Nokia schließt die Handy-Fabrik in Bochum und entlässt Tausende
Eine patriotische Heul-Orgie besiegelt die Abwicklung
Der finnische
Konzern gibt die Schließung des Mobilfunkwerks in Bochum bekannt. 2300
Angestellte verlieren den Arbeitsplatz, 1000 Leiharbeiter ihren Job, viele
weitere Stellen bei Zulieferern sind gefährdet. Nach Siemens-BenQ schließt der
zweite Handyhersteller in NRW und der letzte seiner Art in Deutschland, Nokia
eröffnet neue Fabriken in Ungarn und Rumänien: Eine ziemlich alltägliche
Nachricht aus der Welt der globalisierten Marktwirtschaft! Überall in der
heute grenzenlosen Standortkonkurrenz kapitalistischer Staaten erfahren Menschen
die Abhängigkeit ihres Lebensunterhalts von den Investitionen eines weltweit
vergleichenden Kapitals, um dessen Ansiedlung die Regierungen buhlen. Land &
Leute werden zum Inventar eines Standortes hergerichtet; Natur & Straßen,
Löhne & Bildungsniveau, die heimische Kaufkraft, der soziale Friede oder
Lizenzen zur Umweltverpestung werden als Standortbedingung feilgeboten.
Entscheidet sich ein Konzern für die Nation, deren Insasse man zufällig ist, und
baut in der Nähe des eigenen Wohnorts einen Industriepark mit Arbeitsplätzen, so
wird Menschen das größte anzunehmende Glück zuteil, das es in der
kapitalistischen Welt gibt: Ihnen wird Arbeit gegeben. Auch einige Tausend
Bochumer haben dieses Glück gehabt: Vor 20 Jahren übernahm Nokia die TV-Firma
Graetz und baute das Werk mit Hilfe staatlicher Geldspritzen in eine Handyfabrik
um; von damals 4500 Festangestellten ist die Hälfte übrig geblieben. Jetzt wird
der Standort samt Bahnhaltestelle „Nokia“ beerdigt. Die Arbeiter erfahren es aus
dem Radio: Kein Interesse mehr an der Ausbeutung hiesiger Nokianer, Ende der
Durchsage. Die Betroffenen sind „entsetzt“. Offenbar jedoch nicht über die
gültige kapitalistische Rechnungsweise, der ihr Lohn nun zum Opfer fällt,
sondern darüber, dass in diesem Fall die Sachzwänge und Konkurrenznöte gar nicht
vorliegen, mit denen Entlassung und Verarmung sonst gewöhnlich plausibel gemacht
werden. Nokia, heißt es, steht am Weltmarkt gut da, macht in Bochum Gewinn und
jetzt dennoch zu; trotz bombiger Geschäfte verlässt Nokia den Standort D in
Richtung Ausland. Das ist nicht fair: Heuschrecke! Vor lauter Aufregung über
einen ganz extra geldgierigen heimatlosen Multi soll und mag keiner mehr
bemerken, dass auch dieser Fall proletarischer Verarmung auf die Kappe des
Systems der ganz normalen kapitalistischen Gewinnmaximierung geht, zu der die
ehrenwerten Herren von Nokia mit einigem Aufwand nach Deutschland gebeten worden
sind. Nokia erklärt die Gesetze der globalen Profitrechnung „Trotz aller
gemeinsamen Anstrengungen ist Bochum als Standort zur Fertigung mobiler Telefone
im internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähig.“ Mit dem Stichwort
‚wettbewerbsfähig’ erinnert der Aufsichtsratsvorsitzende Sundbäck an den Zweck
der Handyfertigung sowie aller Lohnzahlung: Arbeitsplätze werden eingerichtet,
damit sie größtmögliche Gewinne abwerfen; Löhne werden gezahlt, solange aus
ihnen befriedigende Überschüsse herauszuholen sind. Den Maßstab befriedigender
Erträge demonstriert der Vorsitzende an seiner jüngsten Bilanz: 54,9 Milliarden
Euro Rekordumsatz, 7,6 Milliarden Rekordgewinn in 2007; 40 % Weltanteil am
Handygeschäft; den westeuropäischen Markt siegreich abgegrast, der nun als
„gesättigt“ gilt; neue Weltmärkte Richtung Asien und neue Handytechnologien im
Blick. Auch Werk Bochum schreibt „schwarze Zahlen“, kriegt aber zu hören, dass
hier für die Fertigung von nur 6 % aller Geräte 23% der Lohnkosten aufgewendet
würden. Weil die Benutzung lohnabhängiger Menschen andernorts für ein
