GEGENARGUMENTE

Hurrikan Katrina und wie Amerika seine Katastrophen bewältigt

”Haiti in New Orleans”

Die Gewalt dieses Naturereignisses war ohne Zweifel gigantisch: “Heimatschutzminister Michael Chertoff bezeichnete Katrina als größte Naturkatastrophe in der amerikanischen Geschichte.” (Handelsblatt.com, 10.9.05). Aber das, was Katrina eigentlich von anderen Stürmen unterschieden hat, lag nach einhelliger Auffassung darin, was dieses Naturereignis aufgewirbelt hat: Das Vorhandensein von jeder Menge Elend und Verwahr­losung in New Orleans und die Art, wie die Zuständigen unter den Augen der eigenen Bürger wie der ganzen Welt damit umgegangen sind. “Man kommt sich vor, als wäre man in Haiti oder Angola und nicht in den Vereinigten Staaten!” (Washington Post, 5.9.05). In Amerika herrschen Verhältnisse wie in der 3.Welt, wo armen, schwachen und korrupten Staaten die Mittel und der Wille fehlen, sich um ihre Bürger zu kümmern, und die das menschliche Elend normalerweise und bei Katastrophen erst recht verrotten lassen! Wo die Vereinigten Staaten doch die reichste und mächtigste Nation der Welt sind, die in einem Notfall – wie gerade aller Welt nach dem Tsunami demonstriert – mit den vorhandenen Ressourcen an Menschen und Material vorbildlich für Ordnung sorgen und Hilfe bringen kann. Durch die Bank herrschen Wut und Empörung über die Not und das Chaos in New Orleans. “Die Ereignisse in New Orleans waren nicht unvermeidbar – dies war eine der am wenigsten natürlichen Naturkatastrophen in der Geschichte Amerikas.” (Der Soziologe und Historiker Mike Davis in der SZ vom 5.9.05). Vermeidbare Ereignisse, die kein Schicksalsschlag sind, den die Natur zu verantworten hat – woran liegt es dann? Vorhandene Fähigkeiten – bedeutet das, dass es am fehlenden Willen liegt, den Ärmsten der Armen zu helfen? Bringen die Zustände in New Orleans demnach die freiheitlich-demokratische Grundordnung Amerikas in Misskredit und bestätigen etwa gar antiamerikanische Vorurteile?

Es hat kurz den Anschein, als erschrecke die Nation darüber, wie es in Amerika zugeht. “Wir müssen sie warnen, das sind keine Bilder, wie wir sie aus einer amerikanischen Großstadt zu sehen gewohnt sind” (Eine CNN-Moderatorin, zit. nach Spiegel, 5.9.05). Solche Bilder sind sogar für die abgebrühten Amerikaner zuviel, die das Elend in den amerikanischen Großstädten ja täglich besichtigen können und die per öffentlicher Berichterstattung und über Armuts-, Krankheits- und Sterbestatistiken ausführlich ins Bild gesetzt werden.

Die Lage als solche

Der Schock besteht denn auch hauptsächlich darin, dass sich die amerikanische Öffentlichkeit einen Moment lang sehr grundsätzlich mit den sozialen Verhältnissen befasst, die so spektakulär aufgedeckt wurden.

“Gäbe es noch den Kalten Krieg, würde man die ganze Sache als raffinierte sowjetische Propaganda ansehen. Alle Zutaten waren in den Tagen, nachdem der Hurrikan Katrina New Orleans und die Umgebung getroffen hatte, vorhanden: Die Reichen, hauptsächlich Weißen ergriffen die Flucht, die Armen, überwiegend Schwarze verlassen und ausgesetzt; die Straßen in der Gewalt bewaffneter Banditen; die Regierung übernimmt nicht die Verantwortung und die Gesellschaft bricht auseinander. Das ist die Art von Bildern, die der KGB in Zeiten des Kalten Krieges ausmalte – von einem grausamen Amerika, der Heimat eines hasserzeugenden Kapitalismus, zerrissen durch die Trennung in Arm und Reich, gespalten durch die Rassengrenzen, regiert von einer herzlosen Regierung, im Griff der Gewalt in den Städten. Solch ein klischeehaftes Zerrbild war damals falsch und – als allgemeine Charakterisierung – bleibt es das heute. Aber die schrecklichen Folgen des Hurrikans stellen schmerzhafte Fragen über die amerikanische Gesellschaft und verletzen das Image von George W. Bush.” (International Herald Tribune, 7.9.05)

