GEGENARGUMENTE

Demokratie, Marktwirtschaft, Menschen- und Frauenrechte für ‘Middle East’:

Die Weltmacht will die Welt verbessern

Der wiedergewählte US-Präsident hat sich bekanntlich viel vorgenommen. Nicht nur alle Erscheinungsformen der „Tyrannei“, sofern nicht von Amerika in Auftrag gegeben, stehen auf der offiziellen US-amerikanischen Abschußliste, auch ein sozusagen ziviles Weltverbesserungsprogramm ist längst in Arbeit. Vor allem und besonders gründlich dort, wo die Weltmacht die gröbsten Mängel entdeckt hat: Die arabisch-islamische Staatenwelt zwischen Marokko und Afghanistan ist aus amerikanischer Sicht dadurch gekennzeichnet, dass in ihr ein aktionsfähiger militanter Antiamerikanismus zu Hause ist; und dagegen geht die US-Regierung vor. Nicht nur mit militärischer Gewalt; darüber hinaus mit einer umfassenden Reform-Offensive, die auf den Transfer marktwirtschaftlicher Tugenden, demokratischer Sitten und bürgerlicher Rechtsgrundsätze in diese Region zielt. Grundsätzlich gehören derartige Weltverbesserungsprogramme seit jeher zum Standard-Repertoire amerikanischer Weltpolitik. Je gewaltsamer und je durchgreifender sie auswärts ans Werk gehen, desto nachdrücklicher bekennen US-Regierungen sich zu dem Ziel, die Freiheit zu sichern, die Herrschaft des Rechts durchzusetzen und überhaupt die Welt zu einem ‘better place’ zu machen. Mit ihrer ‘Middle East Partnership Initiative’ (MEPI) und zusätzlichen Reformprogrammen für die arabisch-islamische Staatenwelt nimmt sich die aktuelle US-Regierung da allerdings durchaus etwas Besonderes und Neues vor.