Linsengericht zu haben ist, werden deren Klassenbrüder hier entlassen; gemessen
daran war die Beschäftigung der Bochumer ein Geschäft, aber nicht Geschäft
genug! In aller Deutlichkeit erläutert der Weltmarktführer auch die Ziele,
die mit dem Umzug erreicht werden sollen. Nicht Misserfolg im harten Wettbewerb
oder eine Krise der Mobilfunkbranche bewegt ihn zur Verlagerung nach Osten,
sondern sein Erfolg. Gegen die gerne bemühte Lesart vom leidigen Sachzwang, dem
anonymen Gesetz der Konkurrenz, dem der Unternehmer wohl oder übel entsprechen
muss, bekennt sich die Firma dazu, dass sie in aller Freiheit ihren Erfolg
sichern und ausweiten und den Weltmarkt auch künftig dominieren will. Der
Anspruch, die „operative Gewinnmarge von 17 auf 20 %“ zu steigern, ist ein
vollkommen ausreichender Grund, das Ruhrgebiet zu verlassen. Diese Spanne ist
nun einmal leichter mit Hungerlöhnen zu erreichen. Da hilft es nichts, dass
Kritiker vermerken, der Anteil der Lohnkosten in der Branche liege am Standort D
„bei nur 5 Prozent“. Was heißt da nur? Wenn die Firma es beim Lohndrücken und
Rationalisieren schon so weit gebracht hat, dann bringt sie es auch noch weiter,
und dann sind eben auch 5% Lohnkosten noch zu viel! Das Geld, das er auch in
Bochum verdient hat, nutzt der Konzern zur freien Besichtigung der europäischen
Arbeiterklasse unter dem Gesichtspunkt ihrer absoluten Billigkeit; und am Ende
investiert er 60 Millionen in Rumänien. Dagegen ist Bochum nicht
wettbewerbsfähig. Und unter diesem Urteil leidet nicht nur die Belegschaft. Die
Stadt verliert ihren zweitbesten Steuerzahler, der zuliefernde Mittelstand seine
Geschäftsbasis, die DHL ihren größten Paketkunden; am Ende der Kette gehen
Bäcker, Kioske, Kneipen kaputt. Der gesamten regionalen Infrastruktur wird der
Nährboden entzogen, aus dem sie entstanden ist: Denn alles wirtschaftliche Leben
hängt am Bedarf des Kapitals und wird mit dem Verlust dieses Bedarfs
abgedreht. Brave Arbeitsleute fühlen sich von treulosem Ausbeuter im Stich
gelassen: Sie bleiben Nokianer auch ohne Nokia! „Seit 18 Jahren arbeiten
Frau E. und ihr Mann 6 Tage die Woche in 3 Schichten: Echte Nokianer! 'Wir haben
hier unsere Knochen hingehalten, jetzt sind wir nicht mehr gut genug. Die haben
uns für doof verkauft, die haben doch jede Menge Kohle mit uns verdient. Das
Werk war ja rentabel, aber die Profitgeier können den Hals nicht voll kriegen'.“
(SZ, 16.1.08) Der Gegensatz der Interessen ist nicht zu übersehen; und er
wird ja auch nicht übersehen. Gleichwohl weigern sich die Betroffenen mit
solchem und ähnlichem Gejammer, sich diesem Gegensatz zu stellen. Stattdessen
heben sie den Konflikt auf eine höhere, moralische Ebene, wenn sie sich zugute
halten, selbst der Firma gegenüber niemals auf ihre Interessen geachtet und
immer brav die Deppen für jeden betrieblichen Bedarf gemacht zu haben:
Extraschichten fürs Weihnachtsgeschäft gefahren, auf Lohnzuschläge verzichtet –
alles das war selbstverständlich. Jeden Schaden haben sie hingenommen, haben
sich als Instrumente des Betriebswohls benutzen lassen – und beklagen nun das
Unrecht, das ihnen geschieht, wenn die Firma sie trotzdem nicht weiter benutzen
will. Als hätten sie sich mit ihrer selbstlosen Treue zum Dienstherrn dessen
Treue zu seinen Dienstkräften verdient, und als würden sie nicht bloß in die
Einkommenslosigkeit entlassen, sondern um ihr höheres Verdienst betrogen. So
bleiben die Opfer der Umzugsentscheidung Sieger im Kampf zwischen Moral und
Interesse. Freilich auch nur moralische Sieger. Aber den Sieg lassen sie
sich nicht nehmen: Den kosten sie aus. Hat die Firma nicht selber die Parole
„Nokia Values: Very human!“ in ihre Unternehmensphilosophie hineingeschrieben?
