GEGENARGUMENTE

Sendung vom 21.Oktober 2005

 

Die Themen unserer heutigen Sendung:

 

1.      Wie die freie Marktwirtschaft in New Orleans wieder einmal funktioniert hat.

 

Ende August tobt der Hurrikan “Katrina” im Süden der USA, eine ganze Stadt samt Teilen der Einwohnerschaft säuft förmlich ab. Für einige Tage durfte man auf den Bildschirmen mitverfolgen, in welcher Armut mehr als eine Million Menschen in der Führungsmacht der kapitalistischen Staatenwelt vor und erst recht nach dem Hurrikan lebten bzw. in Zukunft leben werden. Die Opfer werden von der Öffentlichkeit bejammert. Zugeschrieben werden sie wie immer nicht der wieder einmal zu Tage tretenden systemimmanenten Gleichgültigkeit des Geschäfts und der es fördernden Staatsgewalt gegen die ziemlich berechenbaren Auswirkungen der Tsunamis und Katrinas auf das menschliche Inventar der Marktwirtschaft, sondern einem angeblichen Versagen der politisch Verantwortlichen. Wie entgegen dieser Behauptung die freie Marktwirtschaft in New Orleans wieder einmal funktioniert hat, dazu ein Beitrag der Zeitschrift Gegenstandpunkt.

 

2. Nach dem Wahlerfolg der Linkspartei zieht die Partei der Schlechtergestellten in den deutschen Bundestag ein: Wird jetzt Armut wieder lebenswert in Deutschland?

 

Unser zweiter Beitrag beschäftigt sich mit dem Einzug der neuen Linkspartei in den deutschen Bundestag nach den Wahlen vom 18.September.

 

3.      Was man über eine Gesellschaft lernen kann, wenn Arbeitslosigkeit in ihr ein Problem ist.

 

Eines der Hauptthemen des deutschen Wahlkampfes war die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. In unserem letzten Beitrag wollen wir daher der Frage nachgehen, was man eigentlich über eine Gesellschaft lernen kann, wenn in ihr Arbeitslosigkeit ein Problem ist.

 

Wie die freie Marktwirtschaft in New Orleans wieder einmal funktioniert hat

 

Ohne die freie Marktwirtschaft hätte sich eine Orkan der Stärke 5 zwar nicht verhindern lassen, aber nur mit ihr konnte es zu diesem Ausmaß von Tod und Zerstörung an der US-Südküste kommen. Die zuständigen Organe der Staatsgewalt hatten nämlich ziemlich früh Informationen darüber, dass sich ein Hurrikan der Windstärke 5 auf die Küste von Louisiana zu bewegte. Und wie reagierten sie darauf? Als überzeugte Demokraten und Fans der zu diesem Herrschaftssystem passenden Wirtschaftsordnung setzten sie nicht nur voll auf die freie Marktwirtschaft, sondern diese auch im Umgang mit der Bevölkerung von New Orleans durch.

Sie forderten alle Einwohner zur Evakuierung ihrer Stadt auf. Gemäß den Regeln der freien Marktwirtschaft gingen sie davon aus, dass jeder seine Flucht privat und gemäß seinen Eigentumsverhältnissen in Sachen Geld und Transportmittel zu organisieren hat. Es ist ja gerade die Schönheit dieses Wirtschaftssystems, dass jedes Individuum aus seinem Privatinteresse heraus und ungehindert durch staatliche Planung für sich sorgen darf und dass daraus das Bestmögliche für die Gesellschaft resultieren soll. Also gab es in Louisiana keine "kollektivistische" oder gar "staatlich reglementierte" Evakuierung, wie das letztes Jahr vom "Zwangsregime" des Fidel Castro an 1,3 Mio. armen Kubanern durchgezogen worden ist, weswegen dieser Hurrikan mit der gleichen Windstärke keinen einzigen Toten und damit auch kaum Aufsehen in der freien Presse verursachte. In einer freien Marktwirtschaft kommt so etwas nicht vor. Da vermutete man schon am Tag nach dem Durchzug Katrinas, dass womöglich Hunderte von in der Stadt verbliebenen amerikanischen Bürgern ums Leben gekommen waren. 2 Tage nach dem Orkan stellte man fest, dass offensichtlich über 100.000 Leute trotz des Evakuierungsaufrufs in der Stadt geblieben waren. Viele hätten sich aus "Sturheit" oder schlichter "Borniertheit" geweigert, den gut gemeinten Appellen an ihre Privatinitiative zur marktwirtschaftlich organisierten Flucht Folge zu leisten.

