GEGENSTANDPUNKT GEGENARGUMENTE

'Linksruck’ in Lateinamerika

Chávez in Venezuela, Morales in Bolivien, Correa in Ecuador und der ehemalige Sandinistenchef Ortega in Nicaragua! In Lateinamerika kommen falsche Führer an die Macht, so jedenfalls die Meinung der hiesigen Begutachter und der offiziellen Politik. Nach übereinstimmender Auffassung ziehen diese Machthaber aus der zugegeben desolaten Lage ihrer Länder völlig falsche Schlüsse, sie verschreiben sich ökonomischen und politischen Zielen, die den gebotenen Sachverstand vermissen lassen, leisten sich Rückfälle in vergangene nationalistische Wirtschaftsprogramme, die längst der Untauglichkeit überführt sind, machen den Massen falsche ‘populistische’ Versprechungen und verschleudern dafür die Mittel ihrer Nationen. Eine hiesige Öffentlichkeit, die für einen ‘gesunden Patriotismus’ viel übrig hat, entdeckt in Lateinamerika gefährlichen ‘Links’-‘Nationalismus’. Sie ist unzufrieden mit der Kritik, die die neuen Führer am Zustand ihrer Länder anmelden, und mit den praktischen Folgerungen, die sie daraus ziehen, erst recht. Das Programm, das in Venezuela mit Chávez seit einigen Jahren an der Macht ist und das anderswo mehr oder weniger entschiedene Nachahmer findet, verstößt gründlich gegen alles, was die internationalen Sittenwächter des heutigen Weltmarkts an Ansprüchen gegenüber diesen Ländern für selbstverständlich halten.

I. Die Kritik am unerträglichen Zustand der Nation

Einem Hugo Chávez will nicht einleuchten, dass in einem mit Öl- und Erdgasreserven gesegneten Land wie Venezuela ein Großteil der Bevölkerung im Elend versinkt und mit Gewalt niedergehalten wird, während der Reichtum einer kleinen Oberschicht wächst; dass Ölmultis riesige Gewinne einfahren, während das Land Schulden akkumuliert; dass sich an Standortbedingungen wie Wasser- und Stromversorgung internationale Unternehmen bereichern, für die Masse der Bevölkerung aber diese elementaren Lebensbedingungen nicht ordentlich verfügbar sind.

Er zieht damit eine vernichtende Bilanz über die Eingemeindung Venezuelas als Öllieferland in den Weltmarkt im allgemeinen und über den Ende der 80er Jahre eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Kurs im besonderen: In den 80er Jahren sind die meisten Länder Lateinamerikas, auch Venezuela, nicht zum ersten Mal in eine umfassende Schuldenkrise geraten, weil die Erträge, die das internationale Geschäft ihnen eingebracht hat, zur Bedienung der steigenden Kreditlasten immer weniger ausgereicht haben. Die Öldollars und sonstigen Einkünfte aus den Geschäften mit Rohstoffen und Agrargütern sind von den privaten Nutznießern aufgezehrt worden bzw. ins Ausland geflossen, die staatlichen Deviseneinkünfte sind großenteils für den steigenden Schuldendienst verbraucht worden, die internationale Zahlungsfähigkeit ist mit immer neuen Schulden und dementsprechend wachsenden Ansprüchen der internationalen Kreditgeber aufrechterhalten worden. Auf diese Weise hat sich das kapitalistische Handicap geltend gemacht, dass die wesentliche Einnahmequelle dieser Länder die Nutzung ihrer Naturschätze und Agrargüter für den Bedarf der kapitalistischen Zentren, also für kapitalistische Geschäfte anderswo ist, dass sie selbst es zu einer weltmarktfähigen Industrie aber nicht gebracht haben. Den Status eines an Kapitalmangel leidenden ‘Rohstofflandes’ sind sie nicht losgeworden, er hat sich im Gegenteil für die meisten verfestigt. Staatliche Anstrengungen, eine lohnende nationale Produktion in Konkurrenz zu auswärtigem Kapital in Gang zu bringen, sind an der Überlegenheit der etablierten Weltmarktmächte und an den von diesen durchgesetzten Weltmarktbedingungen gescheitert. Und weil keine nationale Akkumulation in Gang gekommen ist, ist auch die Mehrheit des Volkes – kapitalistisch gesehen – für nichts gut und für einen Staat, der auf nationale Bereicherung aus ist, eine reine Last, verkommt daher in absoluten Elendsverhältnissen.