Jetzt üben die Chefs Verrat an ihrem eigenen Kalenderspruch – „Die sollten sich
was schämen!“ Die Macht über den Betrieb haben sie zwar, die Manager des
Kapitals; daran hat keiner der Betroffenen auch nur den geringsten Zweifel, von
Widerstand dagegen ganz zu schweigen. Aber zur Betriebsfamilie gehören die
nicht; aus der entlässt die Bochumer Mannschaft ihre finnischen Häuptlinge: „Wir
sind Nokianer, ihr nicht!“ Doch trotz alledem: Davon können die demnächst
Entlassenen sich nichts mehr kaufen. Das wissen sie selbst am besten. Es heißt
Abschied nehmen. Nicht von der Kollegenfamilie, sondern von der
Einkommensquelle. Und das tun sie auch. Nicht mit einem knappen „Servus!“,
sondern mit jenem zunehmend beliebten dummen Spruch, der genau die zwei Sachen
ausdrückt: die widerstandslose Unterwerfung unter den GAU der eigenen
Lohnarbeiterexistenz und die allmähliche Gewöhnung daran: „Die Hoffnung stirbt
zuletzt!“ erzählen sie jedem Reporter, der sie nach ihren Empfindungen
fragt. Betriebsrat und Gewerkschaft führen ein Rückzugsgefecht mit absurden
Sonderangeboten Den Gestus der Hoffnung, der unmenschliche Weltkonzern möchte
doch noch ein Einsehen haben mit seinen braven Mägden und Knechten, machen
Gewerkschaft und Betriebsrat zu ihrer Sache. Sie blasen zum Kampf um die
Erhaltung des Standorts Bochum und seiner kostbaren Arbeitsplätze. Und so sieht
ihr Kampfeinsatz aus: Sie bombardieren die Geschäftsleitung in Finnland und
zugleich, dies vor allem, die aufgeregte Öffentlichkeit ihrer Region mit
alternativen Geschäftskonzepten, die die Fortführung des Bochumer Betriebs auch
nach den anspruchsvollen Maßstäben und unerbittlichen Vorgaben des Unternehmens
lohnend machen würden. Mit Bochumer Fleiß und Lohnverzicht würde sich vielleicht
nicht ganz das rumänische, aber auf jeden Fall das ungarische Kostenniveau
erreichen lassen – das rechnen sie den „unersättlichen Profitgeiern“ im
Firmenvorstand vor. Sie versprechen verdoppelten Output bei gleicher
Belegschaftsstärke. Sie warnen vor einer Fehlkalkulation mit rumänischen
Billiglöhnen, die doch jetzt schon schneller ansteigen würden als jemals ein
deutscher Leistungslohn. Für ihre rettenden Ideen fordert die lokale
Belegschaftsvertretung die Solidarität der Kollegen an anderen europäischen
Nokia-Standorten und gibt sich enttäuscht, dass die ausbleibt. Der deutsche
Betriebsrat macht Standortkonkurrenz gegen andere europäische
Produktionsstandorte so, wie Betriebsräte eben Standortkonkurrenz betreiben
können: indem sie die Interessen der von ihnen Vertretenen opfern, dem
Arbeitgeber Sonderangebote machen und andere Belegschaften unterbieten. Und
dafür erwarten sie die Unterstützung der Arbeitervertreter anderer
Konzern-Standorte – womöglich einschließlich der ungarischen und rumänischen.