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Wenn die USA sich um Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechte in anderen Nationen kümmern – daraus machen sie kein Geheimnis, und von ihren regierenden Ansprechpartnern täuscht sich darüber auch keiner –, dann wollen sie, dass das jeweilige Ausland ihren Vorstellungen von ordentlicher Regierung, ihren marktwirtschaftlichen Interessen und dem Menschenrecht ihrer Kapitalisten auf freie geschäftliche Betätigung entspricht. Für die weltweit maßgebliche Demokratie, Mutterland und Garantiemacht des globalen Kapitalismus, Weltmacht mit entscheidendem Einfluss darauf, was in der Staatenwelt als Recht gilt, fällt beides sowieso zusammen: die Herrschaft der Prinzipien und Ideale, mit denen und in deren Namen sie selber ihre Gewalt exekutiert, und die praktisch bewiesene Bereitschaft einer fremden Staatsmacht, sich amerikanischen Vorgaben, Vorhaben und Vorschriften unterzuordnen und anzupassen. Natürlich hat es etwas Verlogenes an sich, wenn Amerikas Anspruch, weltweit nichts anderes anzutreffen als lauter entgegenkommende Erfüllungsgehilfen seiner Interessen, im Gewand einer kritisch vergleichenden Prüfung der woanders praktizierten innenpolitischen Herrschaftsmethoden daherkommt, eben weil es doch tatsächlich um für Amerika nützliche Leistungen der auswärtigen Staatsgewalten geht: Wenn unter dem Titel ‘Demokratie’ und unter Verweis auf „Defizite“, die das Verhältnis zwischen Volk und Führung anderswo im Vergleich mit dem wohlwollenden Selbstbild der US-amerikanischen Herrschaftsform aufweist, eine bessere oder überhaupt eine Legitimation der Regierung durch ihr regiertes Volk eingeklagt wird, dann ist tatsächlich die Abhängigkeit auswärtiger Staatsmächte von Amerikas Urteil über deren Tätigkeit gemeint, dann ist also ein Einspruch gegen national eigenmächtigen Machtgebrauch eingelegt und verlangt, dass man sich gefälligst mehr um Washingtons Anerkennung bemühen sollte. Wenn eine auswärtige Regierung an ihre Pflicht erinnert wird, ihren Untertanen die unternehmerische Eigeninitiative zu erlauben und den Konkurrenzkampf um Eigentum freizugeben, dann gilt Amerikas Fürsorge für ausländischen Unternehmergeist natürlich dem auswärtigen Erfolg der eigenen Unternehmerschaft; und wenn jährlich in Washington ermittelt wird, wie es weltweit um die ‘Herrschaft des Rechts’ bestellt ist, dann stehen die Befunde über Verstöße gewisser Regierungen gegen den Menschenrechtskatalog für das Maß, in dem die US-Regierung mit dem praktizierten Staatsprogramm der jeweiligen Machthaber unzufrieden ist. Die heuchlerische Übersetzung der materiellen Ansprüche, die eine US-Regierung an fremde Herrschaften erhebt und mehr oder weniger schlecht bedient sieht, in ideelle Maßstäbe guten Regierens, vor denen die inkriminierte Mannschaft mehr oder weniger versagt, ist andererseits so passend, dass sie geradezu als sachgerecht zu bezeichnen ist. Denn auf die Art macht die Weltmacht deutlich, dass sie nicht bloß auf nützliche Resultate auswärtiger Herrschaftskunst scharf ist, sondern auf Staaten Wert legt, die mit ihrer ganzen innenpolitischen Verfassung eine Garantie für zuverlässig abrufbare Dienste und Leistungen bieten. Gleichzeitig bietet die kritische Benotung der Herrschaftsmethoden fremder Regierungen die Freiheit, das fällige Urteil punktgenau nach dem Grad der Unzufriedenheit Washingtons mit dem jeweiligen Kandidaten einzurichten: Abweichungen von den in Anschlag gebrachten Idealen guten Regierens werden je nach dem als verzeihliche Versäumnisse, als temporäre Schwierigkeiten, als gravierende Verfehlungen oder systematische Mißstände rubriziert – da können zur falschen Zeit am falschen Ort frei gewählte sozialdemokratische Reformer das Menschenrecht auf produktives Eigentum in derart nicht wiedergutzumachender Weise mit Füßen treten, dass ihr Volk von ihnen befreit werden muß – nötigenfalls durch Militärdiktaturen, die mit ihren blutigsten Manövern alle Mal „zur Demokratie unterwegs“ sind wie seinerzeit in Chile. Vom Fingerzeig an die Regierenden, dass man von ihnen noch ein wenig mehr Entgegenkommen und Effektivität erwartet, über abgestufte Warnungen und Drohungen bis hin zur ultimativen Feindschaftserklärung lässt sich mit demokratisch-menschenrechtlicher Herrschaftskritik das ganze Spektrum imperialistischer Bevormundung und Erpressung durchexerzieren. Bei alledem wahrt die Weltmacht zugleich alle Freiheit, ihre Unzufriedenheit bei Bedarf zu konkretisieren und unter dem generellen Vorwurf des schlechten Regierens bestimmte Dienstleistungen der angeklagten Herrschaft einzufordern.

Der ideologische Nährwert dieser Manier, imperialistisch aufzutreten, ist beträchtlich. Das bezeugen mehr als alle anderen die gar nicht wenigen Kritiker des US-Imperialismus, die ihn selber an seinem Einsatz für eben die Qualitätskriterien guten Regierens messen, die die Weltpolitiker in Washington in Anschlag bringen, und dabei Defizite beklagen: Auf die Art abstrahieren sie gründlich vom Inhalt, vom Grund und Zweck der gegenwärtigen Weltpolitik insgesamt, interpretieren das, was sie davon dann doch ganz praktisch in Form von Krieg, Unterdrückung und manifestem Elend mitkriegen, denkbar verkehrt und idealistisch wohlmeinend als Abweichung vom eigentlichen Auftrag, den eine Weltmacht zu erfüllen hätte; den Chefs der Weltmacht erkennen sie damit zwar vielleicht nicht das uneingeschränkte Recht, dafür aber ideell die überhaupt nicht eingeschränkte Pflicht zu, in der ganzen Welt mit allen nötigen Mitteln nach dem Rechten zu sehen.

