GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Religiöser Fundamentalismus und ein separatistischer Aufstand im Olympia-Jahr, wie wir ihn mögen:

Tibet gut, China böse!

Der erste große Sieg der Olympischen Spiele 2008 steht fest, lange bevor sie begonnen haben: Die Welt stellt China die Tibet-Frage! Seit fromme und weniger fromme Bewohner auf dem Dach der Welt ihren Protest gegen das Riesenreich vortragen und dabei von Peking hart zurückgewiesen werden, scheint die Sympathie im Ausland für einen Aufstand, der sich religiös und kulturell inspiriert vorträgt und auf Autonomie zielt, keine Grenzen zu kennen.

Soviel tätige Anteilnahme erfährt nicht jeder Aufstand. Die Palästinenser im Gazastreifen oder Globalisierungskritiker in Heiligendamm haben sich nicht annähernd so gute Noten verdient wie die tibetischen Demonstranten, obwohl auch in ihrem Fall die jeweilige zuständige Ordnungsmacht den Dialog hauptseitig mit militärischem oder polizeilichem Gerät führt. Dass eine religiöse Gesinnung die tibetischen Mönche bei ihrem Aufstand adelt, weiß die Welt von Washington bis Wanne-Eickel sehr gut, vergisst aber auch nicht, zu unterscheiden. Während man im Weißen Haus den verblichenen iranischen Religionsführer Chomeini bis heute nicht verehrt, sondern als religiösen Fanatiker verachtet, ist für den Ottonormalverbraucher im Ruhrgebiet jeder muslimische Kirchturm grundsätzlich zu hoch und ein Beweis für einen gefährlichen Fundamentalismus des Glaubens. Bliebe noch das Ziel der Unruhen in Tibet, die Autonomie. So etwas kann das westliche Ausland bei Basken oder Korsen gar nicht leiden. Den Tibetern drückt man dagegen die Daumen und hilft, so gut es geht, nicht nur im Hintergrund. Derweil verkündet der brutalstmögliche noch amtierende Ministerpräsident aus Hessen unter großem öffentlichen Applaus sein Engagement für die politische Selbständigkeit eines kulturell-religiösen Biotops Tibet auf chinesischem Boden - und gegen jede noch so kleine Parallelgesellschaft auf deutschem Boden, die unverzüglich kleingemacht werden muss.

Das Projekt, bettelarme fromme Bauern, Nomaden und Mönche in Tibet unbedingt mit einer eigenen Herrschaft, wenigstens aber einer Vorstufe davon zu versorgen, bezieht seine Sympathien nicht aus dem tibetischen Aufstand, sondern aus dem Gegner, auf den er trifft, China.

Peking am Pranger

Die Anfeindung Chinas ist älter als die Unruhen, mit denen sie jetzt befeuert wird. Seit der Vergabe der Olympischen Spiele vor rund acht Jahren verkünden Politik und schreibende Öffentlichkeit, dass die einstmals so genannte Freie Welt die Spiele einem Staat anvertraut hat, der ihrer vielleicht gar nicht würdig ist, weil er ein langes Sündenregister vorzuweisen hat. Dabei werden auch kleinere Details in epischer Breite vorgeführt, weil sie Index für eine Verfehlung grundsätzlicher Art sein sollen.

Schon die Luftverschmutzung in Peking durch Kohleöfen, Mopeds und Schlote ist ein Anschlag auf Volk und Athleten, so erfährt man beizeiten. Selbst beim Stadionbau für das olympische Spektakel schlägt ausländischen Beobachtern die blanke Menschenverachtung entgegen. Nicht einmal ein Mindestlohn, Lieblingskind deutscher Unternehmer, wird den Bauarbeitern gewährt. Selbst Tierschützer finden einen Weg, um in den antichinesischen Chor einzufallen. Peking überschreitet nämlich kulinarisch gesehen die Artgrenzen und lässt auch manche Katze in den Kochtopf wandern.

Um Fehltritte eines ansonsten respektablen Staatswesen handelt es sich nach allgemeinem Dafürhalten nicht. China gilt als Staat, dem einfach die wesentlichen zivilisierten und demokratischen Grundlagen fehlen, die die westliche Staatenwelt im Gestus eines überparteilichen Richters für verbindlich erklärt. Bei aller sorgsam registrierten Entwicklung des Riesenreiches weg vom ehedem kommunistischen Staat, ungeschmälerte Anerkennung als rechtsstaatlich einwandfreies Mitglied der Staatengemeinschaft hat China einfach nicht verdient.

Tibet – ein Unruheherd kommt wie gerufen

Da kommen die Unruhen in Tibet wie gerufen, weil sie das längst feststehende Urteil abrunden. Kaum werden die ersten Berichte von Auseinandersetzungen zwischen tibetischen Demonstranten und Polizeikräften lanciert, steht die Parteinahme auch ohne weitere Befassung mit den Motiven der Protestierenden fest. Gut ist in diesem Fall eindeutig der Protest, nicht die Ordnungsmacht, die ihn niederhält. Und mit den ersten Opfern harter chinesischer Polizeieinsätze explodiert nicht nur die Sendezeit für Tibetberichte auf allen westlichen Kanälen. Tibetfahnen flattern auf Rathäusern der Metropolen wie in Paris und werden zur Massenware im Internet. Tibetvereine schießen wie Pilze aus dem Boden und verfügen offenbar aus dem Stand über Geld und Druckkapazitäten, die man nicht vermuten durfte.