Nichts wird beschönigt bei dem Bericht darüber, wie die Ereignisse abliefen: Die Katastrophenwarnung ist erfolgt; die, die sich’s leisten können, bringen sich in Sicherheit. Ein mittelloser, in New Orleans vorwiegend schwarzer Bodensatz der Bevölkerung darf sich auch jetzt selbst darum kümmern, wie er zurechtkommt, auch wenn er dazu gar nicht in der Lage ist. Von diesen armen und verwahrlosten Menschen gibt es jede Menge, hier wie in ganz Amerika – Katrina “unterstrich” das “Problem” einer “wachsenden Anzahl von Amerikanern, die in einem niemals endenden Zyklon der Armut gefangen sind” (International Herald Tribune, 7.9.05). Die Dämme sind nicht ausgelegt für einen in so einem Ausmaß schon vor Jahren als möglich gehaltenen, aber von offizieller Seite so doch nicht erwarteten Sturm – sie brechen und die Fluten schließen die Zurückgebliebenen ein. Das kann vorkommen, wenn streng demokratisch und haushaltsmäßig die Notwendigkeit, die Dämme zu verstärken, also das Risiko, dass Leute absaufen, ins Verhältnis gesetzt wird zu anderen Interessen, die sich als irgendwie dringlicher erweisen. Auch die leitenden Gesichtspunkte der öffentlichen Geldvergabe ist kein Geheimnis, denn die Gegenden, wo die reichen Weißen wohnen, sind geschützt von “natürlichen Dämmen, geschaffen über die Jahrhunderte. Die anderen Bereiche, die tiefer liegen, sind die der Ärmsten, überwiegend Schwarzen” (The Economist, 10.9.05). Für die Katastrophenpläne gelten solche Interessensabwägungen ebenfalls. So kommt tagelang keiner rein und keiner raus. Die aufgebrachten Massen suchen zu überleben und holen sich aus den Supermärkten Wasser und Essen. Manche ergreifen die Gelegenheit, sich fremdes Eigentum unter den Nagel zu reißen. Manche überleben das alles nicht, die Leichen liegen auf den Straßen. Es gibt Schießereien – für Amerikaner ist Leben wie Überleben offensichtlich sehr schnell gleichbedeutend mit Waffengebrauch. Der Präsident fliegt nach einigen Tagen über das Katastrophengebiet, sinniert über die schönen Zeiten, die er in “The big Easy” verlebt hat, die Zuständigkeiten werden per Hickhack der beteiligten Stellen geklärt und die Hilfe läuft irgendwie an.

So sah es aus. Und wo sie recht haben, die Berichterstatter, da haben sie recht. Trostloser, ungeschminkter (Katastrophen)Alltag der kapitalistisch sortierten Gesellschaft, möchte man meinen.

Die ideologisch korrekte Bewältigung, Teil 1: Die Regel als Ausnahme

Denn “wenn es das ist, was das amerikanische ökonomische Modell hervorbringt” (International Herald Tribune, 7.9.05), dann wären, so der Schreiber, eigentlich alle Zutaten für ein sozialkritisches Urteil vorhanden. Doch die Öffentlichkeit zettelt die Systemkritik einzig und allein in der Absicht an, sie zurückzuweisen. Wie geht das? Nun, es kann sich nur um ein böswilliges Missverständnis halten, wenn sich jemand erdreistet, angesichts des Gesehenen auf eine generelle Verurteilung der Verfasstheit der amerikanischen Gesellschaft zu kommen. Nicht einmal Bilder wie die aus New Orleans haben für etwas anderes zu stehen als für eine grundsätzliche Zufriedenheit mit Amerika. Andernfalls liegt eine voreingenommene, einer feindlichen Absicht geschuldete, vorgefertigte Verzerrung vor und die ist unglaubwürdig – Beleg: Die fiktive Herkunft der Kritik aus dem untergegangenen Reich des Bösen. Zu sehen hat der Betrachter die Ereignisse von New Orleans als Ausnahme. Kritik ja, aber als Anprangern eines Sonderfalls der fehlenden Hilfe in der Stunde der Not. So hingedreht, ist jede prinzipielle Unzufriedenheit abgehakt und in ihr Gegenteil verkehrt, denn grundsätzlich ist alles im Lot und jede folgende, ideologisch zugelassene Rüge der Ereignisse in New Orleans ist der Sorge um das gute Funktionieren der amerikanischen (Klassen)Gesellschaft verpflichtet, die sich in ein schlechtes Licht gesetzt hat. Unter dieser Prämisse erst können “schmerzhafte Fragen” nur heilsam sein.