Mittlerweile werden in den Reportagen der vor Ort eingetroffenen Journalisten ein paar Gründe nachgeliefert, warum eigenartigerweise fast ausschließlich arme Leute – darunter mehrheitlich schwarze Amerikaner – das Footballstadion und das Konferenzzentrum aufgesucht haben, um sich vor dem Orkan zu schützen. Sie hatten offensichtlich zu wenig Geld und deshalb keine geeigneten Transportmittel und vor allem schreckten sie vor der Perspektive zurück, ohne Geld und ohne alles Überlebensnotwendige ihre Behausungen zu verlassen. Wohin sollten sie sich denn flüchten ohne ausreichende Zahlungsmittel, ohne die man in der freien Marktwirtschaft auch ohne Starkwind ziemlich aufgeschmissen ist. Es ist nur systemimmanent, dass Habenichtse, die es in der freien Marktwirtschaft zu nichts bringen, auch bei Naturkatastrophen die Arschkarte ziehen! Sie zählen zu jenem Menschenschlag, ohne den die freie Marktwirtschaft nicht zu haben ist, obwohl sie persönlich von ihr nichts kriegen außer harter Arbeit, wenig Geld und einen permanenten Überlebenskampf nicht nur bei Überschwemmungsgefahr.

Der "Süddeutschen Zeitung" vom 9. September fällt jetzt ausgerechnet in ihrem Wirtschaftsteil, wo ansonsten immer von den weltweit überlegenen Wachstumszahlen des US-Kapitals die Rede ist, auf, dass "die Zahl der Armen in den USA … im vierten Jahr in Folge gestiegen ist – auf 37 Mio. Menschen" und dass gerade in New Orleans 1 Fünftel der Bevölkerung weniger als 10.000 $ im Jahr verdient. Kein Wunder, dass in den 27.000 Familien, die offiziell unter der amtlich festgesetzten "Armutsgrenze" leben müssen, viele kein Geld oder kein Auto hatten, um rechtzeitig zu flüchten. In der freien Marktwirtschaft bedienen die schönen Produkte von Ford, GM und Chrysler halt nicht den Bedarf nach Fluchtfahrzeugen aus Katastrophengebieten, sondern ausschließlich zahlungsfähige Bedürfnisse! Und Zahlungsfähigkeit ist das Letzte, worüber der pauperisierte Bevölkerungsanteil in New Orleans verfügt. Wenn die Bewohner der Armenviertel vor dem Sturm überhaupt über Arbeitsplätze verfügten, dann über welche für wenig Lohn bei viel Dreckarbeit im Dienstleistungsgewerbe, im Tourismus und der umliegenden Landwirtschaft. Die Lebensnotwendigkeiten des American Way of Life verlangen von solchen Leuten oftmals gleich mehrere Billigjobs auf einmal, also Müllabfuhr am Morgen und Hamburger einwickeln in der "Freizeit". Zudem hat die Bush-Regierung zwecks Förderung des freien Marktes zügig jede Menge Sozialleistungen gekürzt oder gestrichen und dafür die Gebühren für Dienstleistungen kräftig angehoben, weil es den Markt stärkt – sprich: neue Profitgelegenheiten für Kapitalanleger schafft –, wenn selbst die Krankenhäuser dem Rentabilitätsprinzip unterworfen werden. Deswegen fährt mancher aus Geldnot zu marktwirtschaftlichen Reaktionsweisen gezwungene Südstaatenamerikaner bei Zahnausfall nach Mexiko und reagiert auf die fortschreitende Privatisierung bisheriger öffentlicher Dienstleistungen dadurch, dass er sie nicht mehr in Anspruch nimmt.