Aufruhr dort wie öffentliche Empörung hier kommen wie auf Bestellung. Und beides darf man in gewisser Hinsicht im Fall Tibet genauso wörtlich nehmen wie bei den legendären Revolutionen in Orange, wie sie in der Ukraine und anderen östlichen Nachbarstaaten organisiert wurden. Die frommen Unruhestifter in ihren Klöstern und Internetforen haben auf das Olympiajahr spekuliert, um ihren Protest geräuschvoll in der ersten Reihe von ARD und anderen Sendeanstalten zu platzieren. Und diese Spekulation, auch das erfährt der Zeitungsleser mittlerweile, hat im Vorfeld recht bekommen. Die Friedrich-Naumann-Stiftung der FDP, die Heinrich-Böll-Stiftung von Bündnis 90/Die Grünen und andere Vereine haben bereits im Mai 2007 diverse tibetische Aktivisten und Gruppierungen nach Brüssel geladen, um einen Aktionsplan für ein freies Tibet auf den Weg zu bringen. Allein 150 sogenannte Nicht-Regierungs-Organisationen haben sich die tibetische Autonomie auf die Fahnen geschrieben und einen ständigen Sitz in, richtig, Washington eingerichtet, wo sogenannte Vorfeldorganisationen der US-Außenpolitik nicht nur ihre Unterstützung, sondern auch das nötige Kleingeld einbringen.

Dass Demonstrationen durch chinesiche Sicherheitskräfte blutig niedergeschlagen werden, ist das eine. Das andere ist das inszenierte Entsetzen im westlichen Ausland. Nicht ehrliches Erschrecken über verletzte Tibeter, sondern der berechnende Einsatz des anteilnehmenden Gefühls für eine minutiös geplante China-Hetze ist der Leitfaden des öffentlichen Theaters um Tibet. Die mobilisierte Anteilnahme für die menschlichen Opfer hat sich daher schnell dem politischen Opfer zugewandt, dem sie wirklich gilt, dem Land und seinem Leid, das die chinesische Besetzung zu verantworten hat.

Menschenrechte - gegen China in Stellung gebracht

Die Regierungschefs fast aller ausländischen Hauptstädte sehen sich herausgefordert. Gewalt darf kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein – das schreiben ausgerechnet die Figuren Peking ins Stammbuch, die ihren Krieg in Irak und Afghanistan noch nicht fertig und den Iran-Krieg in Vorbereitung haben. Nicht gegen Gewalt sind sie, sondern gegen die Gewalt der anderen. So melden wichtige Führungsnationen ihr Monopol auf Gewaltanwendung an. Damit ist die zweite Forderung schon recht konsequent. Peking wird aufgefordert, unverzüglich mit dem Dalai Lama und den Kämpfern für eine tibetische Autonomie in Verhandlungen einzutreten, also ausgewiesene Feinde der chinesischen Staatsordnung als berechtigte Partei mit einem ehrenwerten Anliegen zu behandeln. Und schließlich wird den Forderungen en detail noch die Generalverurteilung en gros nachgereicht. Der Unwille Chinas, dem Aufruhr nachzugeben, ihn stattdessen mit polizeilicher Härte unschädlich zu machen, beweist wie das gesamte, im Ausland sorgsam gepflegte Sündenregister, dass Peking die Menschenrechte mit Füßen tritt.

Der Einsatz dieser Wunderwaffe der Diplomatie löst wie immer den tosenden Beifall der Öffentlichkeit aus. Die ist nämlich in einer unsachlichen, parteilichen und zugleich heuchlerischen Besichtigung der Staatenwelt geübt. Staaten entscheiden mit ihrer Hoheit über vieles, die verbindliche Art des Wirtschaftens ebenso wie die politischen Maßnahmen seiner Betreuung, über die Erhöhung von Steuern oder die Kürzung der Renten, die Subventionierung des Mittelstands oder die Kreditierung notleidender Banken, das Strafmaß für Ladendiebstahl oder Bankraub. Über eines aber entscheiden sie nicht: Ob ihr Gewaltapparat sich auf den Dienst am Menschen verpflichten soll oder besser nicht. Aus der unschuldigen Kategorie der menschlichen Gattung lässt sich auch gar kein wirkliches politisches Vorhaben herleiten, dem ein Standortverwalter folgt. Aber diese Fiktion veredelt die Herrschaft zu einem grundsätzlichen Dienstverhältnis, das nicht in einem tatsächlichen Zweck, sondern in einem grundsätzlichen Kompliment an die politische Gewalt aufgeht. Staaten, die nach allgemeinem Urteil die Menschenrechte respektieren, sind eins mit ihrem Volk, weil sie ihm mit ihrer Gewalt dienen. Im Umkehrschluss gelten daher Staaten, denen die Einhaltung der Menschenrechte abgesprochen wird, als pure Unterdrückung, ein Zweck, der genauso leer ist wie sein positives Gegenstück des Dienstes. Diese Absurdität bringt nicht einmal das gebrandmarkte China fertig: Gewalt ist Mittel für staatliche Zwecke, nicht selber der Zweck. Auch die chinesische Führung hat ihr Programm nicht darin, ihre Untertanen zu quälen. Mit ihrem ganzen Gewaltapparat spannt auch diese Nation ihr Volk für eine wirtschaftliche und politische Benutzung ein, die auf Exporterfolge und Devisenreserven oder die Ausdehnung von Einflusszonen in Asien oder Afrika zielt. Alles nicht erfreulich für diejenigen, die mit ihrer Leistung und einer schäbigen Entlohnung dafür geradestehen müssen. Aber eben im Grundsatz nicht anders als hier.