Die Fragen nach dem woher und warum decken dem Gedanken der Ausnahme folgend nicht die herrschenden Zustände, sondern ein Relikt aus der Vergangenheit auf, das trotz offizieller Anstrengungen vor allem im Süden der Vereinigten Staaten immer noch nicht beseitigt ist, die Rassendiskriminierung. Die soll aber nicht nur bei den Nachfahren der Sklavenhalter, sondern sogar bei der Regierung das Handeln bestimmen.

Die ideologisch korrekte Bewältigung, Teil 2: Rassismus-Schelte statt Sozialkritik

“Amerikas Rassenspaltung wurde wieder bloßgelegt. Fast alle der verzweifelt aussehenden Opfer waren schwarz. ... Viele Schwarze fühlen, dass – hätte es Weiße getroffen – die Regierung prompt gehandelt hätte, um sie zu retten. ... George Bush kümmert sich nicht um Schwarze.” (The Economist, 10.9.05).

Eigentlich sollten für das Land der Freien nur die Resultate der ökonomischen Konkurrenz als Unterscheidungsmerkmal gelten. Die Gleichheit soll herrschen, das Recht auf Teilhabe gibt der Staat allen seinen Gesellschaftsmitgliedern. Ungleichbehandlung verfälscht den Wettbewerb, auf dessen Resultate es ankommen soll. Das heißt im Klartext, wenn mittels der Konkurrenz in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt Leute aussortiert werden, die es zu nichts gebracht haben, dann sind sie für den Staat deshalb nichts wert und dann werden sie entsprechend gleichgültig behandelt – aber bitte nicht, weil sie mit dieser oder jener natürlichen Pigmentierung daherkommen. Neben diesem amtlichen Maßstab herrscht aber seit jeher eine Unterscheidung nach der Rasse, die offiziell nicht gewollt, aber hartnäckig praktiziert wird. Die Schwarzen gehören der Auffassung nach irgendwie nicht dazu und haben eigentlich kein Recht, teilzuhaben an den unbegrenzten Möglichkeiten, die das Land denen bietet, die es auch wert sind. So tun sich Schwarze ungleich schwerer in der Konkurrenz und der Pauperismus, den der Kapitalismus auch in Amerika produziert, trifft, gemessen an der Verteilung der Hautfarben in der Bevölkerung, nicht von ungefähr “überwiegend Schwarze”. An der Lage der Nachkommen der Sklaven ist demnach abzulesen, wie viel Armut die Klassengesellschaft in Amerika schafft. Wenn aber statt schwarzer Armer die arme Schwarzen ins Visier genommen werden, ist die Katastrophenbewältigung einen weiteren Schritt vorangekommen. Denn falls der Umgang mit den Armen in New Orleans, zwar ausnahmsweise aber doch noch eine gewisse sozialkritische Stellung zur Gesellschaft nahe legte, so ist die Kritik am Pauperismus vom Tisch und erledigt, wenn sie über die Rassismuskritik zur Empörung über einen Verstoß gegen die guten Grundsätze Amerikas wird. Die Verhältnisse am Mississippi zeugen dann nicht mehr von den Resultaten der ausgiebigen Benutzung der “Möglichkeiten, die Amerika bietet”, sondern sie kommen zustande, weil manche Menschen davon “ausgeschlossen” sind. Aus Kapitalismuskritik wird Rassismus-Schelte, eine Benachteiligung wird dingfest gemacht. Ein Verstoß gegen das herrschende Recht und damit die eigenen Grundsätze der Gesellschaft ist der Grund für die Folgen der Katrina-Katastrophe. Denn von dieser Sichtweise her – das Üble an der Armut ist ihre rassische Verteilung – gäbe es nichts mehr zu kritisieren, wenn weiße und schwarze Arme gleich beschissen wegkommen und behandelt werden. Dann ginge es schließlich gerecht zu.

