GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

‘Linksruck’ in Lateinamerika, Teil2

IV. Der innere Machtkampf um die ‘nationale Erneuerung’

Erledigt ist mit diesem demokratischen Wechsel zu Hugo Chávez aber noch gar nichts. Denn da wechselt nicht bloß das Führungspersonal innerhalb einer Obrigkeit, deren staatlicher Zweck allseits geteilt, im Herrschaftsapparat und auch in den anderen Parteien verlässlich verankert ist, und der für die Verfolgung ihrer Interessen ein ökonomisch sortiertes und staatsbürgerlich ausgerichtetes Volk zu Gebote steht. Mit dem neuen Staatschef ist ein alternativer Staatszweck gegen den Willen der bisher politisch alleinzuständigen Parteien, gegen die Interessen des bestimmenden Teils der Gesellschaft, gegen die Ausrichtung und Grundüberzeugungen des gesamten Staatsapparats einschließlich der etablierten Öffentlichkeit ins oberste Amt gekommen. Das neue Staatsprogramm verfügt also über keinerlei gefestigte Macht. Es muss erst einmal in Staat und Gesellschaft verankert werden; neue Loyalität muss gestiftet werden; es braucht Strukturen, um das staatliche Kommando durchzusetzen – gegen alle, die bisher den Staat als den ihren beansprucht, geführt und verwaltet haben, und deren Interessen mit dem politischen Wechsel in Frage gestellt, aber nicht außer Kraft gesetzt; die angegriffen, aber nicht entmachtet sind. Die neue Führung bekommt es ständig mit der Gegnerschaft von Seiten der ‘Leistungsträger’ des alten Systems zu tun, die sich durch die demokratische Legitimation der neuen Führung nicht befrieden lassen, sondern mit jedem neuen Votum der Massen, deren Ansprüchen sie eine politik-bestimmende Rolle nicht zubilligen, nur neu herausgefordert fühlen. So gerät der nationale Aufbruch zu einem dauernden Machtkampf mit den bisherigen Stützen und Nutznießern der Politik. Die alten Eliten und ihr Anhang in Staat und Gesellschaft, die Staatsbürokratie, die Justiz, Teile des Militärs leisten in Venezuela offenen und versteckten Widerstand in Form von Putschversuchen, Sabotage und Obstruktion. Chávez hat sich dadurch nicht beeindrucken, sondern durch die Widerstände nur darüber belehren lassen, wie ernst der ‘Kampf gegen die Oligarchie’ ist, und ist selber radikaler geworden.

Zunächst nimmt er die Durchsetzung seines Kommandos in den Institutionen in Angriff: Der Machtapparat wird, soweit es geht, neu besetzt, die widerspenstige Bürokratie soweit möglich ausgewechselt und das Ölmanagement, nachdem es die Ölförderung monatelang lahmgelegt hat, samt Gewerkschaft ersetzt. Weil auf die alte Verwaltung und auf bisherige Fachleute kein Verlass ist und sich zudem ganz neue Aufgaben der Volksbetreuung stellen, bekommt die alternative Volks-Hochschule den Auftrag, mit Persönlichkeits-‚ und Fachausbildung eine zuverlässige Helferschar für die Staatsverwaltung und die Anleitung und Betreuung der massenhaften Initiativen und ‘Missionen’ auszubilden. Es werden verfassungsmäßige Instrumentarien für die Stärkung der Präsidentenmacht geschaffen, an der die Durchsetzung des politischen Programms wesentlich hängt: mehr Vollmachten, ein Ermächtigungsgesetz, das die parlamentarischen Zustimmungsprozeduren aussetzt, demnächst die Möglichkeit einer dauerhaften Wiederwahl. Alles das, was hier als Beweis der ‘Machtversessenheit’ von Chávez gilt, beruht darauf, dass sein Vorhaben auf unabsehbare Zeit auf die Bewältigung einer Kampfsituation hinausläuft. Durchgesetzt werden diese institutionellen Änderungen mit Hilfe von planmäßigen und außerplanmäßigen Abstimmungen und Wahlen, die ihm regelmäßig die demokratische Legitimierung durch die Volksmehrheit verschaffen.