Diese unsachliche Betrachtung der Staatenwelt folgt zum zweiten einer unübersehbaren Parteilichkeit. Gegensätze zwischen politischer Gewalt und ihren Untertanen gibt es allenthalben und in jeder Nation. Welche aber als Verstoß gegen den höchsten Rechtstitel, die human rights, inkriminiert werden, hängt ganz von einer parteilichen Vorentscheidung ab. Schon eine einzige abgestellte Internetseite oder ein zensierter Zeitungsartikel in China reichen aus, um gröbste Menschenrechtsverletzungen zu entdecken. Umgekehrt schafft es der Papst, ausgewachsenen Militäraktionen der Weltführungsmacht ihren humanitären Charakter zu bescheinigen, so wie jüngst in Washington geschehen. Nicht das Maß ausgeübter Gewalt gegen eigene oder fremde Untertanen, sondern die Stellung zum beurteilten Staat entscheidet darüber, ob der Betrachter auf Menschenrechtsverletzung plädiert oder nicht. Das ist im Fall China eine entschiedene Sache. Die Anfeindung ist ja der Ausgangspunkt, so dass besagte Füße, mit denen Peking die Menschenrechte tritt, unbedingt in die Schlagzeilen mit den ganz dicken Buchstaben hinein müssen.

Und darin liegt schlussendlich die entschiedene Heuchelei der Anklage Menschenrechtsverletzung, die mächtige Führungsnationen gegen China erheben. Dass China pure Gewalt gegen seine Leute als Zweck hat, ist das Gesagte. Das Gemeinte aber dementiert das Bild von der zweckfreien Gewalt und stößt sich an den tatsächlichen ökonomischen und politische Zwecken, mit denen die chinesische Staatsgewalt die Kreise ausländischer Mächte stört.

Chinas Verfehlung: zu reich und zu stark geworden

Dabei sind es gerade diese wirtschaftlich potenten Nationen, die China als riesigen Exportmarkt, zunehmend auch als Anlagesphäre entdeckt haben. Auf diesem Markt erzielen Global Player die zweistelligen Umsatzsteigerungen, die ihnen in ihren angestammten Sphären immer weniger gelingen wollen. Umgekehrt ist China mit Hilfe von Joint-Ventures mit ausländischen Großbetrieben zu einem starken Industriestandort aufgestiegen, der mit seinen preisgünstigen Exportartikeln einen gewaltigen Devisenerlös eingespielt hat. Chinesische Staatsfonds kaufen sich damit, so man sie lässt, in ausländische Energiekonzerne oder bei den durch die Finanzkrise gebeutelten Großbanken ein.

Diese wirtschaftliche Erstarkung, an der westliche Firmen gut verdient haben, macht nicht nur Freude, sondern insbesondere den politischen Sachwaltern viel Ärger. Als Export- und Anlagesphäre für die deutsche Industrie ist China willkommen, als potenter Konkurrent, der mit preisgünstigen elektronischen Gütern oder den angekündigten Billigautomobilen europäischen Global Players Marktanteile streitig macht, schon deutlich weniger. Das Ausland will an China verdienen, nicht umgekehrt soll es sein.

Hinzu kommt, dass mit der aufwachsenden ökonomischen Schlagkraft Chinas auch noch eine Verschiebung des weltweiten politischen Kräfteverhältnisses registriert wird. Die Weltwirtschaftsmacht ist auf dem Sprung zur Weltmacht. Schon deshalb, weil auch Peking wie seine marktwirtschaftlichen Vorbilder auswärts den Notwendigkeiten Rechnung trägt, die sich aus der wirtschaftlichen Ausnutzung anderer Völker und Länder für das eigene Wachstum ergeben. So etwas setzt nämlich ein gehöriges Maß an politischer Kontrolle voraus, um die ökonomische Benutzung auf verlässliche Füße zu stellen. Um beispielsweise den immensen Energiebedarf des chinesischen Wachstums zu sichern, sucht Peking den Schulterschluss mit Lieferländern wie Sudan, Iran oder Venezuela. Allesamt Staaten, die bei den Guten mehr oder weniger auf der Achse des Bösen verortet sind und schon deshalb China als brauchbare Adresse für eine Kooperation ansehen. Afrikanische Staaten verkaufen ihre Rohstoffe gern an Peking, weil sie dafür gutes Geld, Waffen oder beides bekommen. Forderungen an und Eingriffe in das innere politische Getriebe, wie es insbesondere die europäischen Staaten mit den Titeln Demokratisierung oder Menschenrechte lieben, müssen sie dabei nicht fürchten. Das behaupten zumindest die verärgerten Konkurrenten und geben damit zu Protokoll, dass sie die Ausdehnung des chinesischen Einflusses überhaupt nicht leiden können und sie deshalb als Ergebnis unlauterer Methoden disqualifizieren, die abgestellt gehören.