Und von noch einer anderen Seite deckte Katrina eine schönes Stück freier Marktwirtschaft auf: Wegen der von ihren Apologeten immer wieder eingeforderten Zurückführung der "Staatsquote" aufs Notwendigste, damit die Unternehmen des freien Marktes weniger Steuern zahlen müssen und demzufolge mehr investieren, wurden im letzten Jahr die Gelder des für Deichsicherheit zuständigen Ingenieurkorps von New Orleans um 44 % gekürzt und die nach dem letzten katastrophalen Hurrikan gemachten Pläne einer Aufstockung der Deiche endgültig aufgegeben. Ferner erlaubten die zuständigen Behörden die Trockenlegung von Teilen des Stausseesystems entlang der Küste des Golfs von Mexiko, um Neuland für Investitionen in Immobilien zu schaffen. Diese Anlagen dienten als Auffangbecken für Sturmfluten aus dem offenen Meer und sollten Überschwemmungen bewohnter Gebiete verhindern. Gemäß den Gesetzen der freien Marktwirtschaft ermöglichte es der Staat Unternehmen und Spekulanten ihrem privaten Interesse nach Gewinn weitgehend rücksichtslos gegen mögliche negative Auswirkungen auf die Natur nachzugehen. Es passt also wunderbar zur freien Marktwirtschaft, wenn Bush bei der Werbung um politische Zustimmung, in der allein der Erfolg zählt und nicht die Wahrheit, beim Überfliegen des Überschwemmungsgebiets der Nation live im Fernsehen dreist vorlügen kann, eine "Katastrophe in diesem Ausmaß" habe niemand vorhersehen können, ohne dass er Gefahr läuft, von seinen Volksvertretern mit einem Impeachment politisch abgeschossen zu werden.

In den ersten Tagen nach dem Deichbruch hielt sich die Bush-Administration auch bei der Hilfe für die Opfer noch strikt an die Regeln der freien Marktwirtschaft. Deren Verfechter fordern nämlich, dass die Hilfe für die weniger Erfolgreichen in diesem System nicht hauptseitig vom Staat kommen soll, weil das die "Eigeninitiative" lähme. In besonders tragischen Fällen ist dann vor allem die Privatinitiative der nicht betroffenen Staatsbürger zum Spenden verlangt. Der Präsident ließ dafür seinen Vater George ohne W und dessen Nachfolger als Oberamerikaner, Bill Clinton, im Fernsehen zum Betteln auftreten. Und überließ das Sammeln von Spenden ansonsten dem Geschäftssinn der nationalen Fernsehgesellschaften, die in ihrem Konkurrenzkampf um Marktanteile schon wissen, was bei einer Naturkatastrophe im eigenen Land Quote bringt: Sie boten die Unterhaltungskünstler der Nation zu Benefizkonzerten auf, in der die – mit einer Ausnahme – taten, was sie in solchen Notfällen immer tun: ihre Hits singen und die von den TV-Redaktionen vorformulierten Mitleidstexte brav vom Teleprompter ablesen, damit das Publikum gerührt die Spendenkonten fülle und gar nicht erst auf die Idee komme zu fragen, warum sich in God’s own freier Marktwirtschaft derlei Naturkatastrophen für die von ihr Getroffenen immer zu ganz anderen Katastrophen auswachsen.