Mit der demokratischen Übung, die Massen als Stimmvieh antreten zu lassen, gibt sich der Präsident, dem Kritiker vorwerfen, er wäre als ‘machtbesessener Populist’ nur auf Akklamation durch ‘die Straße’ aus, nicht zufrieden. Er hält es mit seinem Vorbild Fidel Castro. Das Volk soll nicht als bloße Wählermannschaft seiner Führer aufmarschieren und dann gehorchen; es wird mit dem Auftrag versehen, sich massenhaft politisch zu engagieren, weil es an der Durchsetzung der Politik unter Anleitung von oben als Helfer, Mitträger und Aktivist mitwirken soll, und weil die Bevölkerung gebraucht wird als entscheidende Stütze der Herrschaft im Machtkampf. Dafür wird sie permanent agitiert. Wenn Chávez in seiner Radiosendung den Bedürfnissen der einfachen Leute öffentlich Gehör schenkt, ihrem Gerechtigkeitsempfinden Ausdruck verleiht, als Anleiter und Beaufsichtiger der Aufbauanstrengungen auftritt, oder sich öffentlich als Vorkämpfer gegen seine und des Volkes Gegner betätigt, dann spricht er die Massen als Volk an, durchaus um sie von der Rolle des gehorsamen Volkes, das seine Führung bestimmen lässt, wegzubringen. Sie werden ständig aufgerufen, gemeinsam mit ihrer Führung gegen die ‘Oligarchie’ aufzustehen und die ‘Errungenschaften der Revolution’ zu verteidigen. In die Verfassung sind basisdemokratische Elemente einer Kontrolle der Repräsentanten, aber auch der Gesetzesbeschlüsse und ihrer Umsetzung eingebaut, damit das einfache Volk dann auch im alltäglichen Kleinkrieg gegen die widerstrebenden Teile der Gesellschaft tätig wird: Es soll die Unternehmungen und öffentlichen Tätigkeiten überwachen, die sozialen Werke und volksdienlichen Einrichtungen gegen Sabotage schützen und immer aufs Neue mit Aufmärschen seine Bereitschaft zur Verteidigung seiner neuen Herrschaft demonstrieren, um die politischen Gegner einzuschüchtern. Der mit der Gewaltfrage vertraute Offizier an der Macht rechnet damit und erfährt es ja auch laufend, dass seine Gegner von sich aus keinen Frieden mit seinem Regime schließen. Also ist ihre Einschüchterung durch die glaubwürdige Drohung mit einer zu allem entschlossenen Volksbewegung angebracht. Daher kümmert sich Chávez nicht nur um die Loyalität des Militärs, sondern auch darum, das Volk verteidigungsbereit zu machen.

