GEGENARGUMENTE

Vorzeitige Neuwahlen in Deutschland

Kanzler Schröder stellt die Machtfrage

Die SPD verliert eine Landtagswahl nach der andern, schließlich auch die in ihrem sog. “Stammland” NRW, dort wird die letzte rotgrüne Koalition auf Länderebene abgewählt. Die politische Stimmung im Volk, per “Sonntagsfrage” kontinuierlich ermittelt, ist schlecht wie nie für die Berliner Regierung. In der SPD mehren sich die Zweifel an der staatsmännischen und vor allem der parteistrategischen und wahltaktischen Weisheit des Schröder-Kurses.

Noch am Sonntag der NRW-Wahl reagiert der Kanzler: Er stellt sich vorzeitig zur Wahl. Seine Begründung: “Die Menschen in Nordrhein-Westfalen haben einen Wechsel in der Landesregierung herbeigeführt. Gestützt darauf wird, öffentlich wie nicht öffentlich, die Unterstützung der Politik, für die ich stehe, bestritten. Da ist es doch nur konsequent, zu sagen: Ich stelle mich denen, um die es wirklich geht, nämlich dem Souverän … Wir wollen jetzt wissen, ob die Menschen bereit sind, unsere Politik auch weiterhin zu unterstützen … klar ist, dass unsere Politik fortgesetzt wird.” (Die Zeit, 25.5.05)

1.

Ein interessanter Dialog, den der Chef der Republik mit dem von ihm regierten Souverän da eröffnet. Schröder “will es wissen” – aber überhaupt nicht, was “die Menschen” von seiner Politik halten, womit sie unzufrieden sind, warum sie mehrheitlich gegen seine Partei votieren, sobald sie zu einem Votum aufgefordert werden. “Wissen” will er einzig und allein, ob sein Volk tatsächlich und allen Ernstes mit ihm so unzufrieden ist, dass es ihn nicht mehr im Amt haben will. Für Einwände gegen seine Politik, Gründe zur Unzufriedenheit mit seiner Regierungslinie, Argumente irgendwelcher Art interessiert er sich überhaupt nicht – “unsere Politik” wird auf jeden Fall “fortgesetzt”. Das Einzige, was ihn interessiert, nachdem mit dem “Verlust” Nordrhein-Westfalens für ihn ein gewisser Ernstfall eingetreten ist, das ist seine Macht, seine Politik unverändert fortzusetzen. Seine Richtlinienkompetenz will er vom wählerischen Souverän erneuert kriegen, und das “jetzt” und in einer Art und Weise, dass er wieder unbestritten und mit allem demokratischen Recht gegen alle Widerstände “durchregieren” kann, wie es die CDU-Chefin in ihrem Beitrag zu Sinn und Zweck vorgezogener Neuwahlen so hübsch treffend ausgedrückt hat.

Solche Widerstände mehren sich. Die christlich-freiheitliche Konkurrenz macht ihm über den Bundsrat das Regieren so schwer, wie die Verfassung es erlaubt und die Oppositionstaktik es gebietet, und die eigene parlamentarische Basis folgt zwar noch bedingungslos, aber nicht mehr gern: Das hat “der Wähler” mit seinem widrigen Wahlverhalten und seiner unzufriedenen Stimmung geschafft. Und genau das stört den Kanzler. Das stört ihn so sehr, dass er vom Volk die Entscheidung haben will, ob es bloß wegen seiner Unzufriedenheit wirklich seiner Entmachtung Vorschub leisten will – dann soll es sich aber gleich eine neue Führung wählen, für eine schleichende Entmachtung ist er, der Schröder, nicht zu haben. Oder ob es sich bei aller Unzufriedenheit mit ihm als Chef des Ladens doch immer noch am besten bedient findet, dann soll es aber gefälligst auch in diesem Sinne klare Verhältnisse schaffen, er gibt ihm die Gelegenheit dazu. Die höfliche Erkundigung nach der Bereitschaft “der Menschen”, die “Politik, für die ich stehe”, weiterhin zu “unterstützen”, kommt insofern einem Ordnungsruf  schon ziemlich nahe: Der Souverän soll zur Besinnung kommen, sich klar machen, dass er dabei ist, sich mit seiner Unzufriedenheit unversehens an der Macht seines Kanzlers zu vergreifen, und sich fragen, ob das wirklich in Ordnung ist. Indem er sich zur Wahl stellt, erinnert Schröder “den Wähler” an seine demokratische Aufgabe, eine Regierung zu ermächtigen und dem gewählten Chef den Rücken zu stärken, und ihm nicht mit einer Verschiebung der Machtverhältnisse, deren Auswirkung er womöglich gar nicht will, in den Rücken zu fallen.