Als sich nach 3 Tagen eine Hunger- und Seuchenkatastrophe nach der Flutkatastrophe abzeichnete, weil immer noch keine Hilfe in New Orleans eingetroffen war, entschloss sich die Regierung zum Handeln. Aus den staatlich eingerichteten Auffanglagern, in denen die Überlebenden dahinvegetierten, drohten demokratisch verantwortete Konzentrationslager zu werden, und der Mischung aus ohnmächtiger Eigentumsverletzung wegen Überlebenskampf und verbrecherischem Ausnutzen einer Notlage begegnete die Staatsgewalt mit "entschlossenem Handeln". Gemäß dem Grundgesetz der freien Marktwirtschaft, dass der Schutz des Eigentums an erster Stelle bei allem staatlichen Handeln zu stehen hat, kamen noch vor allen Nahrungsmitteln, Medikamenten und Bekleidung die Nationalgarde und Kampfeinheiten der Armee in die Stadt, um erst einmal für das Wichtigste im bürgerlichen Leben zu sorgen: Ruhe und Ordnung, auf Amerikanisch law & order! Dann kam es doch noch zu einer kleinen Verletzung marktwirtschaftlicher Ideale: Ausgerechnet Leute, die es geschafft hatten, in ihren Häusern und auf ihren Habseligkeiten Sturm und Flut zu überleben, werden jetzt zwangsevakuiert, weil die demokratische Staatsgewalt ihren "Notstand" konstatierte und jetzt zu ihrem vornehmsten "Argument" griff, der Gewalt.

Während in den Wirtschaftsteilen der Gazetten schon wieder die Frage im Vordergrund steht, wie sich Katrina marktwirtschaftlich auswirken wird – "Einbruch" bei der Konjunktur oder "Wachstumsschub" durch Wiederaufbau – werden in den vorderen Seiten die üblichen Fragen nach der "politischen Verantwortung" breitgetreten:

·        in den USA selbstkritisch als Gewissenserforschung der Weltmacht Nr. 1, ob es nicht eine "Schande für die Nation" ist, dass sie in Windeseile weltweit Soldaten zum Losschlagen abkommandieren kann, um "Gefahr" vom amerikanischen Homeland abzuwehren, und dann "zuschauen muss", wie hinter den Bayous des Mississippi eine ganze uramerikanische Stadt samt Teilen der Einwohnerschaft absäuft.

·        In Deutschland werden dieselben Fragen selbstverständlich in allen Tonarten eines vom hl. Petrus bestätigten nationalen Antiamerikanismus aufgeworfen und beantwortet: Da sieht man’s wieder, "unilateral" alles auf der Welt kurz & klein hauen, auch wenn es "uns" nicht passt, und dann beim Hochwassermanagement alles vergeigen. Und überhaupt, die armen Neger! 140 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei regieren in Washington immer noch unverbesserliche Rassisten ...

Wer die Fragen nach den Ursachen der Katastrophe so stellt und beantwortet, will nichts davon wissen, warum in unserer bekanntlich mit Abstand besten aller möglichen Produktionsweisen bei Naturkatastrophen sich regelmäßig hinterher herausstellt, dass die begrenzte Berechenbarkeit von Naturphänomen bloß die eine Seite des Ereignisses ist. Zur wirklichen Katastrophe kommt es ja erst durch die systemimmanente Gleichgültigkeit des Geschäfts und der es fördernden Staatsgewalt gegen die ziemlich berechenbaren Auswirkungen der Tsunamis und Katrinas auf das menschliche Inventar der Marktwirtschaft. Das wird hinterher von der Öffentlichkeit bejammert und die politische Opposition wirft den Verantwortlichen "Versagen" vor. Darüber und damit muss das Geschäft weitergehen, bis es wieder auf gut Amerikanisch heißt: business as usual.

 

Nach dem Wahlerfolg der Linkspartei zieht die Partei der Schlechtergestellten in den deutschen Bundestag ein: Wird jetzt Armut wieder lebenswert in Deutschland?