Darüber hinaus erwächst aus dem Gang der an die Macht gewählten ‘Bewegung’ der Bedarf, die politische Führung zu festigen. Die bisher nur ans Sich-Durchschlagen gewöhnten, zum Teil erst frisch alphabetisierten Massen, die sich in Nachbarschaftszirkeln mobilisieren und politisieren lassen sollen, brauchen verlässliche Anleitung, eine Ausrichtung an verbindlichen gemeinsamen politischen Zielen, damit ihr Basistreiben nicht zu einem einzigen Durcheinander gerät. Die engagierten Aktivisten zerstreiten sich dann regelmäßig wegen ihrer unterschiedlichen Vorstellungen, wie das politische Großexperiment vorankommen soll, ob die ‘Bewegung’ sich überhaupt mehr ‘basisdemokratisch’ spontan oder mehr ‘angeleitet’ von oben zu entwickeln hätte. In der Führungsriege konkurrieren Vertreter verschiedener Parteien mit divergierenden Ansprüchen und Programmen. Zusammengehalten werden sie nicht durch programmatische Einigkeit, sondern durch die Teilhabe am Regieren und den gemeinsamen politischen Gegner. Manche machen von vornherein nur bedingt mit, anderen leuchten die Übergänge und Radikalisierungen nicht ein, die das Programm unter Leitung des rastlosen Präsidenten erfährt; sie springen ab. Und all diese Auseinandersetzungen werden aufgerührt, immer nur notdürftig gebremst und vereinheitlicht durch den Anführer der Bewegung. Daher kommt nicht nur bei ihm das Bedürfnis nach Konsolidierung der ‘Bewegung’ in Gestalt einer neuen ‘Einheitspartei’ auf. Damit ist dann allerdings ein neuer Kampf innerhalb dieser ‘Bewegung’ eröffnet, wie die gegensätzlichen politischen Vorstellungen, Erwartungen und Ansprüche sich unter das Dach einer solchen Partei subsumieren lassen.

V. Der außenpolitische Kampf um die ‚zweite Befreiung Lateinamerikas’

Das Programm des führenden ‘Linksnationalisten’, sein Land nicht mehr zum Armenhaus verkommen zu lassen, mag sich bescheiden ausnehmen; es ist dennoch ein Aufbegehren gegen die Rolle, die eine venezolanische Regierung nach dem Willen der den Weltmarkt beherrschenden Staaten ausfüllen soll, also auch eine Insubordination gegen die Weltordnungszuständigkeit der USA. Als Aufstand gegen die Vorherrschaft der USA ist es von seinem Betreiber auch gemeint: als Beendigung einer Politik, die mit Amerikas geschäftstüchtigen Interessen und machtvollem Einfluss positiv kalkuliert und sich in eine amerikanische Weltordnung einfügt. Chávez wehrt sich gegen die materiellen Beschränkungen, gegen die politischen Einengungen und strategischen Einordnungen, also gegen die Schranken der Souveränität, die die Vormacht mit ihren ‘Hinterhof’-Ansprüchen seiner Nation zumutet. Er propagiert und führt einen Kampf darum, diese Schranken zu durchbrechen und international andere Verhältnisse zu erreichen: eine nicht mehr amerikanisch dominierte und – das ist für ihn halt dasselbe – nicht mehr der geschäftlichen Ausnutzung und politischen Unterordnung anderer Staaten dienende Staatenordnung, in der mit dem Respekt vor der Souveränität ihrer Herrschaften auch die Völker zu ihrem Recht kommen sollen. Auch hier versteht er sich als Fortsetzer des kubanischen Aufstands gegen die Oberimperialisten in Washington.

Damit will er zugleich seine nationale Sache absichern. Denn dass es mit einer nationalen Verweigerung nicht getan ist, sondern internationale Gegenmacht nötig ist, das ist ihm klar. Daher bemüht er sich darum, eine Koalition möglichst gleich gesinnter Staaten zu bilden und die Weltöffentlichkeit dafür einzunehmen. Für seine Ideen einer besseren Weltstaatenordnung agitiert er deshalb nicht nur auf der offiziellen diplomatischen Bühne in der UNO und bei anderen Staatenversammlungen, sondern demonstrativ auch auf Alternativgipfeln und Veranstaltungen von Globalisierungsgegnern.