Die Solidarität, die die auswärtigen Kollegen schuldig bleiben, organisiert die
IG-Metall auf Gemeindeebene: Sie inszeniert eine Menschenkette, die das Werk
„schützend“ umzingelt. Und sie redet von Streik – mal für den Erhalt des Werkes,
mal für „die teuerste Betriebsstilllegung der Geschichte“ –, weil eine moderne
Gewerkschaft eben so tönt, wenn Massenentlassungen anstehen und in Würde
abgewickelt sein wollen. Denn selbstbewusste Belegschaften gehen „Nicht Ohne
Kampf Ins Aus!“ – das sitzt! Es brennt also mal wieder, das Ruhrgebiet. Und
deswegen ist es auch kein Zufall, wer den Nokianern für diesen Kampf als
Bündnispartner einfällt: „Jetzt muss der Rüttgers kommen!“ Und siehe da: Der
wartet die Steilvorlage nicht ab, sondern ist gleich da. Der Landesvater gibt
dem Protest die patriotische Note Schon merkwürdig: Gegen profitgierige
Existenzvernichter pusten die Opfer in ihre Trillerpfeifen; vom Politiker, der
die Freiheit Nokias zum Profitmachen schützt, lassen sie sich in den Arm
nehmen. Der Macht des Kapitals sehen sie sich hilflos ausgesetzt; von der
politischen Macht, die Multis als Mehrer des Wachstums schätzt und auf den
Standort bittet, erwarten sie Schutz. Man muss schon sehr konsequent davon
absehen, dass der kapitalistische Staat selbst die Lohnabhängigen der globalen
Konkurrenz aussetzt, um ihn als Schutzherrn der Geschädigten anzurufen. Dem
Rüttgers passt der Ruf nach Rettung natürlich gut: Er greift als Anwalt
betroffener Arbeiter zum Megafon, um seine Schützlinge in wenigen Schritten auf
den nationalistischen Gehalt zu verpflichten, den ihre Unzufriedenheit annehmen
muss, wenn sie Respekt genießen will. Zuerst gibt der Landesvater der
Belegschaft voll Recht in ihrer bescheuerten Klage über den finnischen
Profitgeier, der angeblich keine gescheiten kapitalistischen Gründe für seine
Republikflucht vorweisen kann. „Wenn der Aufsichtsratschef gestern darlegt,
man müsse weggehen, weil hier die Kostenstruktur bei den Arbeitskosten im
Ruhrgebiet nicht stimme, und gleichzeitig erklärt, dass der Anteil der
Lohnkosten an den Produktionskosten unter 5 % ist, dann fühle ich mich auf den
Arm genommen. Das kann nun wirklich nicht sein! Das ist Unsinn!“ Der Mann,
der seinen regionalen Standort Nokia als Schnäppchen angeboten hat und weiterhin
anbietet, tut so, als verstehe er die Welt nicht mehr, wenn Nokia auch anderswo
Schnäppchen jagt. Dass andere Länder Ausbeutungs-Vorteile zu bieten haben
sollen, die NRW nicht bieten kann, das kann nicht sein. Rüttgers bekräftigt
seinen Glauben an die Unschlagbarkeit des Malocher-Menschenschlags, den er
regiert, und spart nicht mit rassistisch eingefärbtem Lob. „Mir kann keiner
erzählen, dass die Arbeitnehmer in Rumänien genauso fleißig, genauso gut,
genauso engagiert sind wie hier die Mitarbeiter bei Nokia in Bochum.“ Nach
diesem Einstieg, den die Nokianer offenbar schmeichelhaft finden, hebt der
Landesvater ihre Betroffenheit auf die höhere nationale Ebene, indem er sie als
Ruhrgebietsmenschen und Deutsche anspricht: Was ihnen widerfährt, ist mal wieder
so ein Fall von „Schattenseite der Globalisierung“, unter der der Standort
Deutschland im Allgemeinen, das Ruhrgebiet im Besonderen zu leiden haben. Der
Schaden der Entlassenen ist weit mehr als bloß das: Er ist Teil der Beschädigung
des allerhöchsten Gutes, des nationalen Allgemeinwohls, durch einen
ausländischen Konzern. So rettet Rüttgers die Würde der zukünftigen
Hartz-IV-Empfänger; mit ihrem Jammer setzt er sie ideell ins Recht; von ziemlich
weit oben herab beglaubigt er ihr beleidigtes moralisches Rechtsempfinden; das
ist doch schon mal ein schöner Trost. Und als nordrhein-westfälischer Machthaber
hat der Landeschef seinen Landeskindern noch mehr zu bieten, nämlich den Schein
einer machtvollen Gegenoffensive, einer Strafe für Geldgier, die die finnischen
Profitgeier an ihrer empfindlichen Stelle trifft: „Rüttgers warnte Nokia, sich
das Image einer ‚Subventions-Heuschrecke’ zu verschaffen.“ Dabei geht es nicht
einmal bloß um das geschäftsschädigende Image, das er mit seiner
landesväterlichen Autorität dem Unternehmen anhängen könnte. Rüttgers kündigt
eine rückwirkende Prüfung der 88 Millionen Euro Subventionszahlungen an, mit
denen die Landesregierung seinerzeit Nokia nach Bochum gelockt hat; er lässt
einen Verstoß der Firma gegen gewisse Bedingungen re-konstruieren, an die die
Geldgeschenke des Landes geknüpft waren ... Das ist schon gelungen: Derselbe
Staatsmann, der für eine Politik eintritt, die dem Kapital die weltweite
Freiheit der Standortwahl eröffnet, und der diese Wahl mit ganz legalen
Bestechungsgeldern erfolgreich beeinflusst hat, der also weiß und damit
kalkuliert, auf welche Reize ein Multi positiv reagiert – der führt sich auf,
als hätte Nokia mit seinem Standortwechsel einen ewigen Treueschwur gebrochen.
