GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Milchskandal in China

Angesichts dieser Vergiftung der Milch, ja, da wäre er endlich mal angemessen und berechtigt: Der Plagiatsvorwurf. Ständig wird sonst chinesischen Firmen vorgeworfen, dass sie Produkte deutscher Firmen kopieren, um sie dann gewinnbringend in China oder auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Im Falle der chinesischen Milchvergiftung sagt jedoch niemand: "Ja, die Chinesen sind offenbar endgültig in der Marktwirtschaft angekommen. Sie kopieren dieselbe Sorte von Lebensmittelproduktion mit den ungesunden Folgen für den Verbraucher, wie man sie hierzulande schon zur Genüge kennt." Nein, nichts dergleichen wird in den hiesigen Zeitungen dazu vermeldet. Statt dessen wird den Chinesen diesmal quasi vorgeworfen, sie hätten die Lebensmittelverfälschung geradezu erfunden, zumindest seien Lebensmittelskandale eine typisch chinesische Eigenheit.

So heißt es in der FAZ vom 18. September: "Sonst aber ist fast alles, was in China an Lebensmittel produziert wird, mit Vorsicht zu genießen. Die jüngste Milchpanscherei ist nur der letzte in einer Reihe von Lebensmittelskandalen." Betrachtet man die Sache weniger voreingenommen, muss man doch feststellen, dass Lebensmittelverfälschungen und -vergiftungen zur Marktwirtschaft dazugehören; und das nicht nur in China. Die Skandale der letzten Jahre hierzulande waren - ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Antibiotika in Shrimps und Schweinefleisch, Salmonellen in Eiern, BSE im Rindfleisch, Nitrofen in Puten- und Hähnchenfleisch, Hormone im Schweinefleisch wegen kostengünstiger Entsorgung durch Verfütterung von abgelaufenen Anti-Baby-Pillen und überhaupt das Gammelfleisch. Und zu den beteiligten Firmen in China, die jetzt vergiftete Milch handeln und verarbeiten, gehören die großen und kleinen der gesamten milchverarbeitenden Industrie dazu, einschließlich der internationalen Multis wie Nestlé und Fonterra

Auch nach der Seite des Grunds der Vergiftung in China sind keine Neuigkeiten zu vermelden. Weil Lebensmittel auch dort Geschäftsmittel sind, haben die an der Produktion Beteiligten sich um ordentliche Gewinne gekümmert und deswegen die Milch zuerst mit Wasser verlängert und dies dann damit vertuscht, dass sie die Chemikalie Melamin untergerührt haben. Als gewissenhafte Kaufleute und Betriebsführer haben sie ihre Bilanzen entlastet und dadurch die Gesundheit der Konsumenten belastet, denn Melamin verursacht insbesondere bei Kindern Nierenschäden. Und daran sind mehrere Tausend Kinder ernstlich erkrankt und vier inzwischen gestorben.

Nichts Neues gibt es schließlich auch in der Technik der politischen Bewältigung der Affäre in China: So kennt man das auch aus Deutschland: Die Politiker an der Spitze sind empört, diagnostizieren als Grund des Übels einmal mehr "unglaubliche Schlamperei", "unbegreifliche Verantwortungslosigkeit", sogar "kriminelle Energie". Verantwortliche Politiker, Beamte und Betriebsleiter werden ausfindig gemacht, entlassen oder unter Anklage gestellt. Das ist aber die Art und Weise, das herrliche System der Gewinnerwirtschaftung zu entschuldigen, also mit Hilfe der erbittert gestellten Schuldfrage und des Versprechens der "lückenlosen Aufklärung". Dieses System misst den Nährwert von Lebensmitteln ausschließlich an der Spanne zwischen Gestehungskosten und Verkaufserlös und bringt wegen der Vergrößerung dieser Spanne eine agrochemische und biotechnische Errungenschaft nach der anderen zum Einsatz.

Man ist es doch gewohnt: Zu jedem Lebensmittelskandal gehört diese Sorte Aufgeregtheit, die die Beweggründe der Geschäftsleute bei den sich ständig wiederholenden Lebensmittelverfälschungen einerseits offen ausspricht. Auch hier heißt es in der FAZ: "Die Profiteure gehen über Kinderleichen" Andererseits ist diese Empörung aber nie als ein Einwand gegen das elementare Prinzip dieser Produktionsweise gemeint. Dieses Prinzip besteht schließlich darin, dass alles und damit natürlich auch die Lebensmittel mit dem Zweck der Gewinnerwirtschaftung hergestellt werden. Das wird von den Freunden des Kapitalismus als die Methode gelobt, um die Marktteilnehmer bestmöglichst zu versorgen. Wäre das wirklich der Zweck, die Menschheit mit den nötigen Gütern zu versorgen, käme doch keiner auf diese unappetitlichen, gesundheitsschädlichen Ideen bei Herstellung und Verteilung der Lebensmittel.