Die Bemühungen um eine alternative Staatenordnung betreffen zunächst und vor allem Lateinamerika. Dessen Regierungen sollen sich auf ihre sozial und politisch entrechteten Völker besinnen und sich deswegen dafür stark machen, amerikanische ‘Bevormundung’ abzuschütteln und sich aus der Abhängigkeit von den USA zu befreien. Mit Berufung auf Bolivar propagiert Chávez die Idee einer neuen gesamtlateinamerikanischen Nation, eine ‘zweite Befreiung’ Lateinamerikas vom ‘Neokolonialismus’ der USA, einen Zusammenschluss aller durch die US-Hegemonie geschädigten Länder des ‘Südens’. In diesem Sinne entwirft er ein Gegenprogramm zu den von den USA eingerichteten oder geplanten Institutionen, mit denen die in ihrem lateinamerikanischen Hinterhof Abhängigkeitsverhältnisse zementieren, Sondersphären amerikanischen Kapitals, politischen Einflusses und strategischer Kontrolle errichten, aber auch zu den sonstigen Weltmarkt- und Weltaufsichtsinstrumenten unter US-Führung: Statt der ALCA, dem US-Projekt einer gesamtamerikanischen Sonderwirtschaftszone eine ALBA, also ein eigenes lateinamerikanisches Wirtschaftsbündnis; das soll dem sozialen Fortschritt der Bevölkerung in den jeweiligen Ländern statt amerikanischer Bereicherung an ihnen dienen, das soll für echten wechselseitigen Nutzen unter ihnen bürgen, und das soll sie am Ende mit einer eigenen Einheitswährung endlich von der Dollarvormacht befreien; ferner ein gemeinsames lateinamerikanisches Entwicklungs- und Anti-Hungerprogramm; statt der US-NATO eine lateinamerikanische SATO; eine alternative Institution zum IWF, in der nicht immer nur die kreditmächtigen Metropolen das Sagen haben – ein komplettes Spiegelbild der Instrumentarien der gegenwärtigen imperialistischer Staatenkonkurrenz, aber im antiimperialistischen Geist.

Als materiellen Hebel setzt Chávez das ihm zur Verfügung stehende Mittel ein: das Öl. An Cuba wird Öl zum Sonderpreis verkauft und nicht gegen Dollar, sondern gegen Ärzte und andere Güter verrechnet, also ein Verkehr zwischen den Ländern nach dem Grundsatz beiderseitigen Nutzens eröffnet – eine Art gegenseitiger Entwicklungs- und staatlicher Überlebenshilfe gegen amerikanische Unterwerfungsansprüche. Ferner tritt Chávez als materieller Unterstützer gegenüber den Karibikländern auf, liefert auch ihnen Öl zu Konditionen, die auf deren Devisennot Rücksicht nehmen – eine Wirtschaftshilfe, die ein Gegenbild zur Ausplünderung durch die USA darstellen und diese Länder aus der US-Abhängigkeit lösen soll. Darüber hinaus eröffnet er mit den beiden lateinamerikanischen Hauptmächten Brasilien und Argentinien Beziehungen im Geiste des gemeinsamen Kampfes um politische und ökonomische Unabhängigkeit gegenüber den Anforderungen der Führungsmächte des Weltmarkts und ihrer Institutionen. Er projektiert einen lateinamerikanischen Energieverbund, der die Ölversorgung der Länder auf eigene Füße stellt und somit Liefer- wie Bezieherländern nützt. Er finanziert mit Öldollars Argentiniens Rückzahlungen an den IWF mit der politischen Perspektive, das Land im Kampf gegen die Bevormundung durch die internationalen Gläubiger zu unterstützen. Wegen der Sonderbündnisse von Kolumbien und Peru mit den USA tritt er aus dem Andenpakt aus und umgekehrt dem Mercosur bei, mit der erklärten Absicht, dieses Wirtschaftsbündnis als Vorbild für eine antiamerikanische Einheit Lateinamerikas auszugestalten.