Dabei hat die Firma bloß den politischen Zuhälter gewechselt. Andere deutsche
Spitzenpolitiker springen auf den Zug auf. Sie schließen sich der Drohung an,
den Ruf des doch eigentlich hoch geschätzten Weltkonzerns zu schädigen, und
tragen dazu bei, was sich für sie schickt: SPD-Chef Beck erzählt Leuten, die
nicht wissen, wovon sie nächstens Miete zahlen sollen, Nokia habe „den deutschen
Steuerzahler geschädigt“; der Bundesfinanzminister erfindet das neue Schimpfwort
„Karawanenkapitalismus“ und geißelt dessen „hemmungslose Gewinnmaximierung“; die
Kanzlerin droht, „in Helsinki anzurufen und viele offene Fragen zu klären“. Der
geistige Schulterschluss zum großen nationalen WIR, das sich von finnischen
Profitgeiern nicht für dumm verkaufen lässt, ist damit auf gutem Weg. Die
patriotische Empörung erreicht ihren Höhepunkt in einer Kampagne, bei der sich
wirklich jeder Bürger mit dem Herzen am rechten Fleck engagieren kann: ‚Das kauf
ich euch nicht ab!’ „Ich kann mir nicht vorstellen, dass noch ein Deutscher bei
Nokia kauft.“ (Kraft, SPD) „Seehofer und Struck: Erste Politiker geben ihr Handy
zurück!“ (Bild) „No, Nokia, so nicht!“ (Demoparole). Der Verbraucherminister
ruft zum Kaufboykott, die mitdenkende Basis plant eine erste öffentliche
Telefonverbrennung. Leserbriefe schildern das geile Gefühl, eines der bis
gestern weltbesten Handys ins Klo zu spülen. Sollen den Dreck doch die Rumänen
kaufen, meint der aufgeklärte Normalverbraucher im WAZ-Chatroom. Derweil
verhandeln Rüttgers Leute mit den gewissenlosen Profitgeiern längst ganz
gesittet über neue Geschäftsperspektiven in Bochum. Auch Nokia versteht die
Dialektik der Rufschädigung durch Politiker eines Gastlandes, die sich durch ein
paar investierte Millionen wieder ins Gegenteil verkehren lässt. Es ist ja auch
nicht so, dass es auf dem Standort Deutschland gar nichts gäbe, was der
Weltkonzern für seinen Profit nutzen könnte – nur Handys sind out. Eine Stiftung
über einige 10 Millionen, ein Technologiepark auf dem alten Werksgelände, ein
Entwicklungszentrum für Autoelektronik zusammen mit Bosch und BMW und ein paar
hundert Arbeitsplätze für Ingenieure. Das wird Rüttgers nächstens als „Hoffnung
für Bochum“ und „Rettung von Arbeitsplätzen“ verkaufen. Und als Beweis für das
Verantwortungsbewusstsein einer Weltfirma. Die Medien: Bloß kein Misstrauen
ins System! Die freie Presse erfüllt ihren öffentlichen Auftrag zur
Meinungsbildung; pluralistisch, also konstruktiv arbeitsteilig. Die eine Hälfte
gibt der Empörung recht, um sie zum korrekten Verständnis des Skandals
anzuleiten; die andere durchschaut die unechte Theatralik der Heuschreckenkritik
und rettet den globalen Kapitalismus vor unsachgemäßer Rufschädigung, indem sie
mit dem Gewicht des ökonomischen Sachverstands jede Kritik als verfehlt und
kontraproduktiv zurückzuweisen. Zwei Musterexemplare deutschen Zeitgeistes 2008.
