GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

Was der Kollaps des Finanzsystems
über den Reichtum der kapitalistischen Nationen lehrt (Teil 2)

Im 1. Teil dieser Analyse haben wir die Grundlage des Bankgeschäfts erläutert. Die Bank stellt Kapitalisten Geld zur Verfügung, mit dem diese mehr Geschäft machen können, als es ihnen möglich wäre, wenn sie nur über ihr eigenes Kapital verfügen könnten. Die Bank bereichert sich über die Angewiesenheit aller Unternehmen auf fremdes Geld zur Ausweitung ihres Geschäfts und zur Beschleunigung des Umschlags ihres Kapitals, indem sie ihren Schuldnern Zinsen abverlangt. Darüber hinaus behandelt sie die Forderungen, die sie ihren Schuldnern gegenüber hat, gleich wieder als Geschäftsmittel: Sie werden ihrerseits wieder verkauft, beliehen und zur Grundlage weiterer Finanz-"Produkte", mit denen sich die Bank immer neue Geschäftsfelder und Bereicherungsquellen erschließt.

Die Zahlungsfähigkeit, die Banken und Finanzhäuser durch die Verwendung fremder Schulden als verkäufliche oder beleihbare Vermögenswerte erschaffen, verwenden sie selbstverständlich nicht nur und auch nicht überwiegend zur Kreditierung der Wachstums- und Konkurrenzbedürfnisse ihrer Kunden aus der "Realwirtschaft", sondern legen sie in allem an, was ihnen Zuwachs verspricht: in Aktien, Rohstoffe, edle Metalle und auch in zinstragende Wertpapiere, die andere Banken auf den Markt bringen. Damit befreit das Finanzkapital sein Wachstum und seine Rendite von den beschränkten Wachstumsbedürfnissen und Wachstumsgelegenheiten, die Industrie und Handel ihm bieten. Von einem Dienst des Finanzsektors an der Realwirtschaft ist da nichts mehr zu sehen: Diese Abteilung Kapital, auf die es für den Rest der kapitalistischen Wirtschaft so entscheidend ankommt, nutzt schlicht ihre Sonderstellung und akkumuliert aus sich selbst heraus. Sie radikalisiert ihre Fähigkeit, Geld ohne Umweg als Kapital zu nutzen, noch einmal. Dabei nutzt sie gar nicht wirkliches, vorhandenes Geld, sondern versprochenes, erwartetes Geld – Kredit eben –, also Geld, das sie nicht hat, als sich verwertendes Kapital. Die eine Bank beschafft sich Zahlungsfähigkeit, indem sie Kredit bei anderen Banken nimmt, und zwar derart, dass sie ihnen Wertpapiere, verzinste Rückzahlungsversprechen, verkauft, die sie auf die Erwartung herausgibt, dass sich der bisherige Erfolg ihres Geschäfts in alle Zukunft fortsetzt. Und sie gibt anderen Banken Kredit, indem sie von ihnen emittierte Wertpapiere kauft. In diesem

Kreditzirkel

kreieren die Finanzhäuser immer neue Investitionsgelegenheiten und zugleich die Investitionsmittel, die es braucht, um die Gelegenheiten wahrzunehmen. Sie geben einander und nehmen voneinander Kredit, schreiben sich dadurch immer größere Vermögen gut und zahlen und kassieren darauf immer mehr Zinsen und ähnliche Erträge. Würde das zwischen zwei Abteilungen einer Bank veranstaltet und sich die Bank damit reich rechnen, wäre es Schwindel. Sind die wechselseitigen Wertpapierkäufer und -emittenten mehrere Geschäftsbanken, handelt es sich bei dem Kreditgebirge, das der Bankensektor errichtet, um ein ehrenwertes Geschäft: Das Kreditsystem kreditiert sich selbst.

Das geht – so lange nämlich, wie die Anleger, also im Wesentlichen die Banken selbst, mitsamt ihren Investment- und Hedgefonds, mit den Geldvermögen, die sie sich gutschreiben und auf den Finanzmärkten immerzu umschlagen, nichts anderes anstellen wollen, als sie schleunigst wieder in profitable Anlagen zu investieren. Sobald aber, angestoßen wodurch auch immer, Zweifel an der endlosen Fortsetzbarkeit dieser Spirale aufkommen; wenn nicht nur einzelne, sondern viele Anleger nicht mehr immer neue Wertpapiere, sondern das Geld sehen wollen, das die Papiere immerzu bloß versprechen, dann wird schnell deutlich, dass keine Bank das Geld hat und zurückzahlen kann, das sie ihren Gläubigern schuldet und verspricht. Das heißt dann "mangelnde Liquidität": Die Banken glauben einander nicht mehr, dass ihre auf vielen Zetteln aufgedruckten verzinsten Rückzahlungsversprechen solide sind und verweigern einander den für die Fortsetzung der Kreditspirale notwendigen Kredit.