Dieser Sichtweise schließt sich der oberste Sachwalter einer gerechten Konkurrenz in sehr differenzierter Art und Weise an. Er gesteht zu, dass der Rassismus, wenn auch nur“latent”, aber doch grundsätzlich den Umgang mit den Armen prägt. Und das ist kein Ruhmesblatt für god’s own country, wenn knapp ein halbes Jahrhundert, nachdem die letzten Reste gesetzlich erzeugter Rassentrennung in Amerika höchstrichterlich abgeschafft wurden, immer noch Schwarze deshalb sterben müssen. In der Hinsicht teilt er den Vorwurf großzügigerweise und diese Hinterlassenschaft der Vergangenheit der Vereinigten Staaten muss beherzt bekämpft werden – ein Zugeständnis an die Kritiker, das man ihm dann auch auf seinem Pluskonto gutzuschreiben hat: “Diese Armut hat ihre Wurzel in der Geschichte der Rassendiskriminierung, die viele Generationen von den Möglichkeiten, die Amerika bietet, ausgeschlossen hat. Wir haben die Pflicht, diese Armut mit mutigen Schritten zu bekämpfen. ... Lasst uns diese Hinterlassenschaft der Ungleichheit beseitigen.” (G. W. Bush, zit. nach New York Times, 16.09.05). Wo andernorts auf der Welt die dortige Armut an den Prinzipien der jeweils missliebigen Staaten liegen soll – deshalb muss Amerika ja global tätig werden, und denen das gute freiheitlich-demokratisch-marktwirtschaftliche System vorbeibringen –, da soll genau andersherum “diese” Armut mitten im freiheitlich-demokratisch-marktwirtschaftlichen System aber nicht in ihm begründet sein, sondern darin, dass es noch Leute gibt, die irgendwie hinterwäldlerisch über Schwarze denken. Genauso wie seine Kritiker verschiebt er damit das Thema. War anfangs die Kritik der Armut aufgrund der zutage getretenen elenden schwarzen Unterklasse der Gegenstand, so wurde diese Kritik der Armut im ersten Schritt auf den Sonderfall eines in Notzeiten schlechten Umgangs mit dem Pauperismus heruntergebracht. Jetzt ist von dieser Kritik gar nichts mehr übrig, wenn die Sortierung nach der Rasse beim Bewältigen der Katastrophe die inkriminierte Sache sein soll. Dagegen, dass er selbst diskriminiert haben soll, verwehrt sich Bush natürlich vehement. Da hat er sich nichts zu schulden kommen lassen und dies trifft auch für seine Mannen vor Ort zu: “Der Sturm hat nicht diskriminiert und das gleiche gilt für die Rettungsarbeiten” (Bush, zit. nach New York Times, 13.9.05).

Auch das konstatierte “Unrecht” gegenüber Schwarzen wird nur gestreift, um es schnell zu erledigen und damit den letzten Rest von Kritik des Systems zu bewältigen. Die Kritik landet schließlich dort, wo sie in der Demokratie hingehört, nämlich bei dem Unmut über das Führungspersonal. Letztendlich liegen menschliche Fehler vor, vorrangig seitens des Präsidenten George W.Bush; der hat handwerklich geschlampt, war inkompetent und ignorant:

Die ideologisch korrekte Bewältigung, Teil 3: Das Versagen des obersten Führers

“Der Präsident der reichsten und mächtigsten Nation, die es jemals auf der Welt gab, schien nichts von dem, was vorging, zur Kenntnis zu nehmen.” (New York Times, 5.9.05).