Insgesamt stellt der chinesische Aufstieg zu einer neuen Weltwirtschaftsmacht für den Geschmack der maßgeblichen restlichen Staatenwelt also nicht nur eine Chance, sondern vor allen Dingen auch eine Zumutung dar: Die angepeilte Stärkung an China gerät zu einer von China. Und damit wird das eigene ökonomische und politische Gewicht in der Welt untergraben. Schon die im diplomatischen Sprachraum eingebürgerte Redeweise vom Partner im Osten stellt ein ärgerliches Zugeständnis dar, das Peking seinem Gegenüber im Bewusstsein seiner Stärke abringen konnte und mit dem es einen gewissen Respekt vor seinen eigenen Kalkulationen und Rechten einfordert. Das Ausland will die Benutzung Chinas, will es aber als Rivalen, der sich darüber selber stärkt, zugleich kleinhalten. China hat nicht Subjekt, sondern Objekt politischer Kontrolle zu sein, so das Ideal.

Das Anspruchsniveau ist also hoch: Das Bemühen um Unterordnung und Eindämmung ist unabweisbar, soll aber die gewünschte wirtschaftliche Benutzung nicht untergraben. Entsprechend verzinkt arbeitet die Diplomatie und komponiert Einspruchstitel und protokollarische Eklats, die beides enthalten, die Anfeindung Chinas ebenso wie die dosierte Anerkennung seiner Rechte. So wird aktuell die Separation Tibets nicht ausdrücklich verlangt und die Ein-China-Politik bekräftigt; gleichzeitig wird die Gebietsfrage als offen und mehr Autonomie der Tibeter als unumgänglich deklariert. Der Dalai Lama, für China Staatsfeind Nummer eins, wird im Kanzleramt empfangen; im selben Atemzug wird die immense protokollarische Aufwertung wieder herabgestuft. Der Besuch war privat und galt Angela, nicht Merkel, der Kanzlerin.

Die Olympischen Spiele 2008 sind nach Auffassung der politischen Profis und ihrer Hofberichterstatter ein willkommenes Exerzierfeld, um China den Marsch zu blasen. Und die Laien werden täglich weniger, die sich noch darüber wundern, dass Sport und Politik kaum mehr zu unterscheiden sind.

Olympia 2008 – wir blasen den Chinesen mal richtig den Marsch

Der wirkliche Wettstreit der Staaten findet nicht auf olympischen Spielfeldern, sondern auf Märkten und bisweilen auch Schlachtfeldern statt. Die Konkurrenz um Marktanteile etwa auf dem Flugzeug- oder Finanzmarkt zielt auf nationalen wirtschaftlichen Zugewinn, der anderen Teilnehmern dadurch gerade bestritten wird. Die Nationen brauchen einander beim wirtschaftlichen Austausch, schädigen sich aber zugleich. Die Austragung dieses Gegensatzes braucht als verlässliche Grundlage die Kooperation der Staaten. Die kommt darin zur Geltung, dass sie sich darauf einigen, ihre Konkurrenz in Form von Verträgen abzuwickeln, in denen die Kontrahenten sich auf Leistungen und Gegenleistungen verpflichten lassen. Die zwischenstaatliche Einigung auf Abkommen aller Art macht keinen einzigen Gegensatz ungeschehen, sondern stellt den einvernehmlichen Rahmen für ihre Austragung dar.

Die große olympische Idee stellt nun neben die harte Konkurrenz der Nationen das verlogene Ideal einer wirklichen Einheit der Kontrahenten. Unter den olympischen Ringen, die symbolisch ganze Kontinente verbinden, wird die Völkerfreundschaft als gemeinsames Sportfest inszeniert. Gerade so, als seien dieselben nationalen Kollektive, die soeben noch als arbeitsame Instrumente für Exportoffensiven gegen andere oder gar als Soldaten im militärischen Kampf gegeneinander verschlissen wurden, letztlich doch ein Herz und eine Seele. Die schlechten Erfahrungen, die die Mitglieder solcher Kollektive in ihren jeweiligen Nationen und bei deren zwischenstaatlichen Händeln machen, haben wenigstens für die Dauer der Olympiade hinter dem schönen Bild zurückzustehen, das Staaten da von sich und ihrem Verkehr zeichnen. Es geht bei diesem Wettstreit ausnahmsweise einmal nicht um Geld oder Macht, sondern darum, welches Land im Sport am besten ist. Und diese politische Befrachtung eines sportlichen Ereignisses gibt ihm auch sein Gepräge, das von der Euphorie erlebter Gemeinsamkeit der Völker nicht viel übrig lässt.

Athleten, Zuschauer vor Ort und in den Medien sowie die Führungsriege der jeweiligen Nationen vereinigen sich zu einem großen nationalen "Wir", das gegen andere nationale Kollektive antritt und die Daumen drückt. Alle Gegensätze zwischen Hartz IV-Empfängern, Managern, Politikern und Rentnern treten dahinter zurück, und aus dem ordinären Gewaltapparat und dem von ihm kommandierten Klassengegensatz wird das Bild einer inniglichen Gemeinschaft Gleichgesinnter. Jenseits ihrer Ausnutzung für Wachstum oder Handelsbilanzerfolge zählt die Tüchtigkeit dieses Kollektivs, die sich in Höherem ausdrückt und zu Stolz berechtigt. Eine Sport- oder Kulturnation will jeder Laden gern sein, weil ihm das eine Güte bescheinigt, die jenseits profaner ökonomischer Kennziffern von Wachstum oder Arbeitslosenrate angesiedelt ist und Zuspruch verdient.