Die Kettenreaktion, die droht, wenn eine Großbank zusammenkracht, ist eine schöne Probe aufs Exempel: Warum kann die Pleite der deutschen Hypo-Real-Estate-Bank den ganzen nationalen Finanzplatz mitreißen? Warum hat der Zusammenbruch eines Wallstreet-Hauses wie Lehman Brothers die Potenz, das Weltfinanzsystem zu zerstören? Eben weil die Vermögen der Banken ganz überwiegend aus Schulden anderer Banken bestehen. Wenn eine ihre Schulden nicht mehr bedienen kann, dann geraten alle andern Banken in den Verdacht, dass sie in ihren Bilanzen ebenfalls diese wertlos gewordenen Titel stehen haben. Ihre Kreditwürdigkeit schwindet dahin, weil sie ihre Grundlage ja in Vermögen hat, das aus möglicherweise haltlos gewordenen Zahlungsversprechen von Konkurrenten besteht. Das beweist immerhin eines: In einem entwickelten Finanzsystem machen Banken ihr Geschäft nicht mit Geld, das sie haben oder sich leihen, sondern mit dem Kredit, den sie als die großen Zentren der Geldmacht genießen. Ihr Geschäftsmittel ist das Vertrauen ihrer Konkurrenten und darüber des breiten Publikums darauf, dass sie immer zahlen können, wenn sie müssen. Sie genießen nicht das Vertrauen, weil sie zahlen können, sondern sie können zahlen, weil und solange sie dieses Vertrauen besitzen.

Dass sich da periodisch Misstrauen einstellt, ist nur zu berechtigt. Schließlich bestehen die Vermögenswerte, die in gigantischem Ausmaß geschaffen und akkumuliert werden, nicht in wirklichem Geld, dem allgemeinen Zugriffsmittel auf den produzierten Reichtum, sondern in Versprechen auf zukünftige Zahlung von Geld. Solange das Vertrauen in die spätere Zahlung intakt ist, sind die Schuldtitel bei Bedarf zu Geld zu machen – so lange sind sie also geldgleiche Wertpapiere. Ist dieses Vertrauen in die künftige Zahlungsfähigkeit des Emittenten dahin, sinkt der Wert der von ihm herausgegebenen Papiere gegen Null. Da das eigene Vertrauen der Anleger aber der einzige Grund dafür ist, dass sie Vertrauen haben können, kippt dieser Zirkel immer wieder einmal in sein Gegenteil. Anlässe dafür gibt es genug. Das müssen nicht, können aber auch misslungene Geschäfte in der Realwirtschaft sein. Im Umkippen des Vertrauens und im verzweifelten Versuch, Schuldpapiere – auch unter Verlust – noch zu Geld zu machen, wird offenbar: Die Finanzvermögen sind nicht der wirkliche kapitalistische Geldreichtum, der sie sein wollen und als der sie an den Börsen gehandelt und bezahlt werden, sondern nichts als spekulative Vorwegnahmen, Anspruchstitel auf künftigen Reichtum, den es – wie man dann bemerkt – nicht gibt. Sobald überhaupt die Frage aufkommt, ob Geld, das die Wertpapiere versprechen, wirklich vorhanden ist, erweist sich das durch Arbeit und Ausbeutung geschaffene und vermehrte Geld immer als viel zu wenig. Solche Zusammenbrüche der spekulativ geschaffenen Reichtümer sind nicht neu. Wenn sie gegenwärtig heftiger ausfallen als meistens, wenn nicht nur dieser oder jener Sektor des Finanzmarkts kracht und nicht nur das eine oder andere Land vor dem Bankrott steht, sondern das ganze Weltfinanzsystem zusammenzubrechen droht, dann nur, weil die finanzkapitalistische Akkumulation, die diesem Ende vorherging, besonders groß, weil global, war.