2.

Der wählende Souverän hat zu diesem demokratischen Dialog gar so viel nicht beizutragen. Worauf all seine Unzufriedenheit praktisch hinausläuft, welchen politischen Inhalt all seine Vorbehalte, Bedenken und Einwände gegen Schröders Politik in seinem demokratischen Gemeinwesen tatsächlich haben, das liegt mit dem Neuwahl-Beschluss des Kanzlers fest: Schröder will weiterregieren, “die Menschen” sollen Ja oder Nein dazu sagen – dazu, zu Schröders Machtfrage ans Volk; zur Unzufriedenheit des Kanzlers mit den für ihn zunehmend beengend wirkenden Schranken seiner Macht sollen sie mit einem einseitigen Ermächtigungsakt Stellung nehmen. Das wär’s dann mal wieder mit der Unterredung zwischen Chef und Souverän.

Damit fällt einiges unter den Tisch. Keinerlei Beachtung findet da, nur zum Beispiel, die Massenbilanz in Sachen Lebensstandard nach 7 Schröder-Jahren, die manchen von Schröders “Menschen” mit Sicherheit heftiger belastet als die Frage, ob es nun weiterhin Schröder sein soll, der ihnen sagt, wo es lang geht, was sie dürfen und was sie müssen, worauf sie kein Recht mehr haben und wozu sie stattdessen verpflichtet sind, oder jemand anders. Immerhin ist die Masse der bundesdeutschen Gesellschaft in dieser Zeit ärmer geworden, der eine oder andere Teil sogar ziemlich rasant und massiv; doch wer sich daran stört, dem stellt der Kanzler ganz praktisch die Gegenfrage, ob deswegen denn die Opposition regieren soll; und keine andere Frage gibt es für die wahlberechtigte Menschheit im Land zu beantworten. Vielleicht möchten sich ein paar Leute darüber beschweren, dass sie mehr denn je um ihren Lebensunterhalt aus Lohnarbeit fürchten müssen, obwohl es doch zu Beginn der 7 goldenen Schröder-Jahre geheißen hatte: “Wir wollen uns jederzeit daran messen lassen, in welchem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen. …Wenn es uns nicht gelingt, in den ersten Jahren einen Durchbruch zu erzielen, dann haben wir es nicht verdient, weiter zu regieren.” Von “Durchbruch” keine Spur; aber der Kanzler findet, dass nach wie vor er und sonst niemand “es verdient, weiter zu regieren”; um das bestätigt – oder bestritten – zu kriegen, stellt er sich zur Wahl. Eine Anzahl altgedienter SPD-Genossen und eine Menge SPD-Wähler ärgern sich öffentlich darüber, dass “ihre” Regierung Dinge “geopfert” hat, die sie immer für Errungenschaften der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gehalten haben, und das, ohne dass an anderer Stelle etwas Arbeitnehmerfreundliches dabei herausgekommen wäre: Deren Beschwerde kontert der Kanzler genauso ausdrücklich und öffentlich damit, dass er sich zur Wahl stellt, womit er seine enttäuschten Anhänger vor die Wahl stellt, ob ihnen eine sog. “bürgerliche” Figur im Kanzleramt tatsächlich lieber ist – nicht gerade ein sehr sachlicher Diskussionsbeitrag.

3.