 

Der politische Mainstream ist unwiderstehlich und der Wahlkampf bestätigte es: Die deutsche Nation kann nur gerettet werden durch Hartz IV, durch Vorfahrt für Arbeit und die Neudefinition des "Sozialen", das diesen alten Ehrentitel heute nur mehr verdienen soll, wenn es, egal zu welchen Konditionen, "Arbeit schafft". Aber: Es gibt sie anscheinend doch noch, die tapferen Minderheiten. Sie stemmen sich der Allparteienkoalition entgegen, die neue Pegelstände der Volksverarmung markieren und damit Deutschland wieder "nach vorne bringen" will. Und der Erfolg gibt ihnen recht: Mit 8,7 % zieht das Bündnis aus WASG und PDS in den Bundestag ein, und so wird es im neuen Parlament wieder eine linke Opposition geben, die sich nicht scheut, das soziale Arbeit-Schaffen im Kapitalismus überhaupt anzuzweifeln: Die Linkspartei erlaubt sich in ihren "programmatischen Grundlagen", den lebensnahen Hinweis, dass

"die Zahl der Armen zunimmt und die Anstrengungen der Menschen bei ihrer Arbeit, ihre Bemühungen um bessere Produktionstechnik und Organisation, sinnlos werden: Denn was die Arbeit erleichtern kann, vergrößert den Stress, was die Produktivität der Arbeit erhöht, die Arbeitszeit ergiebiger macht, vermehrt die Arbeitslosigkeit".

Noch bevor sich aber ein von den Zumutungen der Geschäftswelt und ihrer Politiker genervtes Gemüt, in Erwartung eines herzhaften "Hau weg den Scheiß!", sympathisierend bei solcher Programmatik unterhaken kann, stolpert es unvermeidlich über ein nicht zu überhörendes "Bekenntnis zu ... Marktwirtschaft, zu freiem Unternehmertum und zu Gewinnen" (Lafontaine, SZ 16.6.05) aus den Führungsetagen dieser Programmschreiber und muss sich wie folgt belehren lassen: "Die bisherige Politik hat nichts gebracht. Es sind keine Arbeitsplätze entstanden." (Gysi bei Sabine Christiansen, 5.6.) Das, was "die bisherige Politik" "gebracht" hat, ihr Erfolg und der des Kapitals in Sachen Produktivitätssteigerung, die mehr Armut, Anstrengung und Arbeitslosigkeit schafft, soll, kaum programmatisch kritisiert, bei Sabine im Fernsehen schon wieder "nichts" sein? Und dieser Erfolg soll als Misserfolg der "bisherigen Politik" vorgeworfen werden, die keine "Arbeitsplätze" zum "Entstehen" gebracht hat? Ist das schade, wenn es auf denen so zugeht, wie oben beschrieben?

Derlei Vorwürfe und das Bedauern über das Ausbleiben von Ausbeutung mittels möglichst vieler kapitalistischer Arbeitsplätze lassen erkennen, dass die linken Alternativen sich einerseits – "programmatisch" eben - eine durchaus schlechte Meinung über das kapitalistische Wirtschaften halten, andererseits aber weder ihm und schon gleich nicht der zuständigen Staatsgewalt eine prinzipielle Absage erteilen wollen: So wird jeder Beweis für die Unvereinbarkeit dieser Produktionsweise mit dem proletarischen Lebensunterhalt ein Grund mehr, auf der Vereinbarkeit von rentabler Arbeit und gutem Leben zu bestehen, weil sie vereinbar sein sollen und müssen. Weil eben Wirtschaft – wenn man sie so, wie sie derzeit stattfindet, nicht abschaffen will – zwar nicht anders geht, wohl aber mehr Rücksicht auf die "sozial Schwächeren" nehmen könnte.