Die Staaten retten ihr Finanzsystem

Jetzt springen Regierungen ein und hauen die bankrotten Banken heraus: Die Regierungen aller wichtigen Industrienationen stecken Milliardensummen in die insolvente Bankenwelt; die US-Regierung wendet die unvorstellbare Summe von zusammengerechnet einer Billion Dollar auf, um den laufenden Zusammenbruch ihres nationalen Kreditsystems zu stoppen – inzwischen sind diese Summen weltweit längst um vieles größer und immer noch unzureichend. Die Pleiten der großen Spekulanten sind offenbar keine Privatsache. Mit ihrem gewaltigen Einsatz bekennen die Staaten, dass eine funktionierende Spekulationsbranche das Lebenselixier ihrer Wirtschaft und ihrer eigenen Finanzen ist. Zahlungsfähigkeit – sowohl für die nötigen Investitionen der nationalen Wirtschaft wie für den Bedarf des Staatshaushalts – im Prinzip unbegrenzt, allein durch die Benutzung des Vertrauens in die Kreditmacht der Geldhäuser mobilisieren zu können, das ist die entscheidende ökonomische Potenz einer Nation in der kapitalistischen Welt. Am Grad, in dem sie über diese Potenz verfügen, unterscheiden sich die Staaten; solche, die diese Kreditmacht nicht bei sich versammeln können, bleiben auf ewig arm und ohnmächtig – solche, die sie verlieren, werden es schnell.

Ihren überragend wichtigen Dienst leisten die Finanzkapitalisten ihrem Vaterland um so besser, zu je mehr Freiheiten es sie in ihrer spekulativen und an gar keinem Dienst orientierten Vermehrung ihrer Bankprofite, ihrer Schuld- und Vermögenstitel ermächtigt hat. Deshalb sind die Vorwürfe der Politiker an die "Zocker und Spekulanten" in den Finanzagenturen so unehrlich: Die jeweiligen Regierungen selbst haben ihnen jahrzehntelang immer größere Freiheiten eingeräumt, um Wachstum und Ertrag des Finanzsektors zu steigern. Wenn die Spekulation der großen Geldhäuser platzt, dann ist für deren Rettung kein Opfer an staatlichen Geldmitteln zu schade: Der Staat "versichert" alles, wirft seine eigene Kreditwürdigkeit ins Feuer, belastet den zukünftigen Staatshaushalt und gefährdet die Währung. Darüber wird das ganze Volk in Haftung genommen: Der Dienst der Geldkapitalisten am Gemeinwesen besteht in ihrer Bereicherung. Damit die klappt, muss das Arbeitsvolk nicht nur in der Realwirtschaft seinen Dienst tun und billig Leistung abliefern. Führt das Auffliegen der Finanzspekulation zum Kollaps, bekommt das Volk darüber hinaus die inflationären Wirkungen der Milliardensummen zu spüren, die der Staat für die Rettung des Kreditsystems in Umlauf bringt.

Das ist für den Reichtum kapitalistischer Nationen unerlässlich: Das Geldkapital verkörpert gegenüber den vielen Kapitalen in Handel und Industrie das Kapital als solches. Sein Geschäft, Geldeigentum ohne jeden Zwischenschritt zur Quelle von mehr Eigentum zu machen, muss gelingen, damit alle anderen Geschäfte gelingen können. Von der spekulativen Bereicherung der Finanzmagnaten ist das gesamte Wirtschaftsleben des Landes abhängig gemacht, auch Arbeit und Lohn der eigentumslosen Masse.

Wer diesen Wahnsinn nicht angreifen will, sollte auch nicht darüber schimpfen, dass der Staat bei der Not der Armen jeden Euro spart, für Banken in Not aber die für die Rettung des Finanzsystems nötigen drei- bis vierstelligen Milliardenbeträge springen lässt.

(Teile 1 und 2: Überarbeitete Fassung des Artikels "Ehrenwerte Geschäfte – Was der Kollaps des Finanzsystems über den Reichtum der kapitalistischen Nation lehrt" von Peter Decker in "junge Welt" vom 29.09.08)

Lesetipp:
Mehr über das Thema "Finanzkapital" (Teil I: Die Basis des Kreditsystems: Von der Kunst des Geldverleihens) steht im soeben erschienenen GegenStandpunkt 3-08. Dort ist im Artikel "Anmerkungen zur Krise ’08" auch das Wichtigste über die aktuelle Finanzkrise nachzulesen.


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