Aber genau das Passende für Schröders demokratischen Dialog mit seiner Basis. Denn unter demokratischen Verhältnissen geht die Unterordnung aller gesellschaftlichen Bedürfnisse und Nöte, Verbesserungswünsche und Interessenkollisionen unter die personenbezogene Machtfrage völlig in Ordnung. Das ist ja gerade die entscheidende Leistung dieses so vorbildlich effektiven Herrschaftssystems: Es schreibt jeder Sorte Unzufriedenheit im Bürgervolk und jedem politischen Begehren, auch jeder Kritik an der Staatsmacht und an ihrer amtlichen Betätigung als ihren eigentlichen, politisch einzig praktikablen Inhalt den Wunsch nach uneingeschränkt machtvoller Führung zu, und macht diese Unterstellung dadurch praktisch wahr, dass sie dem regierten Souverän eine Auswahl zwischen mehreren – der Einfachheit und Übersichtlichkeit halber in stabilen Demokratien meist zwei – kongenialen Führungsalternativen zumutet. In die entsprechenden Abwägungen und vergleichenden Einschätzungen sollen mitdenkende Bürger ihre sämtlichen sozialen Bedürfnisse und ihren gesamten politischen Scharfsinn einmünden lassen – mehr als die Entscheidung zwischen den gegebenen Alternativen kommt ja nicht heraus, also brauchen sie sich auch gar keine anderen Gedanken zu machen als den, wen sie ermächtigen sollen. Das dürfen sie dann als ihre große Freiheit begreifen und genießen.

Und nichts anderes, genau das offeriert Schröder seinem Volk, wenn er “vor die Wähler tritt”, denen seine Unzufriedenheit mit politischen Verhältnissen erklärt, die, gemessen an seinem Anspruch auf uneingeschränkte Machtausübung und bedingungslose Unterstützung auf einen allmählichen Machtverlust hinauslaufen, und Abhilfe verlangt. Er geht davon aus, dass “die Menschen” auch keine anderen Sorgen haben als er, nämlich dass ihr Chef im Kanzleramt zur “lahmen Ente” verkommen könnte, und kein Problem dringlicher finden, überhaupt alle politischen Probleme im Ernstfall völlig in dem einen zugespitzt zu sehen, ob die Macht im Staat nicht doch weiterhin bei ihm, Schröder, in den vergleichsweise besten Händen ist. Der Chef des “rotgrünen Projekts” handelt exakt nach dem Drehbuch des demokratischen Zynismus: Ohne eine Infragestellung der Staatsmacht zuzulassen, vielmehr um jedes Bedenken gegen sie vorsorglich zu neutralisieren und sogar ins Konstruktive zu wenden, wird den Regierten periodisch ein Ermächtigungsakt abverlangt und dabei die einzige Freiheit eingeräumt, in der Personalfrage nach Maßgabe der gebotenen Alternativen wählerisch zu sein. Von der bundesrepublikanischen Sitte weicht Schröder nur insofern ab, als er die gesetzlich vorgeschriebene Wahlperiode nicht “aussitzen” mag, sondern aus Verdruß über die “Knüppel”, die irgendwelche Intriganten ihm “zwischen die Beide werfen”, auf vorzeitige Ermächtigung setzt.

4.

Und der deutsche Souverän ist es zufrieden. “Danke, Kanzler!” lässt zumindest die Bild-Zeitung verlauten: dafür, dass ihm ein ganzes Jahr unter einem – mit seiner Machtfülle – unzufriedenen Regierungschef erspart bleibt. Jede Meinungsumfrage bestätigt: Kaum will Schröder “es wissen”, ist der mündige Bürger auch schon scharf darauf, ihm Bescheid zu geben. “Die Entscheidung für Neuwahlen ist zuallererst ein ebenso unerwarteter wie chancenreicher Dienst an der Bundesrepublik Deutschland. Deutschland hätte eine elende Phase des Gezerres und der Agonie vor sich gehabt, bis zur Bundestagswahl im September nächsten Jahres, also eine halbe Ewigkeit lang.”  (Die Zeit, 25.5.)