Aus dieser damaligen Schuldenkrise haben die lateinamerikanischen Regierungen in Übereinstimmung mit dem IWF und den internationalen Kreditgebern die Konsequenz gezogen, auf eine weitergehende Öffnung der Länder für auswärtige Geschäftsinteressen zu setzen, und haben das als den besseren Weg zu mehr nationalem Reichtum propagiert. Die Auslands-Beteiligung an der Rohstoffförderung und am Agrarexportgeschäft, in Venezuela insbesondere an der partiell verstaatlichten Ölindustrie, wurde zu Gunsten der Multis neu organisiert, um mehr auswärtiges Kapital für die Erschließung der Rohstoffe ins Land zu holen, um die Kreditwürdigkeit bei den privaten und staatlichen internationalen Finanzinstitutionen zu erhalten, sowie nicht zuletzt, um das Wohlwollen der USA, der gerade für Lateinamerika entscheidenden Weltmarkts-, Weltfinanz- und Aufsichtsmacht, zu sichern. Ferner wurden verbliebene Staatsunternehmen privatisiert; Wasser- und Stromversorgung, aber auch Telekommunikation und Banken verwandelten sich damit in Anlageobjekten vor allem amerikanischer und europäischer Multis – zu Bedingungen, die denen ein lohnendes Geschäft, Garantien für den Geldwert ihrer Gewinne und freien Devisenverkehr gesichert haben.

Das hat den Staaten zwar einige Milliarden zusätzliche Staatseinnahmen und neue Kredite eingebracht, sie aber bald erneut und auf neuer Stufenleiter in die Schuldenfalle geraten lassen und die Gegensätze im eigenen Land vorangetrieben. Die Privatisierung der Versorgungsbetriebe ist zu einem einzigen Anforderungskatalog an die Staaten geraten, rücksichtslos gegen die Massenarmut für entsprechende Preise und Gewinngarantien zu sorgen, so dass sich ein Großteil der Bevölkerung Wasser und Strom immer weniger leisten kann. Die Massenproteste sind teils gewaltsam niedergeschlagen, teils hinhaltend politisch ausmanövriert worden. Die Regelung der Konzessionen und Abgabenmodalitäten bei der Rohstoffförderung haben auch in Venezuela dafür gesorgt, dass trotz steigender Öl- und Erdgaspreise die Staatseinnahmen nicht entsprechend vorangekommen sind, während Multis im Verein mit dem Management des staatlichen Ölunternehmens von steigenden Öl- und Erdgaspreisen kräftig profitiert und wachsende Dollarvermögen zu Lasten der staatlichen Devisenbilanz ins Ausland verschoben haben.

Dieses international geforderte und national verbindlich gemachte ‘neoliberale’ Programm, als Anlagesphäre ausländischer Unternehmen voranzukommen, die Schuldenbedienung zum leitenden haushaltspolitischen Gesichtspunkt zu erheben und die einschneidenden Folgen für Land und Leute mit Gewalt zu managen, befindet Chávez für untragbar. Verelendung und gewaltsame Niederhaltung wachsender Volksteile auf der einen, inländische und ausländische Bereicherung zu Lasten des Gemeinwesens auf der anderen Seite beweisen ihm, dass es hier an einer ordentlichen national gesinnten Politik fehlt. Im Elend der Massen entdeckt er die Unterwerfung seines Landes unter fremde Reichtums- und Herrschaftsansprüche und empfindet das als Verrat am eigenen Volk. Und es ist auch klar, wer dabei insbesondere gemeint ist: Die USA mit ihren Multis, die Lateinamerika als ihnen gehörigen ökonomischen und politischen ‘Hinterhof’ beanspruchen.