WAZ, 16.1.: „Wieder zeigt die Marktwirtschaft ihre hässlich-brutale Fratze.
Das Vorgehen des finnischen Nokia-Konzerns erinnert fatal an den Fall
Siemens/BenQ, wo sich Manager alle Mühe gaben, den Betroffenen das Gefühl zu
vermitteln, sie seien bloß Bauern auf dem Schachbrett der Globalisierung.
Gewiss, betriebswirtschaftliche Entscheidungen sind oft hart. Gleichwohl ist
diese Nacht- und Nebel-Schließaktion in ihrer kühlstkalkulierenden Art zu
verurteilen. So kann sich nur ein Konzern verhalten, der die Zelte im Lande D
abbricht. Noch gestern waren nicht alle Mitarbeiter über den drohenden Verlust
ihres Arbeitsplatzes informiert. So schafft man kein Vertrauen in ein
Unternehmen, geschweige denn in die Marktwirtschaft.“ Von der Systemkritik
zur Lobhudelei in 99 Sekunden! Die Marktwirtschaft zeigt, nicht zum ersten Mal,
wie menschenfeindlich sie ist. Das muss der Kommentator der WAZ einmal ganz
deutlich sagen – um gleich darauf seine Sorge auszudrücken, die Leute könnten
das womöglich auch so sehen. Seine Parteinahme gilt dem guten Ruf des
Kapitalismus, nicht dem Schicksal seiner Opfer. Diesen Ruf ‑ den Vorwurf muss
die finnische Firma sich gefallen lassen ‑ schädigt Nokia in unverantwortlicher
Weise: Gerade weil sie nichts anderes sind, käme es darauf an, dass die
lohnabhängigen Schachfiguren nicht das Gefühl kriegen, sie wären welche. Reicht
es nicht, dass Kapitalismus oft hart ist, muss es auch noch so aussehen? Keine
schriftliche Einladung zur Entlassungsfeier, kein warmer Händedruck zum
Abschied, geheimniskrämerische Informationspolitik – so machen Leuteschinder
sich keine Freunde! Schon gar nicht bei unserer freien Presse: An der bleibt es
mal wieder hängen, Vertrauen in die Marktwirtschaft zu stiften, wenn die Macher
schon wieder das Einseifen der Opfer vergessen haben. Gottlob keine allzu
schwierige Aufgabe: Gemeinsam mit den Lesern empört man sich darüber, dass die
zuständigen Praktiker und Nutznießer des Systems es genau daran fehlen lassen
... Die andere Variante: Stern, 6.2.: „Robin Rüttgers im Subventionswahn!
Die künstliche Empörung über den Nokia-Abzug gipfelt in der Rückforderung von 41
Mill. €. Die angegebenen Gründe sind fadenscheinig und durchsichtig
populistisch. Am Ende könnte das ganze Land und der Wirtschaftsstandort NRW
unter dem selbsternannten Arbeiterführer leiden.“ Die Illustrierte
durchschaut und entlarvt die soziale Heuchelei des Robin Hood aus dem Landeshaus
und kann eines nicht leiden: nicht so sehr, dass Rüttgers seine Parteinahme für
die Gekündigten berechnend heuchelt, sondern seine geheuchelte Parteinahme für
die Opfer. Statt mit volksfreundlichen Sprüchen falsche Hoffnungen zu wecken,
hätten Politiker knallharte Aufklärungsarbeit zu leisten; nach dem Muster: „Was
soll das Geschrei, so geht Marktwirtschaft.“ Alles andere ist von Übel: Wer sich
als Politiker auch nur zum Schein mit den großen Kapitalen anlegt, riskiert,
dass die erst recht abwandern. Ein Ministerpräsident, der den Arbeiterführer
gibt, hat seinen Beruf verfehlt. Knallharte Freunde und Förderer des großen
Geschäfts – solche Führer braucht das Land! So sind sie, unsere Medien:
gleich mehrstimmig gnadenlos kritisch, wenn das System mal wieder eine seiner
hässlichsten Seiten zeigt – gegen jeden falschen Ton.