Dass die Macht einer demokratisch gewählten Regierung keinerlei Beschränkung verträgt, ist den weisen Kommentatoren aus Hamburg ebenso klar und selbstverständlich wie dem Kanzler. Genauso geläufig und einsichtig wie der “bürgerlichen” Konkurrenz ist ihnen der Job einer demokratischen Opposition, im Kampf um die Macht den jeweils amtierenden Kollegen auch da keinen Erfolg zu gönnen, wo nicht zuletzt sie selber davon ausgeht, dass allerlei Sachzwänge respektvoll in Kraft zu setzen und die unbedingten Funktionserfordernisse des kapitalistischen Standorts zu managen wären; so dass, je stärker die demokratische Opposition und je einiger sie in der Sache mit der Regierung ist, mit umso mehr “elendem Gezerre” zu rechnen ist. So gesehen ist es eine – vielleicht die letzte – Heldentat des Kanzlers, der Staatsmacht etwas zu ersparen, nämlich ihre angebliche demokratisch selbstverschuldete “Agonie”, und so oder so für klare Herrschaftsverhältnisse zu sorgen.

5.

Ganz so selbstlos, so systemstabilisierend ist die Aktion “Neuwahlen jetzt!” von ihrem Urheber allerdings doch nicht gemeint. Deutschlands Demokratie hat eine solche Rettungsaktion ganz bestimmt nicht nötig; umso mehr der Kanzler selbst. Dem ist völlig klar: Wenn unter seiner Regentschaft die SPD dauerhaft unter die 30 % fällt und kein Bundesland mehr rotgrün regiert wird, dann schlägt das gegen ihn, den Chef der Koalition aus. So wie er alle Erfolge beim Machterwerb und -erhalt sich zurechnet und zugerechnet bekommt, so haftet er nach der unbarmherzigen Führer-Logik der Demokratie auch für Niederlagen; und nach der Kette verlorener Landtagswahlen wären eine Generalabrechnung der Partei mit ihm und eine Umorientierung des Koalitionspartners eigentlich überfällig.

Dieser Gefahr kommt Schröder zuvor, indem er die in Landtagswahlen und als politische Stimmung zu Protokoll gegebene Unzufriedenheit der Stimmbürger gleich auf seine Person bezieht, mit dem Standpunkt: “Das kann doch wohl nicht euer Ernst sein!” offensiv zurückweist und sich zur Wahl stellt: Den eigenen Leuten lässt er gar keine Chance zur Rebellion – stattdessen bringt er die Opposition in Zugzwang, für die Wahl einen neuen Kanzlerkandidaten aufzubauen. Alle Zweifel an seiner Ausnahmestellung als einziger vorzeigbarer Repräsentant sozialdemokratischer Regierungsfähigkeit und konkurrenzlos dominierender Chef der rotgrünen Koalition erstickt er im Keim, indem er die politische Alternative aufmacht, um die sich bis auf Weiteres alles dreht: ‘Ich oder die andern!’

Die eigenen Leute zeigen prompt die beabsichtigte Wirkung. Die SPD bläst den Streit um den “scharfen Gegenwind aus Berlin” und den Kanzler der ‘Agenda 2010’ ab, noch bevor er begonnen hat, und schart sich um ihren tatkräftigen Führer. Aus Schröders ‘Ich oder die andern!’ macht sie fast ohne jede Schrecksekunde ein bedingungsloses ‘Wir oder die!’, wie es sich für einen demokratischen Kanzlerwahlverein gehört. Kein Genosse und auch kein Grüner und schon gleich keiner von irgendeinem “linken Flügel” will in den Verdacht geraten, in dieser “Schicksalsstunde” des “rotgrünen Projekts” passte auch nur ein Blatt zwischen ihn und seinen Kanzler: Im Kampf um die Macht steht die Mannschaft wie eine Eins. Auch die allzeit kritische Öffentlichkeit, seit geraumer Zeit eher damit beschäftigt, gegen die in ihrer Regierungsmacht angeknacksten Rotgrünen Stimmung zu machen, zeigt sich – zunächst jedenfalls – beeindruckt von Schröders “spektakulärem Coup”, seinem “kühnen Handstreich”, auch von der Raffinesse, mit der der “Medienkanzler” der in NRW siegreichen Konkurrenz “die Schau” und die Schlagzeilen stiehlt, womit er selbst die für diese Schlagzeilen verantwortlichen altgedienten Interpreten des demokratischen Polit-Show-Business überrascht – in der Begutachtung taktischer Winkelzüge im demokratischen Machtkampf kennen die sich aus, da sind sie in ihrem Element, da wird das “schmutzige Geschäft” der Politik für sie zum Genussmittel. In ihrem untrüglichen Gespür für Erfolgschancen wissen dieselben Fachleute des Kanzlers Offensive im nächsten Moment dann auch wieder andersherum einzuordnen: In dem Maße, wie der prompte Effekt auf die Umfragewerte der Parteien ausbleibt, auf den die Profis des demokratischen Polit-Geschäfts spekuliert haben, sieht das Ganze dann doch mehr nach einem “Selbstmord-Kommando” (FAZ, 11.6.) und wie ein “Befreiungsschlag ins Wasser” (SZ, 10.6.) aus. Doch auch das muss noch nicht das letzte Wort sein. Das demokratische Schauspiel beginnt ja gerade erst.