Dafür wollen die Nationen Anerkennung, und zwar von ihren eigenen Landesbewohnern genauso wie von ihresgleichen. Und die wird bei der Olympiade auf dem Rasen eingefahren oder verfehlt. Dass Dabeisein alles ist, die Spiele also um nichts gehen, dementieren die Nationen am schlagendsten selbst. Ihre würdige Repräsentation als gelungene und erfolgstüchtige Einheit von oben und unten ist eine Frage ihrer Ehre und rechtfertigt leicht die Investition von Abermillionen in die Züchtung von menschlichen Hochleistungsgeräten, die einen ordentlichen Medaillenspiegel zusammensprinten und –stoßen.

In diesem ideellen Leistungsvergleich zählt unabhängig von Macht und Reichtum einerseits jede Nation gleich. Und andererseits kämpfen sie um den besten Platz in einer Hierarchie, die das hohe Gut der Ehre quantifiziert auf die Teilnehmer verteilt. Viel oder wenig Ehre kann eine Nation mit ihrem Sporterfolg einlegen, und zwischen Siegestaumel und Blamage liegen vielleicht zehn bis fünfzehn Medaillenränge. Jeder will also gut abschneiden, und Gastgeber der Spiele zu sein, ist schon für sich eine Auszeichnung, um die sich Staaten mit viel Aufwand und Bestechungsgeldern bemühen. So etwas signalisiert den Staaten und Völkern der Welt, dass man dem Gastgeber nicht nur zutraut, sondern auch zubilligt, seine Rolle als Repräsentant der Völkerfreundschaft auszufüllen. Umgekehrt eignen sich daher die Spiele auch so gut dazu, potentiellen Teilnehmern durch eine Ausschlussdiskussion den Respekt ganz oder teilweise zu entziehen. Die attestierte mangelnde Eignung in Sachen sportiver Völkerfreundschaft zielt dabei in Wahrheit auf eine ganz andere Welt als die des Sports, nämlich die ungeliebte Rolle, die der Angegriffene in der realen Konkurrenz spielt.

Diese verzinkte Vermischung zweier Welten, hier der internationale Sport, da die Weltstaatenkonkurrenz, ist so sehr Gemeingut, dass Politik und Weltöffentlichkeit sich seit Monaten darin gefallen, das negative Urteil über den ökonomischen und politischen Rivalen China als schlechte Meinung über den Gastgeber eines Sportfestes abzusondern. Und zwar genauso dosiert und kalkuliert, wie im realpolitischen Original, das aus den genannten Gründen die Gratwanderung zwischen Anerkennung und Verachtung geht. Verachtung für einen ungeliebten Aufsteiger, das spricht natürlich für den Boykott der Spiele. Athleten, die offenbar schon im Vorfeld an den mentalen Spätfolgen des Doping laborieren, finden das ungerecht, weil sie solange geübt haben. Der Innenminister dagegen weiß, dass die Sache eine Nummer zu groß wäre, weil man sich mit der Erniedrigung Pekings nicht sein Wohlwollen in Sachen wirtschaftlicher und sonstiger Kooperation verscherzen darf. Der Sport muss also stattfinden, damit er seine Wirkung entfalten kann, meint der Mann. Damit sind ja die Gelegenheiten, den chinesischen Gastgeber zu beleidigen und sein weltpolitisches Ansehen kräftig zu beschädigen, nicht vom Tisch. Eine gute Gelegenheit ist da bereits das Gedöns mit dem Fackellauf, der sich locker zu einem Spießrutenlauf umfunktionieren lässt. Nichts wird dem Zufall oder dem jeweiligen landesüblichen Hang zum anti-chinesischen Protest überlassen. Jede Etappe ist von den eingangs erwähnten Nicht-Regierungs-Organisationen und den Veranstaltern des Tibet-Gipfels in Brüssel minutiös geplant und mit anti-chinesischen Protestfiguren bestückt. Mit großem Polizeiaufgebot wird das kleine Feuer dann vor fanatisierten Demonstranten geschützt. Im Fernsehen, das natürlich rechtzeitig zur Stelle ist, kann die ganze Welt anschauen, wie sehr China dieses Schutzes bedarf, also angefeindet ist. Weil auch der schönste Fackellauf mit dem Beginn der Spiele zu Ende ist, denken die Think-Tanks der polit-olympischen Bewegung über weiterreichende Geschütze nach. Der Olympische Codex, der politische Demonstrationen in Wort und Tat in den Sportstätten untersagt, ist doch recht eigentlich als Maulkorberlass für Athleten zu betrachten. Die könnten doch einmal, fit sind sie ja, den Chinesen im Stadion kräftig die Meinung sagen. Zweifel gibt es aber auch. Fällt der Codex und das Verbot politischer Demonstration, ist die Olympiade tot, weil aus dem Sportfest schnell ein allgemeines zumindest verbales Hauen und Stechen wird, warnt das deutsche Olympische Komitee. Kosovaren gehen auf Serben los, Iraner auf Israelis, Polen rempeln Deutsche an – damit wäre der Geist der Oympiade am Ende und die Brauchbarkeit des Instruments dahin.