Chávez vertritt also entschieden den Standpunkt, dass es sich bei den Gegebenheiten des Weltmarkts nicht um ‘Sachzwänge’ handelt, aus denen für das nationale Vorankommen das Bestmögliche zu machen ist, sondern um die Nation schädigende Interessen, gegen die es sich zu wehren gilt. Der volksverbundene Ex-Militär will sich nicht damit abfinden, dass die große Masse der Bevölkerung mit Gewalt in Armut gehalten wird, weil sie nach den bisher gültigen Maßstäben eine kapitalistisch nutzlose Überbevölkerung darstellt und staatlich dementsprechend behandelt wird. Den kapitalistisch erzeugten und staatlich beaufsichtigten Pauperismus in seinem Land will er beseitigen; aus einem Sumpf sozialen Elends und Objekt ständiger staatlicher Repression soll ein ordentliches, mit seinen Lebensbedürfnissen anerkanntes Volk werden. Den bisher von allen Errungenschaften der Herrschaft ausgeschlossenen Massen soll endlich zukommen, was ihnen seiner Auffassung nach in einer ordentlichen Herrschaft zusteht, das Recht auf ein ordentliches Leben in ‘Würde’.

Als Mittel für ein solches soziales Aufbauprogramm soll das Geld dienen, über das der Staat aus den Weltmarktbeziehungen verfügt. Statt das ganze Land einer Geschäftsordnung zu unterwerfen, die die große Mehrheit zum Dasein einer arbeits- und einkommenslosen Elendsmannschaft verdammt, macht sich der erste Mann in Caracas für das Umgekehrte stark: Mit dem Geld aus den Rohstoffgeschäften will er seiner Bevölkerung Lebensumstände stiften, in denen die sich halbwegs reproduzieren kann.

II. Der praktische Kampf um eine ‘nationale Erneuerung’ im Dienst am Volk

Dafür musste er erst einmal das staatliche Kommando über die materiellen Mittel und Grundlagen des ökonomischen Lebens im Lande neu organisieren. Daher re-verstaatlicht Chávez entscheidende Bereiche der nationalen Wirtschaft bzw. erweitert die Zuständigkeit des staatlichen Ölunternehmens.

Mit der Verstaatlichung ‘strategischer Bereiche’ wie Strom- und Wasserversorgung sowie Telekommunikation macht die politische Führung in Venezuela sich wieder selber zum Organisator der Dienste, statt solche Leistungen von kapitalistischen Rechnungen abhängig zu machen und das heißt für die Bevölkerung unerschwinglich werden zu lassen. Mit subventionierten Versorgungsleistungen übernimmt der Staat die Verantwortung dafür, dass Land und Leute nicht weiter verkommen. Ferner werden die Erdöl- und Erdgasförderung sowie nach Möglichkeit auch die Verarbeitung unter neue Staatsregie gestellt. Konzessionsgebühren und Steuern werden erhöht; Konzessionen und Beteiligungen neu geregelt, und zwar so, dass die nationale Entscheidungshoheit über und der nationale Nutzen aus Kooperationen gesichert bleibt; Beteiligungen und Lieferbeziehungen werden nach Möglichkeit so diversifiziert, dass die bisherige einseitige Abhängigkeit von amerikanischen und europäischen Ölmultis aufgebrochen wird. Es sollen eben nicht bloß die Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft vermehrt und im Verein mit Ölmultis Prospektion und Förderung erweitert werden. Die umfassende ‘Renationalisierung’ des Rohstoffsektors soll prinzipiell Schluss machen damit, dass die Politik als Diener der Bereicherungsinteressen der Ölindustrie fungiert; sie soll gewährleisten, dass diese entscheidende nationale Einkommensquelle nach eigenen politischen Zwecken genutzt werden kann. Deshalb stellt die venezolanische Führung auch an ihren eigenen nationalen Ölkonzern neue Anforderungen. Das Unternehmen wird neben den strenger geregelten Abgaben an den Staat zusätzlich politisch in die Pflicht genommen, nämlich zu eigenen finanziellen Leistungen zur Förderung von Kooperativen und anderen volksdienlichen Unternehmungen verpflichtet.