Diesmal stellt sich dem Wähler sogar eine neue Alternative: Die Linkspartei

Die Partei der Schlechtergestellten auf dem Weg ins Parlament: Armut wieder lebenswert in Deutschland!

Der politische Mainstream ist unwiderstehlich und der anlaufende Wahlkampf bestätigt die Einigkeit von Regierung und CDU/FDP-Opposition: Die Nation kann nur gerettet werden durch Hartz IV, durch Vorfahrt für Arbeit unter Ausklammerung der Frage, ob man davon leben kann – und eine Neudefinition des “Sozialen”, das diesen Ehrentitel heute nur mehr verdient, wenn es “Arbeit schafft”, egal zu welchen Konditionen. Aber: Es gibt sie doch noch, die Minderheiten. Sie stemmen sich der Allparteienkoalition entgegen, die neue Pegelstände der Volksverarmung markieren und damit Deutschland wieder “nach vorne bringen” will. Diese Außenseiter liegen, demoskopisch gesehen, zunächst bei 2,5 und 4,5 Prozent, nennen sich WASG und PDS, und haben sogar ganz Linke in ihren Reihen, die sich nicht scheuen, das soziale Arbeit-Schaffen im Kapitalismus überhaupt anzweifeln: Sie erlauben sich in ihren “programmatischen Grundlagen” den lebensnahen Hinweis, dass

die Zahl der Armen zunimmt und die Anstrengungen der Menschen bei ihrer Arbeit, ihre Bemühungen um bessere Produktionstechnik und Organisation, sinnlos werden: Denn was die Arbeit erleichtern kann, vergrößert den Stress, was die Produktivität der Arbeit erhöht, die Arbeitszeit ergiebiger macht, vermehrt die Arbeitslosigkeit” (WASG, Vorschläge für programmatische Grundlagen vom 27.6.2004)

Noch bevor man sich aber als ein von den Zumutungen der Geschäftswelt und ihrer Politiker genervtes Gemüt, in Erwartung eines herzhaften “Hau weg den Scheiß”, sympathisierend bei einem solchen Programm einklinken kann, stolpert man unvermeidlich über ein nicht zu überhörendes “Bekenntnis zu ... Marktwirtschaft, zu freiem Unternehmertum und zu Gewinnen” (Lafontaine, SZ 16.6.) aus den Führungsetagen dieses Wahlvereins und wird wie folgt belehrt: “Die bisherige Politik hat nichts gebracht. Es sind keine Arbeitsplätze entstanden.” (Gysi im Fernsehen bei Christiansen, 5.6.05)

Was “die bisherige Politik” alles “gebracht” hat, ihr Erfolg und der des Kapitals in Sachen Produktivitätssteigerung, die mehr Armut, Anstrengung und Arbeitslosigkeit schafft, das soll, kaum einmal flüchtig programmatisch kritisiert, eigentlich ein Scheitern belegen? Diese Erfolge sollen als Misserfolg der “bisherigen Politik” vorgeworfen werden, die keine “Arbeitsplätze” zum “Entstehen” gebracht hat? Ist das schade, wenn es auf denen so zugeht, wie gerade noch im Programm beschrieben?