Will man die Olympiade erhalten, muss der Codex bleiben. Dieser Beschluss, eigentlich ganz im Sinne der politischen Erfinder, die das Spektakel als diplomatisches Instrument schätzen, zieht sich allerdings auch den Ärger höchster politischer Repräsentanten zu. Sie halten es offenbar nicht einmal vier Wochen alle vier Jahre aus, ihre wechselseitigen politischen Anfeindungen ruhen zu lassen. Feigheit vor dem Feind werfen sie den Funktionären der Olympischen Komitees vor, die sich mit dem Einwand revanchieren, dass man von einem Sportfunktionär nicht die Wirkung erwarten darf, die nur die Politik gegenüber China erzielen kann, aber nicht will. Und so geht der Zwist in die nächste Runde, wie man den chinesischen Gastgeber so gekonnt vorführt, dass der nicht mit Spielabbruch auf wirklich relevanten Feldern der zwischenstaatlichen Beziehungen droht.

China schlägt zurück und zeigt Grenzen auf

Unbegründet ist diese Sorge nicht. Denn China tritt als Weltmacht mit Selbstbewusstsein an und zeigt den Angriffen des Auslands gegenüber wenig Nachgiebigkeit, dafür umso mehr Grenzen auf. Es verbittet sich schon zu Beginn der Tibet-Unruhen jede Einmischung in innere Angelegenheiten, wertet umgekehrt auch Quasi-Staatsempfänge des Dalai Lama im Ausland als grobe Verletzung der Beziehungen, auf die China mit Einschränkungen wie etwa dem Abbruch der rechtsstaatlichen Konsultationen mit Deutschland auf Ministerebene antwortet. Auch und gerade China ist um sein weltöffentliches Ansehen bemüht, umso mehr, als ihm gerade dies bestritten wird durch die Attacken im Vorfeld der Olympiade, die auch noch nach regierungsamtlichen Verlautbarungen durch tibetische Anschläge auf die olympischen Arenen fortgesetzt werden sollen. Da bekommt der störungsfreie Ablauf der Spiele ein besonderes Gewicht, so dass Peking sich zu einem Zugeständnis genötigt sieht. Mit privaten Vertretern des Dalai Lama will man ein Gespräch führen, freilich nur, wenn Seine Heiligkeit von seinen separatistischen Forderungen ablässt.

Die französische Supermarktkette Carrefour, mit fast 200 Großfilialen im Reich der Mitte auf Wachstumskurs, wird mit einem nationalen Boykott ihrer Läden oder gar mit dem Ausschluss vom chinesischen Markt bedroht, sollte sie ihr Sponsoring für den Dalai Lama nicht sofort beenden. Der Rückzieher erfolgt prompt, versehen mit einer Liebeserklärung an die Olympiade und den chinesischen Gastgeber. Und selbst Sarkozy, der als erster westlicher Regierungschef die Idee eines Olympia-Boykotts in die Runde geworfen hat, ist mittlerweile die Tibet-Fahne auf dem Pariser Rathaus zu groß angesichts der wirtschaftlichen und politischen Interessen, die Frankreich in China zu verlieren hat. VW und Audi halten sich als offizielle Sponsoren der Olympiade politisch bedeckt und schauen lieber ihrem Umsatzwachstum beim neuen chinesischen Mittelstand zu, während Frau Merkel die Idee eines Boykotts der Eröffnungsfeier weder mit Ja noch mit Nein, sondern halbseiden beantwortet. Deutsche Kanzler fahren nie hin, also auch diesmal nicht.

Gleichzeitig darf die Weltöffentlichkeit bestaunen, dass Abermillionen chinesischer Bürger dieselbe ärgerliche Zivilisiertheit aufweisen wie ihre westlichen Artgenossen. Mit Stolz blicken sie auf den wachsenden Reichtum ihres Landes und die Entwicklung, die sich vollzieht. Die Verarmung von Abermillionen und die Ruinierung der natürlichen Lebensbedingungen buchen sie dabei als vielleicht ärgerliche, aber unvermeidliche Kost ab. Weit von jeder Kritik am chinesischen Kurs entfernt, engagieren sie sich als glühende Patrioten auf den Straßen und in Internetforen. Die Liebe zu ihrem Land erträgt die ausländische Demütigung überhaupt nicht. Die Abspaltung Korsikas vom Mutterland fordern sie in einem Anfall ironischer Rache genauso wie einen Boykott gallischer Unternehmen, um es den Franzosen einmal so richtig heimzuzahlen. Soviel Patriotismus hätte man eigentlich nicht erwarten dürfen in einem Land, das sich als gröbster Menschenrechtsverletzer der Neuzeit auf die pure Quälerei seiner Untertanen spezialisiert haben soll.

So ist die Botschaft insgesamt klar und vernehmlich: Auch China will die Kooperation mit den führenden Wirtschaftsmächten dieser Welt, weil es sie für seinen Aufstieg braucht. Aber es will sie nicht um jeden Preis. Dem Verlangen nach Unterordnung unter auswärtige Kontrollansprüche setzt China sein Beharren auf seine eigene nationale Definitionshoheit für seine wirtschaftliche und politische Entwicklung entgegen und fordert dafür, nicht ganz ohne Wirkung, Respekt ein.