Darüber hinaus führt die Chávez-Regierung eine Devisenbewirtschaftung ein und hebt die ‘Selbständigkeit der Zentralbank’ auf, um den laufenden Devisenabfluss zu unterbinden und eine ihren politischen Finanzbedürfnissen entsprechende Geldpolitik zu garantieren. Dem Staat sollen Haushaltsmittel an die Hand gegeben werden, um damit seiner Bevölkerungsmehrheit ein anderes Leben zu ermöglichen.

Wie das passieren soll, hat die venezolanische Regierungsmannschaft in den letzten Jahren vorgeführt. Mit Ölgeldern hat sie in Gestalt von staatlich initiierten und finanzierten Fortschrittsprogrammen ein umfassendes staatliches Sozialwerk für ihr Volk und mit dessen reger Beteiligung aufgezogen. Darunter fallen Alphabetisierungskampagnen, Volksbildungsinitiativen bis hin zu alternativen Hochschulabschlüssen, Gesundheitsdienste für das einfache Volk, aber auch lokale und nachbarschaftliche Betreuungszirkel. Die sozialen ‘Netzwerke’, die den Bewohnern der Elendsviertel und der Armenbevölkerung auf dem Land erstmals elementarste zivilisatorische Leistungen zukommen lassen, sind zu Anfang mit Hilfe des Militärs als Aufbauhelfer in Gang gebracht worden; inzwischen sind sie fest institutionalisierte Einrichtungen, in denen sich die Massen mit politischer Dauerunterstützung als Aktivisten ihres alltäglichen Lebens betätigen können und sollen.

Außerdem hat sich die venezolanische Staatsführung daran gemacht, die innerstaatliche Ökonomie im Sinne ihres Sozialprogramms umzuorganisieren. Die private Wirtschaft soll mit staatlichen Auflagen und mit staatlichen Mitteln dahin gebracht werden, als Arbeitsplatzbeschaffer zu fungieren, um das Volk aus seiner Beschäftigungslosigkeit herauszuholen. Die Privatunternehmen werden mit erhöhten Mindestlöhnen und Einstellungsverpflichtungen sozusagen auf die ‘Sozialpflichtigkeit des Eigentums’ festgelegt, dafür aber auch mit Lohnzuschüssen unterstützt; am nationalen Interesse an sozial verträglicher Beschäftigung soll durchaus verdient werden, das Verdienstinteresse sich umgekehrt aber auch sozialverträglich betätigen. Daneben werden bankrotte Unternehmen auf Staatsbeschluss hin von den Belegschaften übernommen, mit staatlichem Kredit wieder in Betrieb gesetzt und erhalten; so wird Beschäftigung gestiftet, die nicht dem unmittelbaren Zwang zur Rentabilität unterworfen ist. Diese Unternehmungen zeugen vom staatlichen Willen, eine nationale Produktion in Gang zu setzen und zu halten, die dem Volk Arbeit gibt.

Auf den Weg gebracht und mit Staatsmitteln dauerhaft gefördert werden ferner Landkooperativen und bäuerliche Kleinbetriebe, die auf konfisziertem brachliegendem Großgrundbesitz Massenlebensmittel produzieren. Mit ‘Mikrokrediten’ wird eine Kleinproduktion für den Massenbedarf aufgebaut. Die Banken werden zu entsprechender Kreditvergabe angehalten, und in Konkurrenz zu ihnen kommen staatliche Institute für das Kleinkreditwesen in die Finanzwelt. Aus dem vormals sog. ‘informellen Sektor’ der Geldwirtschaft, in dem sich große Teile der Bevölkerung mehr schlecht als recht irgendwie durchgeschlagen haben bzw. zu den elendesten Bedingungen haben ausbeuten lassen müssen, wird so eine mit staatlichen Sonderkonditionen subventionierte eigene Abteilung Volks-Ökonomie. Insbesondere hat der venezolanische Staat, neben dem und in Konkurrenz zum privaten Handel mit kapitalistischer Ware, ein Netz von staatlich subventionierten Volksläden aufgebaut, die für die Massen preisgünstig Grundgüter anbieten, nach Möglichkeit die in den Kooperativen und Kleinbetrieben im Land produzierten Waren, oder aus anderen lateinamerikanischen Ländern im Austausch gegen Öl bezogene Produkte des täglichen Massenbedarfs. Gleichzeitig macht er dem privaten Lebensmittelhandel Preisvorschriften für elementare Güter, um eine bezahlbare Versorgung der Bevölkerung zu sichern, erlässt andererseits Steuern, damit die Händler Waren nicht zurückhalten, und droht gleichzeitig mit der Verstaatlichung des Großhandels.