Damit sind unschöne Reminiszenzen an Klassengegensätze und ihre kämpferische Austragung, mit denen sich Linke früher regelmäßig unbeliebt gemacht haben, getilgt. Und nicht einmal das Wort Sozialismus kommt im Programm der Linkspartei vor. Die Anforderungen an die Adressaten bewegen sich ganz in den Grenzen des demokratischen Realismus: Sie sind nicht zu irgendeiner Sorte praktischem Widerstand aufgerufen, sondern nur, das aber ganz nachdrücklich, zu einem entschieden linken Kreuzchen. Mit der Linkspartei bewirbt sich lediglich ein weiterer Verein – zur Teilnahme an der politischen Verwaltung des kapitalistischen Standorts.

Jetzt darf die Partei der Schlechtergestellten und der Zukurzgekommenen, den "Globalisierungs- und Wendeverlierern" (Spiegel), Sitz und Stimme im Parlament verleihen. Dem Ideal der politischen Sozialpflege zugunsten der Armen, die es nun einmal im Kapitalismus gibt, wird sie wieder Geltung verschaffen. Den Grund der Armut abschaffen zu wollen, dazu ist sie zu sozialdemokratisch; dafür einzutreten, dass "die Armut nicht größer werden" solle, dafür ist sie allemal sozialdemokratisch genug. Und zwar mehr als die Schröder-SPD mit ihren sozialstaatlichen Wegwerfaktionen. Deren politisches Erbe will sie antreten und dafür sorgen, dass im Lande wieder mehr mit Blick auf die schlechter oder gar nichts Verdienenden regiert werde und sie – ganz ohne prinzipiellen Antikapitalismus, ganz ohne "Systemalternative" – wieder ein wenig besser gestellt würden.

Dass das geht, weil es gehen muss – mit diesem sozialmoralischen Optimismus tritt der neue, wirtschafts-, staats- und menschenfreundliche Verein dem "großen Kartell der sozialen Kälte der anderen Parteien" (Programm der Linkspartei) entgegen; und mit dieser Gewissheit bezweifeln sie Schröders "Sachzwänge" und Merkels "ehrliche Bilanz", die beide weitere "Einschnitte bei den Sozialleistungen" begründen sollen. Und sie fühlen sich am stärksten, wenn sie ihre ganze Beweiskraft darauf verwenden, erst nach- und dann dem Publikum vorzurechnen: Verelendung muss im Kapitalismus nicht sein! Wo alle politischen Kräfte im Lande behaupten, die Arbeit sei hier zu Lande zu teuer und das Soziale unerträglich aufwändig, der Wiederaufschwung des privaten Reichtums in Deutschland brauche deswegen noch deutlich mehr Arbeiterarmut, da hält die Linkspartei dagegen und besteht darauf, der deutsche Kapitalismus könne auch ohne Massenarmut florieren. So haben sie viel zu versprechen: Den Arbeitern "Lohnarbeit in Würde, nicht in Armut" (Eckpunkteprogramm); den "Arbeitslosen, Rentnern und Arbeitnehmern in Deutschland", dass sie "ordentlich behandelt" (Lafontaine, SZ, 16.6.) werden sollen; dem Kapital den Ausweg aus der Krise durch mehr Massenkaufkraft; und der Demokratie einen "Neubeginn der Linken und einer sozialen Alternative" zumindest aber "eine breite, radikale Opposition" und die "unverzichtbare Stimme der Ostdeutschen."

Also mitten im Konkurrenzgetümmel der Parteien ein, historisch gesehen ziemlich abgestandenes, nach aktuellen Maßstäben taufrisch aufgewärmtes sozialdemokratisches Angebot, das sich gegenüber dem Reformfundamentalismus aller anderen richtig alternativ ausnimmt: Diese neuen deutschen Linken wollen wieder einmal die Gesellschaft mittels Sozialhilfe und Armenpflege versöhnen statt spalten, auch wenn sich der Rest der "politischen Klasse" und die nationale Kapitalistenmannschaft, mitten im Klassenkampf von oben, überhaupt keine Versöhnung bestellt haben.