Der Dalai Lama und seine Tibet-Politik:
Ein gläubiger Unruhestifter und seine Weltanschauung

Nichts von der antichinesischen Propaganda im Olympia-Jahr hat seine Ursachen in Tibet und den dortigen Unruhen. Interessant ist beides nur, weil es die aus anderen Gründen vorgetragene China-Kritik in den westlichen Metropolen mit Munition ausstatten soll. Aber auch der davon unbeeindruckte Blick auf Tibet, seine Gläubigen und ihren charismatischen Führer fördert nichts zutage, das Anerkennung oder Unterstützung verdient.

Die Galionsfigur des tibetischen Widerstandes, der Dalai Lama, wird von seinen Freunden weltweit gern als eher unpolitische, moralische Autorität eines kulturellen Anliegens gefeiert, gegen das eigentlich niemand, schon gleich kein ehrenwertes Mitglied der Weltstaatenfamilie, Einwände hegen kann. Bloß um das freie Ausleben von Glaube und Sitte soll es ihm zu tun sein, so dass man sich nur wundern kann, warum Peking dem nicht nachgeben will.

Diese Deutung ist schlicht verlogen. In der bloßen Praktizierung einer Religion ist das Projekt nie aufgegangen. Eine "Autonome Region Tibet" wurde zugestanden, geglaubt werden durfte in Tibet auch unter Mao und seinen Nachfolgern. Dass Peking sich immer wieder in religiöse Fragen einmischt, die Zahl der Mönche beschränkt oder sie mit patriotischen Erziehungskampagnen überzieht, bekämpft nicht den Glauben, sondern den separatistischen Geist, für den er steht. Die buddhistische Weltanschauung gilt dem Dalai Lama und seinen Anhängern als vorpolitische völkische Identität, die ihren wahren Ausdruck erst in einem nationalen Zusammenschluss, also einem eigenen Staat findet. Seine Heiligkeit, von der tibetischen Landbevölkerung gern auch als Gottkönig verehrt, wie das prominenteste deutsche Polit-Magazin zu berichten weiß, verkörpert zugleich geistliche und weltliche Macht. Letzteres zumindest dem Anspruch nach. Denn einstweilen haben die chinesischen Kommunisten die Hoheit über China, dessen Teil Tibet ist, so dass der Mann seine Pracht und Herrlichkeit in Gestalt einer Exilregierung in Dharamsala in Indien entfalten muss. Eine "Demokratische Verfassung für Tibet" verkündet er schon 1963 von dort aus, der nur noch die Herrschaft der regierenden Kommunisten in Peking entgegensteht.

Einstweilen ist das völkische Band der Tibeter daher bloß ideeller Natur, weil die politische Gewalt fehlt, die daraus mehr macht. Die Pflege dieses Bandes ist Chefsache, und da vermeldet der Dalai Lama schon seit längerem ein Schwerverbrechen Pekings. Eine fortschreitende Sinisierung will er entdeckt haben, weil mit dem Bau der Tibet-Eisenbahn immer mehr Han-Chinesen nach Tibet kommen und unschuldigen Tibetern mit einer Überfremdung das Leben schwer machen. Ein materieller Schaden liegt weder vor noch wird einer beklagt. Die Armut von Bauern und Nomaden in der Hochebene am Himalaya wiegt einfach nichts angesichts des Umstands, dass sich in ihrer Nähe Leute anderer ethnischer Herkunft und mit einer anderen patriotischen Gesinnung aufhalten. Und umgekehrt gelten eingeborene tibetische Kleingewerbetreibende und andere Beutelschneider als natürliche, weil ethnisch identische Bundesgenossen der von ihnen Ausgenutzten gleicher Herkunft.

In diesem Sinne gipfelt die Kritik der Sinisierung im Vorwurf vom "kulturellen Genozid", den der Dalai Lama öffentlichkeitswirksam in seiner "Botschaft zum 49. Jahrestags des tibetischen Volksaufstands" weltweit verbreitet. Die Spekulation auf Anklang greift dabei zum größtmöglichen Verbrechen, dass unter zivilisierten Staaten vorkommt und eingedeutscht Völkermord heißt, also etwa auf einer Stufe mit Auschwitz steht. Dass diese Wortwahl nicht durch die Faktenlage, sondern einzig durch die berechnende Absicht des Urhebers gedeckt ist, räumt das Attribut vom kulturellen Genozid selbst ein, weil ein wirklicher Völkermord dann doch nicht behauptet sein soll. Zum zweiten aber verrät der Terminus, worauf er spekuliert. Weil Glaube und Kultur die einzige Realisierung völkischer Einheit sind, geht mit der Sinisierung eben nicht nur die Sitte, sondern das Volk kaputt, das dadurch definiert ist. Und einem Quasi-Völkermord darf niemand tatenlos zusehen. Das gleicht einem Aufruf zur völkischen Notwehr, der prompt befolgt wird, weil viele Tibeter ihren Unmut über ihre bescheidenen Lebensumstände nicht dem bisschen ortsansässigen Wirtschaftsleben, sondern der ethnischen Herkunft chinesischer Ladenbesitzer anlasten. Nicht wenige werden erschlagen, ihre Läden angezündet.