Mit all dem rührt Chávez die Gegensätze im lateinamerikanischen Hinterhof der USA auf. Die von den USA angefeindeten Überzeugungspolitiker an der Macht in Cuba und Bolivien werden ideell wie materiell gegen die USA gestärkt. Andere Regierungen sehen sich wegen ihrer nationalen Verbindungen zu Washington angefeindet, erhalten umgekehrt von dort den Auftrag, sich gegen diese Störenfriede eindeutig auf die Seite der USA zu schlagen. Bei Argentinien und Brasilien finden die laufenden Anträge aus Caracas, sich gemeinsam mit Venezuela gegen die US-Hegemonie aufzulehnen, ein zwiespältiges Echo. Diese Staaten nehmen die diplomatischen und ökonomischen Angebote berechnend auf, um sie in ihre nationalen Programme eines ‘selbstbewussteren’ Lateinamerika einzubauen, die sehr wenig mit dem ‘bolivarischen’ Aufbruchsfanatismus von Chávez gemein haben. Zwar ist das Leiden an der Vorherrschaft der USA Bestandteil auch ihres Nationalismus. Aber als Chefs von ‘Schwellenländern’, die keinen Aufstand gegen den Weltmarkt unternehmen, sondern sich eine bessere Position in ihm erobern wollen, rechten sie deshalb um einen besseren Zugang zum amerikanischen und europäischen Markt und um mehr politisches Gewicht im Kreis der bestimmenden Mächte. Sie schätzen die Kredite Venezuelas, stehen aber den Verstaatlichungen und dem Energieprojekt zwiespältig gegenüber, zumal dadurch eigene nationale Unternehmen betroffen sind. Vor allem wollen sie sich nicht auf die radikale Linie des Hinterhofrebellen gegenüber den USA festlegen lassen. Als berufene lateinamerikanische Ordnungsmächte demonstrieren sie ihre Unabhängigkeit gegenüber den USA, aber zugleich ihre Distanz zum venezolanischen Kurs und ihren Willen, Chávez zur Mäßigung zu bewegen und zur Ordnung zu rufen.

Dass sich das Leiden an amerikanischer Vorherrschaft bei anderen Regierungen aus eigenen Machtambitionen und keineswegs aus dem Eintreten für alternative Grundsätze zwischenstaatlichen Verkehrs speist, wenn deren Staatschefs gegen staatliche ‘Bevormundung’ und eine ‘unipolare Weltordnung’ diplomatisch zu Felde ziehen, kann Chávez also nicht verborgen bleiben. Das hält ihn aber nicht davon ab, auch dort Bündnispartner zu suchen, wo von einer Kritik an Weltmarkt und Weltmacht keine Rede sein kann. Auch außerhalb Lateinamerikas bemüht er sich um Kooperationen mit allen, die er durch die USA herausgefordert, geschädigt und angefeindet sieht. Nach dem Grundsatz: Amerikas Feinde sind unsere natürlichen Verbündeten, sucht er demonstrativ diplomatischen Verkehr mit den ‘Schurkenstaaten’: Iran, Syrien, Weißrussland. Mit den Ölstaaten unter ihnen sucht er sich auf eine gemeinsame Opec-Politik zu einigen und betreibt mit dem Iran das Projekt, die Abrechnung des Öls auf Euro umzustellen. Auch bei imperialistischen Konkurrenten der USA präsentiert er sich als Mitstreiter in gemeinsamer Sache. Russland, China und Indien erklärt er zu natürlichen Verbündeten im Kampf um eine ‘multipolare’ Weltordnung, mögen die darunter auch etwas ganz anderes verstehen als einen lateinamerikanischen Aufstand gegen US-Ansprüche. Praktisch nutzt er deren Interessen dafür, Venezuela möglichst viele nützliche Beziehungen unabhängig von und gegen die USA zu eröffnen. Chinesische Investitionen, russische Waffen, Waffen- und andere Geschäfte mit europäischen Ländern wie Spanien, soweit die sich gegen Washingtons Willen darauf einlassen – das alles soll praktisch helfen bei der Bekämpfung der Abhängigkeit von Amerika. Gleichzeitig lässt es sich Chávez aber nicht nehmen, überall wo es geht, sein Alternativmodell volksdienlicher internationaler Beziehungen zu propagieren und damit seine auswärtigen Gegner, allen voran die US-Regierung, bloßzustellen: Armenviertel in den USA werden mit venezolanischem Öl versorgt, mit einigen amerikanischen Städten und mit London handelt er den Austausch verbilligten Öls gegen Hilfen beim Aufbau venezolanischer Dienstleistungen und Infrastruktur aus.