Keine Geldrechnung ist also abgeschafft, aber auch kein Zwang zum rentablen Wirtschaften und Geldverdienen wird gelten gelassen, wenn es der Staatsführung unpassend erscheint; das Privateigentum wird nicht aufgehoben, aber laufend ins Eigentum eingegriffen; preisgünstige Volksversorgung wird zum Programm erhoben und zugleich an Kosten- und Ertragsrechnungen privat und gemeinschaftlich nebeneinander und gegeneinander wirtschaftender Unternehmungen geknüpft, die dann im Sinne verträglicher Preise wiederum staatlich modifiziert und manipuliert werden.

Solche Anstrengungen verfolgen offenkundig nicht die alten Ziele, im Land eine wettbewerbsfähige kapitalistische Ökonomie aufzubauen, für die andere lateinamerikanische Staatsführungen ihre Massen nützlich machen und deshalb auch sozialstaatlich aufmöbeln und betreuen wollten. Im Unterschied zu den nationalen Anstrengungen, sich als ‘Schwellenland’ mit Staatshilfe zu einer weltmarktfähigen Nationalwirtschaft hinzuentwickeln, laufen die gegenwärtigen Anstrengungen der angefeindeten ‘Nationalisten’ auf eine Rettung ihrer Nationen hinaus, weil in denen mit den Fortschritten des Weltgeschäfts immer mehr an Land und Leuten vor die Hunde geht. Mit dem Geld, das der auswärtige kapitalistische Rohstoffbedarf ihnen einbringt, versuchen die neuen Führer gegen die ruinösen Folgen ihrer Weltmarktabhängigkeit vorzugehen. Auf Basis des Ausschlusses der Mehrheit vom Geld und von Gelegenheiten, welches zu verdienen, gewährt der Staat seinen Massen eine Beteiligung an dem Reichtum, den er aus anderen Quellen als ihrer Arbeit bezieht, damit sie das sein können, was sie nach dem politischen Willen seiner Führung sein sollen: ein richtiges Volk, das sich unter ihrer Herrschaft ordentlich reproduziert, sich in ihr folglich gut aufgehoben und als Mitglied einer nationalen Gemeinschaft anerkannt weiß und sich deshalb umgekehrt seinerseits für diese Gemeinschaft einsetzt.

Das unterscheidet diese sozialen Leistungen auch von den sozialstaatlichen Einrichtungen in den Metropolen. Hier geht es nicht darum, eine Arbeiterklasse für die Dienste am Kapital bereitzustellen und fähig zu erhalten; hier werden nicht Lohnteile vom Staat für die Sozialkassen kollektiviert und dafür gesorgt, dass die Kosten für die Sozialfälle, die der rentable Einsatz der Arbeit mit sich bringt, standortgerecht fürs Kapital niedrig gehalten werden: Hier wird einer Masse einkommens- und arbeitsloser Paupers mit Staatsgeld eine Art Hilfe zur Selbsthilfe spendiert; also in etwa das, was die versammelte Staatenwelt in der UNO als ihre ewig unerreichbaren hehren ‘Milleniumsziele’ für die Beseitigung der Armut propagiert – für die politischen Vorsteher der kapitalistischen Metropolen ein zynischer Titel für ihren Anspruch auf eine passende Verwaltung der von ihnen geschaffenen Armenhäuser, aber nie und nimmer als Anspruch der Elendsfiguren auf materielle Mittel gemeint und schon gleich nicht auf Teilhabe an den Öldollars, die durch Schuldendienst und anderweitig ‘recycelt’ gehören.