Und selbstverständlich ist erst recht der Beistand des mächtigen Auslandes gefragt, um Peking in die Schranken zu weisen. Der Druck ist ja auch nicht ausgeblieben. Um seine Olympiade zu retten, hat Peking sich sogar zu einem Kurswechsel entschlossen und führt Gespräche mit Vertretern des Dalai Lama. Dass Regierungsvertreter den Verzicht auf separatistische Forderungen als Bedingung dafür nennen, quittiert die Fraktion des Dalai Lama wie üblich mit dem Verweis, sie könne nicht auf etwas Verzicht tun, das sie gar nicht verlangt hat, so dass der unvoreingenommene Beobachter leicht ins Grübeln kommen kann. Während zahlreiche Exiltibeter offen zum bewaffneten Kampf für eine endgültige Separation aufrufen, teilt sich der Dalai Lama angesichts der Macht seines Gegners beim Fordern lieber ein und sagt tatsächlich Autonomie. Was er dann darunter allerdings versteht, ist von der Separationsforderung seiner Landsleute nicht weit entfernt und schließt beispielsweise den Abzug aller bewaffneten chinesischen Kräfte aus Tibet ein, also die, wenn schon nicht rechtliche, so doch faktische Aufgabe der chinesischen Hoheit über einen Landesteil.

Die Autonomieforderung des Dalai Lama erfüllt in der Welt der Staaten keineswegs den Tatbestand einer bloß kulturellen Folkloreveranstaltung, die doch leichten Herzens genehmigt werden könnte, wie seine Anhänger es gern darstellen. Sie ist andererseits auch keine Sache, die den Bewohnern Tibets zu wünschen wäre, weil sie nicht die Verbesserung der Lebensumstände, sondern den Wechsel der Herrschaftsfiguren zum dringlichsten Anliegen der Leute erhebt. Und noch viel weniger wäre es ein Unglück, wenn nicht bloß die Autonomie, sondern auch noch die Weltanschauung auf der Strecke bliebe, in deren Namen sie weltweit begrüßt wird.

Die als Weltkulturerbe gefeierte tibetische Weltanschauung, der der Dalai Lama nicht nur vorsteht, sondern die er sehr berechnend weltweit zur Einwerbung politischer und finanzieller Unterstützung einsetzt, steht nämlich den abendländischen Fassungen des Glaubens in Sachen Dummheit und Gemeinheit in aber auch gar nichts nach. Nicht von Moses oder Allah, sondern von Siddharta, dem ersten Buddha, haben die Tibeter sich sagen lassen, dass das Leben eine Quelle des Leidens ist. Nicht nur die Natur mit ihren Krankheiten, vor allen Dingen die Begierde des Menschen gilt Buddhisten als größte Leidensursache, weil der empfundene Mangel des unbefriedigten Bedürfnisses schmerzt. Seine Befriedigung aber scheidet als Aufhebung des Mangels aus. Nicht, weil dem Ausbeutung und Herrschaft als Hindernis im Weg stehen, sondern weil die Wirklichkeit per se dafür nicht taugt. Weil vergänglich, gilt sie den Buddhisten gleich als bloßer Schein, so dass auf Sand gebaut hat, wer sie nutzen will. Wer den aus der unerfüllten Begierde folgenden Mangel überwinden will, muss also das Bedürfnis selbst abstreifen. Askese und Meditation sind der Weg dazu. Wer nichts mehr fühlt und nichts mehr begehrt, hat sich aus dem Daseinsleid befreit und die Erlösung im Nirvana, dem erlebten Nichts gefunden.

Mit diesem geistigen Verhau, mit dem sich schon die Opfer vormoderner feudaler Ausbeutung zu einem glücklichen Bewusstsein mitten in der Barbarei verhelfen wollten, geht der Dalai Lama hausieren und präsentiert ihn, je nach umworbener Klientel, in wechselnden Farben. Zuhause lässt er sich von seinen Landeskindern als Gottkönig feiern, die sich schon beim Anblick seines Bildes in den Staub werfen. Auf seinen Auslandsreisen präsentiert er sich einem polyglotten Publikum mehr als Vertreter demokratischer Werte, die er gegen Peking in Anschlag bringt. Seine Freunde aus dem Umkreis der universitären Intelligenz begeistert er mit seiner Philosophie über die Nichtigkeit des Daseins, aus der die sprichwörtliche Leidensfähigkeit und Bescheidenheit des tibetischen Menschenschlags folgt, um daraus in aller Unbescheidenheit das Anrecht auf ethnische Autonomie herzuleiten. Eigennützige Berechnung kann Seine Heiligkeit darin nicht entdecken. Eher die geistige Geschmeidigkeit, "für jeden das zu sein, was der andere will", damit er von ihnen bekommt, was er will, Zustimmung und Unterstützung. Die berechnende Verwechslung von Moral und Politik goutieren insbesondere die politischen Führungspersönlichkeiten an ihm, die sich zu seinen Freunden zählen. Sie befleißigen sich schließlich derselben Praxis. Nicht umsonst haben sie den Dalai Lama als ihre moralische Erstschlagswaffe gegen China schon frühzeitig mit einem Friedensnobelpreis nachgerüstet.