Wenn sich ausgerechnet ein Hauptöllieferant der USA als praktischer Kritiker aller amerikanischen Ansprüche aufführt, und das auch noch in ihrer originären Dollar- und Einflusszone, dann ist das für Washington untragbar. Die ökonomische wie politische Vormacht besteht deshalb auch auf der Ausrichtung dieser Länder an den funktionellen Rollen, die sie für den Weltmarktführer und die oberste Weltordnungsmacht spielen, auch wenn die betroffenen Staaten mit ihren Ansprüchen dabei auf der Strecke bleiben und eher lauter Schäden bilanzieren. Die Unzufriedenheit, die bei den Unterlegenen in der Staatenkonkurrenz auf dem von den USA dominierten Weltmarkt und unter den von ihnen beaufsichtigten Machtverhältnissen notwendig aufkommt, ist für sie nicht hinnehmbar, zumal wenn sie als offen verkündetes nationales Aufbegehren praktisch wird. Venezuela ist insofern eine einzige Herausforderung: Mit seinen Sonderbeziehungen zu Kuba, mit seinen Einflüssen auf andere Länder, mit seinen Verbindungen zu Guerilla-Bewegungen, mit seinen Nachahmern bedroht es Amerikas Ordnung in der Region; und mit seiner Iran-Connection fügt es sich in das weltweite Bedrohungsszenario Amerikas ein. Die USA ordnen Venezuela deshalb als ‘nicht voll kooperative’, also nach ihrer Definition an der Schwelle zum Schurkenstaat stehende Herrschaft in ihren Antiterrorkampf ein. Ohne eine generelle Korrektur des nationalen Programms, also ohne eine Entmachtung der Führung, die dieses Programm so entschieden vertritt, ist für Washington auch dieser Fall nicht erledigt. Entsprechend agieren die USA mit ihrem Einfluss: Sie begrüßen und unterstützen die Umsturzversuche der Opposition im Innern, sie listen die Vergehen des Regimes auf, betreiben die Isolierung Venezuelas, erlassen ein Waffenembargo und tun einiges dafür, die Staatenumgebung und sich selber drohend gegen Venezuela aufzustellen.

PS. zum schlechten und zum guten Ruf eines antiimperialistischen Abenteuers

Die Chávez-Regierung unternimmt den ernsthaften Versuch, nach eigenen hohen Maßstäben der Fürsorge fürs Volk, der Massenfreundlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit Venezuela gut zu regieren. Sie unternimmt dieses Experiment inmitten einer Welt souveräner Staatsgewalten und der von denen errichteten und gestützten Privatmacht des Kapitals, die für diese Art der guten Regierung nichts übrig hat; deren mächtige Sachwalter stufen vielmehr schon jede Ausnahme von ihren, auf sie und ihren Nutzen zugeschnittenen Regeln des freien Kapitalverkehrs und einer funktionierenden Weltordnung als Schadensfall ein, der unbedingt eingegrenzt und über kurz oder lang ausgebügelt werden muss. Und nicht nur das. Chávez und seine Mannschaft unternehmen ihr Abenteuer einer volksfreundlichen Herrschaft mit den Mitteln eben der imperialistischen Welt, gegen die sie sich damit aufstellen: mit Gelderlösen aus dem Ölverkauf. Sie bedienen sich einer Einnahmequelle, die nicht wirklich ihrer eigenen Verfügungsmacht unterliegt: Autonomen Zugriff haben sie nur auf ihren Exportschlager, nicht aber auf die Zahlungsbereitschaft auswärtiger Interessenten, die damit eine kapitalistische Akkumulation in Schwung halten, wie Venezuela sie zwar angestrebt, aber nicht hingekriegt hat; das Volk, über das sie politisch verfügen, gibt selber die Mittel für eine nennenswerte politische Macht, geschweige denn für gute Regierung im Sinne der "bolivarianischen Revolution" nicht her. Diese Geldquelle, mit der Venezuelas Regierung ihr Programm einer antiimperialistischen "good governance" betreibt, bedarf im Gegenteil der beständigen Absicherung durch besondere politische Bemühungen um die zahlungsfähige Kundschaft: um ein fortdauerndes Geschäftsinteresse von Ölkonzernen aus den USA, also ausgerechnet der Nation, gegen deren politische Vormundschaft und Zugriffsmacht die Chávez-Regierung sich wehrt; um die Weckung und die Pflege der geschäftlichen Interessen anderer, mit den USA mehr oder weniger offen rivalisierender Großmächte der kapitalistischen Weltwirtschaft. Für den Erhalt der nationalen Geschäftsgrundlage unerlässlich ist außerdem ein gewisses Einvernehmen mit der Konkurrenz, den anderen Erdöl exportierenden Staaten. Das muss gelingen, um inmitten einer auf imperialistischen Erfolg programmierten Staatenwelt einen eigenen nationalen Sonderweg ausprobieren zu können.