Na ja; gebrieft, also unterrichtet wurde der oberste Chef ständig. Die Einschätzung im Weißen Haus war die, dass es sich um eine zwar sehr heftige, aber ansonsten doch im Prinzip für diese Gegend gängige Katastrophe handle, für die das vorbereitete entsprechenden Katastrophenbewältigungsszenario ausreicht. Und bei den erprobten, üblichen Maßnahmen gab es sonst ja auch keinen Aufstand, wie die SZ unter dem Licht der jetzigen Aufregung kritisch anmerkt: “Vor einem Jahr wurde New Orleans vor dem Hurrikan Ivan evakuiert. Damals wurde die ganze arme Bevölkerung der Stadt, die Alten, die ohne Auto und viele Schwarze völlig allein gelassen.” (SZ, 5.9.05). Unter denen gab es folgerichtig wie immer Tote, mit denen gerechnet wurde und die als unumgängliche Folge einer Naturkatastrophe abgebucht wurden. Nicht anders haben die Verantwortlichen Katrina zur Kenntnis genommen und dementsprechend reagiert. Genau das wird dem Chef aber jetzt als Versagen angerechnet. Er hat das, “was vorging”, nicht mitgekriegt. Das Ausmaß der Not und des Elends, die vielen Toten und das Fehlen von Ruhe und Ordnung stehen für eine Angelegenheit ganz anderen Kalibers, für einen Schaden an einer höheren Sache, demgegenüber sich der oberste Sachwalter ignorant verhalten hat. Und um das zu unterstreichen, kann das menschliche Elend gar nicht ekelhaft genug vorgeführt werden, um daran deutlich zu machen, wobei er versagt hat und worin der eigentliche Skandal besteht: Nämlich das Ansehen und den Zusammenhalt der Nation, und damit ihre Stärke den eigenen Bürgern und gegenüber der ganzen Welt zu bewahren.

Diesen Zynismus gegenüber den menschlichen Leidtragenden drückt eine andere Abteilung von Kritikern des Präsidenten gleich als einmalige Gelegenheit aus: “Michael Moore erwägt Dokumentation über ‚Katrina‘. Zitiert wird eine Quelle aus dem Umfeld des Regisseurs: ‚Es hat alle Elemente für einen eindringlichen Film – der politische Skandal, das menschliche Leid und das großartige Filmmaterial.‘“ (N24.de, 8.9.05). Lauter Zutaten für einen grandiosen Hit!

Der Kern der Katastrophe: Die amerikanische Nation als eigentliches Opfer

Mit der Sorge um die Nation steht der Sachverhalt auf dem Kopf: Alles das, wofür die Nation steht, macht die Gestalten in New Orleans zu Opfern, vor wie nach Katrina. Doch im Gegensatz dazu wird der Täter zum eigentlichen Opfer. Die Nation ist die Leidtragende und das ganze menschliche Elend taugt nur dazu, dies reichhaltig zu bebildern. Damit ist auch klar, dass das, “was vorging”, weit über den handfesten Schaden an Mensch und Material hinausgeht.

“Katrina war der Anti-9/11. Am 11.September übernahm Rudy Giuliani die Kontrolle. Die Antwort der Stadtverwaltung war schnell und entschlossen. Arme und Reiche litten gleichermaßen. Amerikaner sind getroffen worden, aber sie fühlten sich einig und stark. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Institutionen wuchs. Letzte Woche übernahm dazu im Gegensatz niemand die Kontrolle. Autorität war kaum vorhanden und das Vorgehen war ineffektiv. Die Reichen flohen, während die Armen verlassen waren. Führer zögerten, während die Plünderer zuschlugen. Banditen trieben ihr Unwesen, während die Nation Scham fühlte. Das erste Gesetz des sozialen Zusammenhalts – dass in Zeiten der Krise die Schwachen geschützt werden müssen – wurde mit Füßen getreten. Die Armen in New Orleans zurück zu lassen war moralisch gleich bedeutend damit, Verwundete auf dem Schlachtfeld zurück zu lassen. Kein Wunder, dass das Vertrauen in die zivilen Institutionen sinkt. ... Jeder Fehler der Institutionen und jedes Zeichen der Hilflosigkeit ist ein neuer Schlag gegen die nationale Moral.” (New York Times, 4.9.05)