Solche Vorwürfe und das Bedauern über das Ausbleiben von Ausbeutung mittels möglichst vieler kapitalistischer Arbeitsplätze lassen erkennen, dass die linken Alternativen sich einerseits – “programmatisch” eben, wie das so vielsagend heißteine durchaus schlechte Meinung über das kapitalistische Wirtschaften halten, andererseits aber weder ihm und schon gleich nicht der zuständigen Staatsgewalt prinzipiell den Streit antragen wollen: So wird jeder Beweis für die drohende Haltung, die diese Produktionsweise gegen den proletarischen Lebensunterhalt einnimmt, ein Grund mehr, auf der Vereinbarkeit von rentabler Arbeit und gutem Leben zu bestehen, weil sie vereinbar sein sollen, weil eben die Wirtschaft einfach nicht anders geht, aber mehr Rücksicht auf die “sozial Schwächeren” nehmen könnte.

Und damit sind schon alle unschöne Reminiszenzen an Klassengegensätze und ihre kämpferische Austragung, mit denen sich Linke früher regelmäßig unbeliebt gemacht haben, getilgt. Nicht einmal “der Begriff Sozialismus kommt in dem Programm vor” (die kritische Öffentlichkeit), das sich die frisch vermählten Parteien PDS und WASG für ihre Neuschöpfung, die “Linkspartei”, gegeben haben. Die Anforderungen an die Adressaten bewegen sich dem entsprechend ganz in den Grenzen des demokratischen Realismus: Sie sind nicht zu irgendeiner Sorte von praktischem Widerstand aufgerufen, sondern nur, das aber nachdrücklich, zu einem entschieden linken Kreuzchen bei der vereinigten “Wahlalternative”.

Die will den Durchbruch als die Partei der Schlechtergestellten schaffen und den Zukurzgekommenen, den “Globalisierungs- und Wendeverlierern” (Spiegel), Sitz und Stimme im Parlament verleihen. Dem Ideal der politischen Sozialpflege zugunsten der Armen, die es nun einmal im Kapitalismus gibt, wollen sie wieder Geltung verschafften. Den Grund der Armut abschaffen zu wollen, dazu sind sie zu sozialdemokratisch; dafür einzutreten, dass “die Armut nicht größer werden” solle, dafür sind sie allemal sozialdemokratisch genug. Zumindest mehr als die Schröder-SPD mit ihren sozialstaatlichen Wegwerfaktionen. Deren politisches Erbe wollen sie antreten und dafür sorgen, dass im Lande wieder mehr mit Blick auf die schlechter oder gar nichts Verdienenden regiert werde und sie – ganz ohne prinzipiellen Antikapitalismus, ganz ohne “Systemalternative” – ein wenig besser gestellt würden.

Mit diesem sozialmoralischen Optimismus tritt der neue, wirtschafts-, staats- und menschenfreundliche Verein dem “großen Kartell der sozialen Kälte der anderen Parteien” (Programm der Linkspartei) entgegen; und mit dieser Gewissheit bezweifeln sie Schröders “Sachzwänge” und Merkels “ehrliche Bilanz”, die beide weitere “Einschnitte bei den Sozialleistungen” begründen sollen. Sie fühlen sich am stärksten, wenn sie ihre ganze Beweiskraft darauf verwenden, erst nach- und dann dem Publikum vorzurechnen: Verelendung muss im Kapitalismus nicht sein! Wo alle politischen Kräfte im Lande behaupten, die Arbeit sei zu teuer hier zu Lande und das Soziale unerträglich aufwändig, der Wiederaufschwung des privaten Reichtums in Deutschland brauche deswegen deutlich mehr Arbeiterarmut, da hält die Linkspartei dagegen und besteht darauf, der deutsche Kapitalismus könne auch ohne Massenarmut florieren. So haben sie viel zu versprechen: Den Arbeitern “Lohnarbeit in Würde, nicht in Armut” (Eckpunkteprogramm); den “Arbeitslosen, Rentnern und Arbeitnehmern in Deutschland”, dass sie “ordentlich behandelt” (Lafontaine, SZ, 16.6.) werden sollen; natürlich dem Kapital den Ausweg aus der Krise durch mehr Massenkaufkraft; und der Demokratie einen “Neubeginn der Linken und einer sozialen Alternative” (www.w-asg.de, 24.6.), zumindest aber “eine breite, radikale Opposition” (ebd.) und noch die “unverzichtbare Stimme der Ostdeutschen.” (Programm der Linkspartei)