Und ausgerechnet dieses wacklige Experiment findet in der freien pluralistischen Weltöffentlichkeit ganz viel lautstarke Gegnerschaft – und auf der anderen Seite, unter Linken und Globalisierungskritikern, eine Menge Liebhaber.

Die freiheitlich-demokratischen Vorwürfe gegen Chávez und seine "bolivarianische Revolution" und insbesondere die Anfeindungen des europäischen imperialistischen Sachverstandes sind von einem Denunziationseifer getragen, als müssten die Medien mal wieder den Anfängen einer kommunistischen Weltrevolution wehren. Das Bemühen des Präsidenten um die Konsolidierung seiner Herrschaft wird mit dem Verdikt "undemokratisch" belegt; auch da, wo der Mann die solideste Legitimation durch gewonnene Volksabstimmungen vorweisen kann – dass es dabei nicht bloß um die förmliche Absegnung herrschender Verhältnisse durch deren Opfer, sondern um die Mobilisierung der Zu-kurz-Gekommenen für einen fortdauernden Machtkampf, insofern also wirklich nicht um ein Stück Demokratie geht, das ist freilich wahr. Unterstellt wird selbstzweckhafte Machtgier – so als gäbe es im Schoß des US-Imperialismus nicht weit bequemere Methoden, dieses Bedürfnis auszutoben, als die Verwendung der Staatsgewalt für ein Volksernährungs- und -erziehungsprogramm, mit dem der Präsident sich die Weltmächte zu Feinden macht, von deren Geld seine Herrschaft abhängt. Dem Programm selbst wird sein notwendiges Scheitern vorausgesagt: Die Ölquellen müssten versiegen, die Infrastruktur zusammenbrechen, wenn die Erlöse daraus nicht mehr in die Taschen kompetenter ausländischer Konzerne und anderer privater Nutznießer fließen. Das versichern in schamlos heuchlerischer Parteinahme für die "kleinen Leute" dieselben Experten, die ungerührt zu Protokoll geben, dass alle bisherigen Versuche, das Kapital zum nationalen Entwicklungshelfer zu machen, den ganzen lateinamerikanischen Kontinent nur in immer tieferes Massenelend geführt haben – sowohl die früheren staatskapitalistischen Experimente als auch die nachfolgende Politik des neoliberalen Ausverkaufs der Nation. Auf jeden Fall kann es sich beim Einsatz staatlicher Gelder für die Betreuung eines kapitalistisch nicht benutzten, also offensichtlich nutzlosen Volkes nur um sinnlose Zweckentfremdung eines Reichtums handeln, der nur in den Händen potenter Multis und in denen des globalen Finanzgewerbes richtig aufgehoben ist: Für ein buchstäblich ernst genommenes, mit Öleinnahmen finanziertes Armutsbekämpfungsprogramm ist in der globalen Marktwirtschaft einfach kein Platz, darauf besteht der marktwirtschaftliche Sachverstand – und zugleich natürlich darauf, dass das nicht etwa gegen die Marktwirtschaft und ihren globalen Siegeszug spricht, sondern dafür, solchen Abenteuern besser gleich als später ein Ende zu machen.

