so hat man als deutscher Sparer die Lage am besten im Griff!

Und dann platzt mitten in die Krise hinein tatsächlich noch eine Tarifrunde – und das, obwohl den Banken weltweit das Geld ausgeht!

"IG Metall beharrt auf acht Prozent mehr Lohn", titelt die SZ (24.9.) schon im Nachrichtenteil, um das Kopfschütteln des Lesers hervorzurufen. Ein kleines "trotz" unterstreicht den Irrsinn, der da unterwegs sein soll:

"Trotz der weltweiten Finanzmarktkrise geht die IG Metall mit der Forderung nach acht Prozent mehr Lohn in die Tarifrunde."

Trotz der Krise des Kapitals stampft die Gewerkschaft ihre Lohnforderung nicht ein! Da können nur Hasardeure am Werk sein. Die ausführliche Fassung dieser Botschaft folgt noch mal extra im Leitkommentar drei Seiten weiter. Der heißt

"Die Tarif-Spekulanten",

womit die IG Metall und ihr Vorsitzender gemeint sind:

"Sie spekulieren. Sie spekulieren darauf, dass es mit der Konjunktur doch nicht so sehr bergab geht, wie die eigenen Experten vermuten. Sie spekulieren darauf, dass sie in der Metallindustrie imstande sind, jede Forderung in weiten Teilen auch durchzusetzen – in der Branche sind schätzungsweise vier von zehn Beschäftigten bei der Gewerkschaft organisiert... Vielleicht weiß Huber ja, dass sein Acht-Prozent-Kurs langfristig gefährlich ist. Aber erst mal geht es ihm wie jedem Finanzhai: Er braucht den kurzfristigen Erfolg."

Sehr originell. Wenn "Spekulant!" das aktuelle Schimpfwort ist, mit dem die nationale Pflichtvergessenheit von "gierigen Finanzzockern" angeprangert wird, dann wenden wir es doch mal auf die Gewerkschaft an und fertig ist die Denunziation. Die Unterstellung, von der sie lebt, braucht man so gar nicht mehr aussprechen: Wenn Wirtschaft und Finanzen Not leiden, dann hat die Gewerkschaft ihre (eh überzogene!) Lohnforderung zu revidieren! Und das den Arbeitern klar zu machen, falls die nicht von selbst darauf kommen.

Nicht ganz 2 Monate später ist dann klar: Die Finanzkrise ist auch bei der Gewerkschaft angekommen. Ihr Einstiegsargument in die Tarifrunde, die hohen Gewinne der Branche während des letzten Jahres würden auch eine etwas höhere Lohnforderung rechtfertigen, zieht sie zurück und gibt sich mit – allseits gelobten – schöngerechneten 4,2 Prozent zufrieden. Die Arbeitgeber tun pflichtschuldig so, als hätten sie mächtig über ihren eigenen Schatten springen müssen, gucken ansonsten aber ganz zufrieden in die laufenden Fernsehkameras. Ihr Argument hat nämlich mal wieder gestochen: Es mag ja sein, dass die Gewinne hoch waren, "in diesen schweren Zeiten" sei es aber von großer Wichtigkeit, dass ihre Gewinne im nächsten Jahr auch hoch sind, eher noch höher, weil sie sonst die "Folgen der Finanzkrise" nicht verdauen können. Wenn schon selbstverständlich ist, dass das Finanzkapital aus seiner Krise gerettet werden muss und der Staat sich – ungeachtet der Kosten – mit all seiner Macht dahinter stellt, dann ist doch wohl auch klar, dass die Lohnarbeitenden in der Metallbranche sich um das Wohl ihrer Arbeitgeber kümmern und dafür Abstriche machen müssen. Das ist nämlich in einer lebendigen Demokratie mit Marktwirtschaft die erste Staats- und Bürgerpflicht: alles dafür zu tun, dass das Kapital floriert.