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So hätte man also mitten im Konkurrenzgetümmel der Parteien ein historisch gesehen ziemlich abgestandenes, nach aktuellen Maßstäben taufrisch aufgewärmtes sozialdemokratisches Angebot, das sich gegenüber dem Reformfundamentalismus aller anderen richtig alternativ ausnimmt: Die neuen deutschen Linken wollen wieder einmal die Gesellschaft mittels Sozialhilfe und Armenpflege versöhnen statt spalten, auch wenn sich der Rest der “politischen Klasse” und die nationale Kapitalistenmannschaft, mitten im Klassenkampf von oben, überhaupt keinen Versöhnungsbedarf haben. Die neue Partei könnte also getrost, befeuert von immer besseren Umfragewerten, zum Wahlkämpfen und Wählenlassen schreiten. Allerdings haben die beiden Teilvereine zunächst gewisse Schwierigkeiten miteinander:

Die einen fürchten, in einer bundesweiten Linkspartei zusammen mit ahnungslosen “Besserwessis” unter zu gehen und auf dem Wählermarkt an Anziehungskraft zu verlieren, wenn sie nicht mehr als Sammelbecken Respekt suchender “Ostbiographien” erkennbar wären und auf ihren “spezifisch ostdeutschen Erfahrungshintergrund” pochen könnten. Manche Westler von der WASG, überwiegend hartgesottene Antikommunisten aus sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Kreisen, halten die PDS nach wie vor für eine Art Tarnorganisation der SED, einen Verein deshalb, in dem noch auf allen möglichen Plattformen der Stalinismus nistet: “Bei uns haben noch viele vor Euch Angst” (WASG-Chef Ernst an die Adresse der PDS)

Die wechselseitigen Vorbehalte der Ost-Volkspartei, die um ein Stück alternativer deutsch-patriotischer Parteiengeschichte fürchtet, wenn sie zu sehr verwestlicht, wie die der freiheitlichen Sozis gegen den angeblichen Stalinismus der SED-Enkel und ihren “Ossi-Mief” (Spiegel), speisen sich aber erkenntlich weniger aus programmatischen Differenzen, schon eher aus solchen der jeweiligen “politischen Kultur”: Deswegen bekommen sie ruckzuck ein gemeinsames Wahlprogramm zustande und stellen fest, dass sie “zum Erfolg verurteilt” (Gysi) sind und sich gegenseitig brauchen, wenn sie in Ost und West gewählt werden wollen.

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Da trifft es sich glänzend, dass sich für den Wahlverein eine Kandidaten-Doppelspitze gefunden hat, die man nur als Glücksfall für das Vereinigungsprojekt betrachten kann: Zwei erfahrene Polithaudegen, die eine gewisse Flexibilität sowohl in Sachen Programmatik als auch in politischer Kultur vorweisen können, und die, gnadenlos erfolgsorientiert wie sie sind, als Personen die gelungene Einheit der Differenzen repräsentieren: Gysi, mit makelloser Ossi-Abstammung und halbwegs abgewehrtem Stasi-Verdacht, aber ein sozialliberaler Windbeutel, dem auch kein Wessi heute noch stalinistische Machenschaften zutraut; und Lafontaine, alter West-SPDler mit Regierungserfahrung, der so glaubwürdig das Erbe der Arme-Leute-Partei, die die SPD nicht mehr sein will, einfordert – im Namen der von “Globalisierung” und falscher, “neoliberaler” Wirtschaftspolitik Geschlagenen, dass er damit auch als Westler bei den Vereinigungsopfern der “neuen Länder” landen kann. Dass diese Figuren, mit ihrem Star-Status, durchaus einige Distanz zu und manchmal ein wenig Verachtung für ihre neue Gefolgschaft heraushängen lassen, die sie zum Vehikel auch ihres persönlichen Erfolges machen wollen, muss auf dem ekelhaften Markt der demokratischen Persönlichkeiten kein Schaden sein. So bekommt die neue sozialdemokratische Linke Alternative die Kandidaten, die sie verdient.