Die Katastrophe des 9/11 hatte nicht nur Todesopfer zur Folge, sondern verletzte ein viel wertvolleres Gut, das Ansehen der Nation. Doch die Beschädigung des Vertrauens in die Stärke und Unangreifbarkeit der Nation wurde wett gemacht durch das Auftreten der Führer. Sie haben das Sondergesetz der Gleichbehandlung beachtet, das es in Krisenzeiten offensichtlich gibt, nämlich Arme und Reiche nicht als unterschiedlich wertvolles Staatsmaterial, sondern gleichermaßen als Amerikaner zu behandeln. Sonst gilt der Satz, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist – in Notzeiten wird den Armen zugebilligt, dass sie ausnahmsweise nichts für ihr elendes Los können und der Zusammenhalt der Nation beweist sich darin, dass der Staat für die Unterlegenen sorgt. Wie im Krieg, wo ein starker, fürsorglicher Staat sein Kanonenfutter nicht zurück lässt, sondern ohne Ansehen der Person die Verletzten – zur Wiederverwendung – versorgt und sogar noch seine Toten einsammelt. In Notzeiten haben die Armen folgerichtig nicht mehr als Miller, Mayer oder Schultz, als Schwarze oder als Weiße zu gelten, sondern nur noch als amerikanische Staatsbürger. Und Amerika ist gefährdet, wenn die Politik nicht das Heft in die Hand nimmt und hilft, also die Ordnung machtvoll wiederherstellt. Wie souverän dieses Auftreten gelingt, ist der Ausweis der Leistungsfähigkeit jedes Staates, gegenüber den eigenen Bürgern wie gegenüber auswärtigen Betrachtern. Doch nichts von alledem geschah, womit das Desaster von New Orleans das Ansehen Amerikas in den augen der Amerikaner geschädigt hat. Damit gerät der Ruf des Exportartikels in Misskredit, für dessen weltweiten Vertreib viele Vertreter in Uniform global tätig sind: “Wir haben Menschen auf der ganzen Welt erzählt, wie man eine Demokratie und eine zivile Gesellschaft führt, und jetzt haben wir das blutige Innenleben unsrer Gesellschaft vor der Welt enthüllt, die leidende Unterklasse, kaum des Lesens und Schreibens mächtig – ein weiterer schrecklicher Schlag gegen unsere Reputation.(International Herald Tribune, 7.9.05) Jetzt, wo auch die “Unterklasse” nur noch als Teil der Nation zählt, gilt ihr Elend und ihre Verwahrlosung als Leiden und passt “in Zeiten der Krise” nicht zu Amerika – eine einzige Schande.

Ein echter Amerikaner will nämlich stolz sein auf seine Nation. Er will sich ganz unmittelbar, gefühlsmäßig und schrankenlos mit seiner Nation identifizieren, die in jeder Hinsicht Spitze zu sein hat. Weil die Amis so gestrickt sind, leiden sie unter den in ihren Augen geradezu unamerikanischen Umtrieben des Präsidenten und fühlen Scham über das Bild, das der Führer im Umgang mit Amerikanern abgegeben hat, denn “Amerikas Image zählt zu den Opfern” (International Herald Tribune, 7.9.05). Der Präsident hat damit dem guten Amerikaner eine Schande bereitet, weil der sich für sein Land schämen musste. Als gute Patrioten haben sie verstanden und dokumentieren ihr Einssein mit der Nation. Einigkeit und Zusammenstehen ist gefordert, und sie halten das gegen den Präsident hoch, was mit dem regierungsamtlichen Versagen und der zögerlichen Reaktion verletzt wurde – die nationale Moral: “Nicht nur an den öffentlichen Gebäuden wehen die Fahnen dieser Tage auf Halbmast, es scheint, als hätten die “Stars and Stripes” ganz Boston erobert. ... Auf Autoaufklebern ist wieder zu lesen “United we stand” oder “God bless Amerika”. ... Fast an jedem Einfamilienhaus in den Vorstädten der Metropole ist das Sternenbanner geflaggt.” (Stern.de, 8.9.05). Hartgesotten wie sie sind, die Amerikaner, bringt sie eben kein noch so “blutiges Innenleben” davon ab, mit der Hand auf dem Herzen hinter der Nation zu stehen!