Gemessen an den geltenden Maßstäben guten Regierens handelt es sich also um einen einzigen Verstoß: Massen, die nicht als Arbeitsvolk den Geldreichtum kapitalistischer Unternehmen mehren und deshalb mit ihrer Armut auch nicht zur Staatsbereicherung taugen, wird garantiert, was in keiner kapitalistischen Rechnung und keinem imperialistischen Beaufsichtigungsprogramm für diese Mannschaften vorgesehen ist: eine aushaltbare Existenz. Eine Herrschaft, die Rohstoffgeschäfte dazu gebrauchen will, nicht zum Armenhaus zu degenerieren, die es auf ein, wie bescheiden auch immer, sozial betreutes und ökonomisch für sich tätiges Volk abgesehen hat: Das ist in der Tat ein Anschlag auf alle Interessen, die bisher den nationalen Weg bestimmt und von ihm profitiert haben.

III. Die erbitterten Feinde und die neuen Stützen des alternativen nationalen Wegs

Herausgefordert sehen sich erstens die auswärtigen Kapitale und ihre Agenturen. Die einschlägigen Multis sind nicht nur entscheidende Mitbetreiber und Nutznießer der Rohstoffgeschäfte. Auch die Infrastrukturbetriebe sind im Zuge der Privatisierungen mehrheitlich in die Hände auswärtiger Kapitalisten übergangen. Es ist also ihr Eigentum, das von den Verstaatlichungen betroffen ist. Die an geschäftliche Vorzugsbedingungen gewöhnten Unternehmen werden nun genötigt, sich mit dem Staat nach dessen neuen Vorgaben zu arrangieren oder das Feld zu räumen. Sie wehren sich, bestehen auf Einhaltung geschlossener Verträge, drohen mit Klagen vor internationalen Gerichten und Konfiszierung von staatlichen Exporterlösen und verlangen in jedem Fall gehörige Entschädigungen. Die neuen Devisenregelungen verletzen das Anrecht auf freien Gewinntransfer; die offiziell verkündete Unterordnung der Schuldenbedienung unter andere nationale Haushaltsgesichtspunkte ist ein Anschlag auf erworbene Gläubigeransprüche sowie ein Verstoß gegen die auswärtigen Haushaltsgebote, die auf strikter Disziplin gerade bei staatlichen Subventionen und Sozialausgaben sowie auf konsequenter Ausrichtung des ganzen staatlichen Finanzwesens an der Schuldenbedienung bestehen. Ein Verstoß gegen die stete Forderung nach noch mehr ‘Öffnung’ für internationale Anleger ist das alles schon gleich. Das Programm einer ‘nationalen Erneuerung’ tangiert also ganz generell die Ansprüche der führenden Weltmarktnationen, allen voran der USA, auf freie Verfügung über die ‘strategischen Grundstoffe’ ihres Kapitalismus, die sich unter auswärtiger Hoheit befinden. Hier stellt eine lateinamerikanische Regierung den Status, den ihr Land im Weltmarkt hat, prinzipiell in Frage: Sie begehrt dagegen auf, dass solche Länder fester Besitzstand der ‘global player’ sind und seine Regierungen als Garanten für frei verfügbare Zugriffssphären internationalen Kapitals ohne Rücksicht auf die nationalen Folgen zu fungieren haben.