Allerdings haben die beiden Teilvereine der neuen Partei gewisse Schwierigkeiten miteinander: Die einen fürchten, in einer bundesweiten Linkspartei zusammen mit ahnungslosen "Besserwessis" ein wenig unterzugehen und auf dem Wählermarkt an Anziehungskraft zu verlieren, wenn sie nicht mehr als Sammelbecken Respekt heischender "Ostbiographien" erkennbar wären und auf ihren "spezifisch ostdeutschen Erfahrungshintergrund" pochen könnten. Westler von der WASG, darunter hart gesottene Antikommunisten aus sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Kreisen, halten die PDS nach wie vor für eine Art Tarnorganisation der SED, ein Überbleibsel des überwundenen falschen Systems, einen Verein deshalb, in dem gewiss noch auf allen möglichen Plattformen der Stalinismus nistet: "Bei uns haben noch viele vor Euch Angst." (WASG-Chef Ernst an die Adresse der PDS)

Die wechselseitigen Vorbehalte der demokratisierten Ost-Volkspartei, die um ein Stück alternativer deutsch-patriotischer Parteiengeschichte fürchtet, wenn sie zu sehr verwestlicht, wie die der freiheitlichen Sozis gegen den angeblichen Stalinismus der SED-Enkel und ihren "Ossi-Mief" (Spiegel), speisen sich erkenntlich weniger aus programmatischen Differenzen, schon eher aus solchen in Fragen der jeweiligen "politischen Kultur": Deswegen bekamen sie ruckzuck ein gemeinsames Wahlprogramm zustande und stellen fest, dass sie sich gegenseitig brauchen, wenn sie in Ost und West gewählt werden wollen. Was zählt da schon, dass man sich nicht recht ausstehen kann?

Es trifft sich glänzend, dass sich für den gemeinsamen Wahlverein eine Kandidaten-Doppelspitze gefunden hat, die man nur als Glücksfall für das Vereinigungsprojekt betrachten kann: Zwei erfahrene Polithaudegen, die eine gewisse Flexibilität sowohl in Sachen Programmatik als auch politischer Kultur vorweisen können, und die, gnadenlos erfolgsorientiert wie sie sind, als Personen die gelungene Einheit der Differenzen repräsentieren, die dem Zusammenschluss noch entgegenstehen könnten: Gysi, mit makelloser Ossi-Abstammung halbwegs abgewehrtem Stasi-Verdacht, aber ein sozialliberaler Windbeutel, dem kaum ein misstrauischer Wessi heute noch wirklich dunkle stalinistische Machenschaften zutraut; und Lafontaine, alter West-SPDler mit Regierungserfahrung, der so glaubwürdig das Erbe der Arme-Leute-Partei, die die SPD nicht mehr sein will, einfordert – im Namen der von "Globalisierung" und falscher, unsozial "neoliberaler" Wirtschaftspolitik Geschlagenen –, dass er damit vielleicht auch als Westler bei den Vereinigungs- und Krisenopfern der abgeschifften "neuen Länder" landen kann. Dass diese Figuren, mit ihrem Star-Status in ihren Parteien, sich durchaus einige Distanz zu und manchmal ein wenig Verachtung für ihre neu-alten Genossen und die Partei heraushängen lassen, die sie zum Vehikel auch ihres persönlichen Erfolges machen, war auf dem leicht ekelhaften Markt der starken demokratischen Persönlichkeiten kein Schaden für das Wahlergebnis. So hat auch die neue sozialdemokratische Linke die Führer, die sie verdient.

 

Dieser Beitrag kann neben weiteren zu den deutschen Wahlen in der Zeitschrift Gegenstandpunkt 3/05 nachgelesen werden.

 

Was man über eine Gesellschaft lernen kann, wenn Arbeitslosigkeit in ihr ein Problem ist.