Gegen solche Anti-Chávez-Polemik werben Komitees und Initiativen der globalisierungskritischen Linken um Solidarität mit Venezuela, seinen Armen und seinem Präsidenten. Durch die erbitterten Denunziationen des Projekts eines "bolivarianischen" "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" lassen sie sich nicht irritieren, zu Recht – allerdings auch nicht darüber belehren, was für einen Unvereinbarkeitsbeschluss die den Globus regierenden bürgerlichen Herrschaften gegen solche Abweichler vom demokratisch-marktwirtschaftlichen Kodex guten Regierens längst erlassen haben. Sie interessieren sich nicht besonders genau für eine imperialistische Weltordnung, die es tatsächlich nur ganz schlecht verträgt, wenn auch nur eine Regierung irgendwo mit einem massenfreundlichen Umbauprogramm aus der Reihe tanzt; deren Hüter auf so etwas mit Ausgrenzung und Ächtung reagieren und deswegen Venezuela auf die Kandidatenliste für einen "regime change" gesetzt haben. Die wenig aufbauende Einsicht, dass die Macht- und Unterdrückungsverhältnisse in der heutigen Staatenwelt ihren Grund in der Staatsräson der großen marktwirtschaftlichen Demokratien haben, die aus ihrer Macht und der Reichweite ihrer Interessen ihr exklusives Recht ableiten, weltweit "Verantwortung zu übernehmen", und dass diese Verhältnisse deswegen auch nur dort zu beseitigen sind, wo die Weltordnungsgewalt, die dafür einsteht, tagtäglich reproduziert wird: Die Kritik würde allerdings auch schlecht zu der Hoffnung auf Weltverbesserung passen, die die Freunde Venezuelas auf den Adressaten ihrer Solidaritätsbekundungen setzen. Ausgerechnet das heikle Experiment von Chávez mit dem quasi-"dual use" staatlicher Öleinnahmen: mit der prekären Freiheit eines Drittweltlandes, Geldeinkünfte aus dem internationalen Energiegeschäft für seine Volksmassen zu verwenden, nehmen sie als praktischen Beweis dafür, dass "eine andere Welt möglich" sei – was ohne Zweifel stimmt, allerdings nur dann, wenn die Vorstellungen von einem "anderen", besseren Weltlauf außerordentlich bescheiden dimensioniert sind und außerdem die Betonung auf "möglich!" liegen bleibt. Ganz so zurückhaltend sind die Freunde der "bolivarianischen Revolution" dann doch nicht. Sie lieben ein Venezuela, in dem sie ihre eigenen Lieblingsideale wiederzuerkennen meinen: ein Eldorado der Basisdemokratie – wo die Chávez-Mannschaft sich an der leidigen Notwendigkeit abarbeitet, eine hinreichende Massenbasis für ihr abweichendes Staatsprogramm zu mobilisieren und bei der Stange zu halten; einen neu belebten "Sozialismus des 21 Jahrhunderts" – wo es vor Ort gerade mal darum geht, unter Einsatz von Petro-Dollars und Petro-Euros Überlebensnöte der Massen in den Griff zu kriegen, Verelendung einzudämmen und ein insgesamt eher unproduktives Volksbeschäftigungsprogramm geregelt zu kriegen. Sie setzen auf einen "möglichen" Anfang vom Ende des US-amerikanischen "Dollar-Imperialismus" – wo Venezuelas Regierung darum ringt, sich im Windschatten innerimperialistischer Rivalitäten überhaupt zu behaupten.