Herausgefordert sind ferner alle Agenten und Interessenten des bisherigen nationalen Wegs im Innern. In erster Linie das Management des staatlichen Ölkonzerns und seine politischen Profiteure. Denen wird die Freiheit genommen, ihr Bereicherungsinteresse am Rohstoffgeschäft zu Lasten des staatlichen Interesses an Einkünften aus dieser entscheidenden Haushaltsquelle zur Geltung zu bringen. Nach ihrer, von den internationalen Beobachtern entschieden unterstützten Auffassung handelt es sich um ‘Entzug’ der dem Unternehmen zustehenden Gewinne und Investitionsmittel, wenn ihnen bisherige Mittel und Wege genommen werden, das Unternehmen als ihre Pfründe zu nutzen. Die Führung des Staatskonzerns, immerhin die entscheidende ökonomische Macht im Lande, begegnet daher der Politik, die das Unternehmen auf nationalen Dienste festlegen will, mit offener Obstruktion bis hin zur Sabotage. Unterstützt wird sie in ihrer Gegnerschaft von einer Mehrheit der vergleichsweise besser gestellten Angestellten und Arbeiter; die verteidigen unter Leitung der hauseigenen Gewerkschaft im Verein mit dem Management die Freiheiten ‘ihres’ Betriebs gegen die Ansprüche der Chávez-Regierung. Um dem Staatsunternehmen die erwünschten Leistungen abzunötigen, hat die Regierung erst dafür sorgen müssen, dass es die Rolle eines ‘Staates im Staate’ verliert. Nach dem monatelangen ‘Streik’ des gesamten Unternehmens wird das Management ausgewechselt, die Gewerkschaft zerschlagen und die Verschiebung von Gewinnen ins Ausland, soweit es geht, unterbunden.

Auch den sonstigen nationalen Geschäftemachern werden ihre gewohnten Freiheiten beschnitten. Ausgerechnet unter Umständen, wo unbeschäftigte Arbeitskraft im Überfluss und zu jedem Preis bereitsteht, sollen sich Unternehmen beim Beschäftigen zu sozialen Rücksichten gegenüber den Arbeitskräften verpflichten lassen. Dem Handel wird seine ökonomische Macht und seine Freiheit genommen, aus den Bedürfnissen der Massen das an Zahlungsfähigkeit rauszusaugen, was eben geht. Und den Banken wird eine massenfreundliche Kreditierung zu Sonderkonditionen sowie überhaupt und vor allem eine strengere Kontrolle ihres Finanzgebarens zugemutet. Den Großgrundbesitzern schließlich wird ihre Verfügungsgewalt über Grund und Boden streitig gemacht; es gibt die Pflicht zu einem gültigen Eigentumsnachweis und zur Bebauung des Bodens, die Enteignung brachliegenden und nicht ordentlich ausgewiesenen Großgrundbesitzes zugunsten von Kleinbauern und Landkooperativen: Das untergräbt ihre Rolle von lokalen Herren, die mit politischer Duldung und mit organisierter Privatgewalt ihre Besitzansprüche gegen die Bauernbevölkerung durchsetzen und behaupten.

Die neue politische Führung mag nun verkünden, dass in ihrem ‘System der zwei Hände’, der ‘unsichtbaren Markthand’ und der ‘lenkenden Hand des Staates’, Privatgeschäfte und Privateigentum gebilligt seien, wenn sie zum gemeinsamen ‘nationalen Neuaufbau’ beitragen und sich diesem Ziel unterordnen. Tatsächlich sind lauter widerstreitende Interessen unterwegs, die unter dem neuen Regime teils gefördert, teils beschnitten, teils notgedrungen geduldet, teils offen bekämpft werden. Ein nationaler Ölkonzern, der sich mit seinen Kosten- und Gewinnrechnungen zugleich als Organisator nützlicher internationaler Kooperationen mit den Multis und als Motor für soziale Fortschritte und Initiator nationaler Volksunternehmen bewähren soll; eine Privatwirtschaft, der lauter neue Pflichten eröffnet werden; ein Handel, der sich angestammter Geschäftsmöglichkeiten beraubt und zu erschwinglichen Versorgungsleistungen verpflichtet sieht; daneben staatlich gesponserte Armenläden, die zugleich irgendwie geschäftlich rechnen sollen, Familien- und Nachbarschaftsklitschen und selbstverwaltete Unternehmen, die von Kleinkredit und mehr oder weniger unproduktivem Werkeln leben; Kleinbauern und Landkooperativen neben dem Großgrundbesitz, der sein Anrecht auf alles Land reklamiert: Das alles ist für die bisher bestimmenden Kreise ein einziger Anschlag.