Die FAZ, bekannt als Propagandistin der Marktwirtschaft, fragt "Wenn die Reinheit von Milchprodukten und anderen Lebensmitteln für ausländische Gäste garantiert werden kann- warum dann nicht für chinesische Kinder? Die Antwort liegt in einer einfachen Feststellung der Aufsichtsbehörden: Zu normalen Zeiten fehlt es an wirksamen Kontrollen." Gerade dieser Vorwurf an den Staat, der auch zu jedem Lebensmittelskandal hierzulande dazugehört wie das Amen in der Kirche, dieser Vorwurf geht von einem - unausgesprochen aber felsenfest - aus: Dass nämlich Gewinnerwirtschaftung bei der Herstellung und dem Vertrieb von Lebensmitteln diese ungesunden Resultate hervorbringt. Warum braucht es denn diese Vielzahl staatlicher Kontroll- und Aufsichtsbehörden? (Übrigens erfährt man in Zusammenhang mit dem Milchskandal in China, dass es auch dort jede Menge staatlicher Aufsichtsinpektoren gibt.)

Doch nicht um die Lebensmittelindustrie mit guten Ratschlägen zu versorgen. Diese Behörden sind allein in ihrer Existenz der Beweis dafür, dass die marktwirtschaftliche Produktion von Lebensmitteln wegen des Gewinninteresses systematisch zu solchen schädlichen Erzeugnissen führt. Denn jeder Schritt in der Herstellung, beim Transport und beim Verkauf wird gewinnmäßig durchkalkuliert und dementsprechend hergerichtet. Und an jedem Punkt - von der Bodendüngung und Tierfütterung bis zur Präsentation im Verkaufsregal für den König Kunde - an jedem Punkt gibt es jede Menge Ansatzpunkte, die Geschäftsbilanz zu verbessern und die Produkte darüber zu verfälschen - was der Gesundheit der Leute nicht gut bekommt. So wird auch die erbärmliche Rolle des Königs Kunde klargestellt. Er ist das Anhängsel von Gewinnrechnungen der Firmen der Lebensmittelbranche, und nicht nur der. Er hat gar keine andere Wahl, als die so hergestellten Lebensmittel zu konsumieren.

Das heißt, er kann bzw. muss mehr Geld ausgeben, wenn er sich Bio-Produkte kaufen will. Zwar ist die Existenz einer Unterabteilung der Lebensmittelproduktion unter dem Label "Bio" auch wieder ein einziger Beweis dafür, dass die ganz normale Lebensmittelproduktion - noch fern von jedem Skandal - nach einem anderen Kriterium abgewickelt wird als dem, mit bekömmlichen Lebensmitteln die Leute zu ernähren. Aber auch Bioprodukte verdanken ihre Existenz nicht dem Zweck, die Menschen mit gesunden Lebensmitteln zu versorgen. Sie versprechen das zwar, aber sie kalkulieren ebenfalls auf einen Gewinn. Den erzielen sie, indem sie den Verbraucher mit höheren Preisen zur Kasse bitten. Sie kalkulieren darauf, dass der Verbraucher sich die Hoffnung auf gesündere Lebensmittel etwas kosten lässt und sind so ein Teil der Konkurrenz der Branche um den mehr oder weniger schmalen Geldbeutel der Kundschaft. Daraus folgt ein Streit um die Definitionshoheit der Frage "Was ist eigentlich zu Recht 'Bio'"? Schon allein dieser Streit und die Kundgabe der verschiedenen Biofirmen, dass sie sich von sogenannten unabhängigen Instituten überwachen und kontrollieren lassen, ist ein einziges Zeugnis dafür, dass auch bei Produkten mit Bio-Etikett Kapitalismus drin ist. Die Bio-Firmen halten das für einen Qualitätsausweis. Aber wozu braucht es sonst strenge Kontrolle und Überwachung, wenn nicht das Bemühen nach guten Bilanzen ständig dabei ist, die Grenzen geschäftsmäßig zu definieren und auszutesten, innerhalb dessen 'Bio' gilt.

Dabei ist die gesamte Lebensmittelbranche ständig auf dem Sprung, jede Grenze bis zur Vergiftung zu überschreiten; in China und hierzulande.