Das “größte Wiederaufbauprogramm der Geschichte” (George W. Bush)

Der Ärger und die Unzufriedenheit treffen natürlich den, der es in den Augen Amerikas der Nation eingebrockt hat: Konsequent fallen die Umfragewerte des Präsidenten. Das ist dann für Bush ein Argument, das sticht, im Gegensatz zu Armut und Elend. Der Imageschaden darf so nicht stehen bleiben, für seine Popularität muss jetzt einiges unternommen werden. Da wird er rührig und lässt sich auch nicht davon abhalten, dass ihm entgegengehalten wird, das sei doch eine einzige Show. Er versucht, mit einer Verbeugung vor seinen Amerikanern verlorenes Terrain wieder gut zu machen und “lobte die Hilfsbereitschaft der Amerikaner als ‚einfach erstaunlich‘“ (SZ, 6.9.05). Damit nicht genug. Mit einem mea culpa versucht er die persönliche Blamage ungeschehen zu machen – “Katrina deckte ernste Probleme unsrer Einsatzkräfte auf allen Verantwortungsebenen auf. Für den Bereich, in dem die Bundesregierung ihren Pflichten nicht gerecht wurde, übernehme ich die Verantwortung.” (zit. nach New York Times, 13.9.05). Die Verantwortung setzt er dann auch gleich um und lässt sich dabei nicht lumpen. Vor Ort bringt er das unkapitalistische Mittel zum Einsatz, das zu Hause wie weltweit zum Einsatz kommt, wenn überlegene Stärke an Mensch und Material für die Ehre der Nation, also ohne Rücksicht auf Kosten gefordert ist, das Militär. Jetzt sind auf einmal jede Menge wassergängige Fahrzeuge da. Martialisch dreinblickende Zivilgardisten, Irak-Krieg-erprobt und erkenntlich schießbereit, bekämpfen die Plünderer und halten die Leute im Superdome in Schach. So bringen sie den Hungernden das erste Lebensmittel der Nation – Ruhe und Ordnung. Angesichts des beeindruckenden Ausmaßes der Not geht die Almosensammlerei unter Beteiligung bekannter Stars los. Befreundete Staaten dürfen ihr Scherflein an Material und Personal beitragen – wobei manche Speise wegen BSE-Gefahr schon mal zurückgewiesen werden muss; und Hilfsangebote missliebiger Staaten gar nicht erst zur Kenntnis genommen werden – soweit käme es noch, denen die Ehre zu erweisen, Amerika helfen zu dürfen!

Die Umfragewerte rühren sich nicht. In Anbetracht dessen und des “biblischen Ausmaßes” der Schäden verkündet der Präsident das “größte Wiederaufbauprogramm der Geschichte” in einem Umfang von 200 Mrd. Dollar. New Orleans soll wieder auferstehen, mit ganz neuen Straßen und auch neuen Hütten, weil die Leute da unten schließlich, wie jeder sehen konnte, so arm sind. Das war’s dann.

Was übrigbleibt im Alltag,

wenn die Welle der nationalen Empörung abgeebbt ist, ist das, was für den Amerikaner wirklich zählt: Das Geschäft geht weiter. Die Versicherungen besichtigen die Schäden, die der Sturm in ihren Bilanzen angerichtet hat – so eindeutig schädlich scheint das aber gar nicht zu sein: “Allerdings berichtet das ‚Wall Street Journal‘, dass die Aktienkurse britischer Versicherungskonzerne stiegen, weil sie nun mit höheren Versicherungsprämien und einem Anstieg von Neuversicherungen rechnen.” (FAZ.net.de, 13.9.05) Und das angekündigte Aufbauprogramm zeigt auch schon erste Erfolge: “In der Erwartung, dass vor allem Baufirmen profitieren, stiegen die Aktien dieser Firmen bereits am vergangenen Freitag an der Wall Street. ‚Der Wiederaufbau in der Region am Golf von Mexiko könnte Tausende neue Arbeitsplätze bringen, was sich positiv auf Firmengewinne, die Wirtschaft insgesamt und die Märkte auswirken könnte‘, hieß es von der Investmentfirma FTN Financial. Bislang hatten sich bei Naturkatastrophen in den USA Schäden und Wachstumseffekte stets in etwa die Waage gehalten.” (SZ, 5.9.05) Dank der Regierungsmilliarden und den billigen Löhnen der Arbeitskräfte da unten winken den Baukapitalisten satte Gewinne. Und ein Skandal wird erst dann wieder daraus, wenn die kritische Öffentlichkeit bei der Vergabe an Halliburton et al. “politische Vetternwirtschaft” entdeckt.