Sie haben den Staat bisher als Diener ihrer Interessen beansprucht und sich damit Recht verschafft, auch wenn ihre Eigentums- und Geschäftsansprüche keineswegs dazu getaugt haben, das staatliche Interesse an Wachstum seines Geldreichtums und an Vorankommen des nationalen Standorts zufrieden zu stellen. Es gab keine anderen Reichtumsquellen im Land, also haben sie bei der politischen Führung erfolgreich ihren Einfluss geltend gemacht, diese meistens gleich selber aus ihren Reihen gestellt. So waren ihre Ansprüche bei aller verbreiteten Unzufriedenheit mit dem Stand der Nation politisch abgesegnet. Jahrzehntelang haben die zwei aus diesen Interessengruppen gebildeten politischen Parteien sich regelmäßig in der Führung abgewechselt und gegen die unvermeidlichen Widerstände für den Fortgang dieser Politik gesorgt, immer wieder auch mit unmittelbarer Gewalt. Herausgefordert sind deswegen auch die politischen Repräsentanten des bisherigen Wegs, die diesen Interessen verbunden waren und zugleich das Engagement des internationalen Kapitals mit all seinen Konsequenzen für Land und Leute gefördert haben. Und herausgefordert sind nicht zuletzt die Militärs, soweit die sich der Aufrechterhaltung dieser nationalen Ordnung verpflichtet wissen.

Politisch groß geworden ist Chávez als Repräsentant einer verbreiteten Kritik innerhalb der Armee. Auch und gerade große Teile des Militärs haben wegen ihrer Volksverbundenheit, für die Idealisten einer ordentlichen Staatsgewalt innerhalb der ‘Ordnungskräfte’ durchaus auch gut sind, zunehmend weniger einsehen wollen, dass sie für die Verteidigung der herrschenden Interessen gewaltsam gegen ein Volk vorgehen sollen, das soziale Gerechtigkeit fordert. Entscheidende Unterstützung hat das Programm einer ‘nationalen Erneuerung’ auch in politischen Kreisen bei unzufriedenen Patrioten erhalten, die den Standpunkt, dass die Politik grundsätzlich versagt, wenn sie im Land solche Zustände herstellt, geteilt haben: oppositionelle Gruppierungen, die die zunehmende Gewalt gegen das Volk als Unrecht verurteilen und als Zeichen des generellen nationalen Niedergangs verstehen; Kritiker der herrschenden Zustände, die sich, wenn auch sonst nicht, auf jeden Fall darin einig sind, dass es so nicht weitergehen kann. Diese Opposition hat in Chávez die Chance gesehen, die herrschende Politik endlich abzulösen, und sich auf ihn einschwören lassen, nachdem sich der gescheiterte Putschist dazu entschlossen hat, um die Staatsmacht mit demokratischen Mitteln zu kämpfen. So ist er zum Sammelpunkt aller oppositionellen Kräfte aufgestiegen: zu ihrem gemeinsamen Kandidaten für einen echten Wechsel in der politischen Führung.

Zur Rolle einer solchen politischen Leitfigur hat ihn wiederum die Zustimmung prädestiniert, die er bei den Massen gefunden hat, die immer wieder gegen ihre Lebensumstände aufbegehrt oder sich notgedrungen in ihnen eingerichtet haben und es so oder so laufend mit staatlicher Gewalt zu tun bekommen. Sie haben sich sein Versprechen, sich für eine gerechte Herrschaft stark zu machen, in der die bisher mit ihren Bedürfnissen niedergehaltene Bevölkerung sich endlich mit seiner Führung einig wissen kann, einleuchten lassen, egal, was sie sich als unterdrückte Indigene, landlose Bauern, entwurzelte Slumbewohner, Billigarbeiter oder vom sozialen Abstieg bedrohte ‘Mittelschichtler’ darunter alles vorgestellt haben mögen. Sie haben in ihm die Chance gesehen und ergriffen, endlich einen Führer ins Amt zu wählen, der ihren sozialen Anliegen, die sie nicht gegen die Staatsgewalt durchsetzen können, endlich in der Politik wirksam Geltung verschafft. So ist es gelungen. das alte politische Wechselspiel innerhalb der überkommenen Elite und damit deren Monopol auf die Macht zu durchbrechen.