Das demokratisch-menschenrechtliche Ethos des US-Imperialismus ist aber auch weltordnungspolitisch von Nutzen. So gut wie keine gegenwärtige Regierung und überhaupt keine nennenswerte Instanz auf der Welt versagt Amerikas demokratisch-marktwirtschaftlich-menschen­rechtlichem Sittenkodex die Anerkennung, obwohl zugleich kein zurechnungsfähiger Staatsmann, geschweige denn eine der von Washington mit Reformforderungen drangsalierten Regierungen, sich über den politischen Gehalt und die Stoßrichtung der geltenden Imperative guter Herrschaft im Unklaren ist. Das ist ein bedeutender Erfolg. Denn tatsächlich schließt der jederzeit abrufbare Respekt vor dem politischen Tugendkatalog, als dessen Anwalt und Schutzmacht die USA auftreten, eine grundsätzliche Ermächtigung des obersten weltpolitischen Sittenwächters zur Einmischung in das auswärtige Betragen ebenso wie in die inneren Verhältnisse aller übrigen Nationen ein. Das Bekenntnis zu den von Amerika verwalteten Idealen sauberer Politik kommt einer Bereitschaftserklärung gleich, Kritik und Korrekturforderungen aus Amerika zu beachten und nach Kräften zu beherzigen. Selbstverständlich liegt das nicht an der Wucht der moralischen Titel und der moralischen Autorität Amerikas. Es verhält sich umgekehrt: Mit ihrer überlegenen militärischen Macht und mit der Potenz ihrer Dollar-Ökonomie haben die USA es geschafft, den Rest der Staatenwelt mit seinen jeweiligen nationalen Kalkulationen und Unternehmungen auf sich zu beziehen und ihn zur Respektierung ihrer globalen Herrschaftsinteressen und Geschäftsbedürfnisse zu nötigen – mit Hilfe ihrer europäischen Verbündeten haben sie schließlich ja sogar die widerspenstige realsozialistische Welthälfte klein gekriegt und zur Selbstaufgabe gebracht, so dass so gut wie keine nennenswerte Staatsmacht mehr ihren Nutzen darin sieht, sich amerikanischen Vorgaben für ihre Standort-Politik und amerikanischer Einmischung in ihre Herrschaftsräson konsequent und wirksam zu widersetzen. Dieses Verhältnis beschönigen alle Nationen gern mit der Beschwörung einer Liste supranational geltender Maximen guten Regierens, denen sie ganz aus freien Ermessen und besserer Einsicht Folge leisten würden, wenn sie aus Washington zurechtgewiesen werden und aus ehrlicher Berechnung nicht umhin können, darauf zu hören. Das allgemeine Bekenntnis der modernen Staatenwelt zu den „Werten“ der Demokratie, zur marktwirtschaftlichen Freiheit und zu den Menschen- und Frauenrechten – und zwar in ihrer amerikanischen Lesart und Auslegung, der keine Sowjetmacht mehr und noch kein Konkurrent wieder eine alternative, die eigenen strategischen und weltwirtschaftlichen Interessen zur Geltung bringende Fassung entgegenzusetzen vermag – beruht auf dieser bis auf Weiteres eindeutig geklärten Hierarchie der imperialistischen Akteure und ist deswegen eben keine Notiz über einen unverbindlichen Idealismus guter Herrschaft, sondern dokumentiert die grundsätzliche Anerkennung dieses Kräfteverhältnisses. Auf der bestehen umgekehrt die US-Regierungen und mit der machen sie Politik, wenn sie keinen Unterschied gelten lassen zwischen der selbstverständlichen und von allen anständigen Staatsgewalten anerkannten Pflicht, gut zu regieren, und der eigenen Befugnis, gar nicht bloß als moralischer Zensor, sondern als Richter über auswärtige Herrschaftstätigkeit zu agieren und aus dieser Position heraus die eigenen strategischen Belange und ökonomischen Interessen durchzusetzen.

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Mit ihren Reform-Initiativen für ‘Middle East’ unternehmen die Amerikaner, im Sinne dieser Generallinie eines demokratisch-marktwirtschaftlich-menschenrechtlich korrigierenden imperialistischen Eingreifens, aktuell durchaus etwas Neues. Sie planen eine umfassende „Modernisierung“ der arabisch-islamischen Nationen. Die Leistungen, die Zielsetzungen und die innenpolitischen Methoden der politischen Herrschaft in den Ländern vom Atlas bis zum Hindukusch sollen auf einen Stand gebracht werden, der Washingtons gehobenen Ansprüchen genügt; aber nicht nur das: Die regierten Völker sollen unter amerikanischer Anleitung in eine Verfassung gebracht werden, die ganz grundsätzlich die Brauchbarkeit der dortigen Verhältnisse für Amerikas Weltordnung garantiert und verbürgt, insbesondere die zuverlässige pro-amerikanische Ausrichtung der Gewaltverhältnisse. In der gesamten Region wollen die Amerikaner nicht bloß auf williges Führungspersonal, sondern auch auf vollständig gutwillige Gemeinwesen treffen. In diesen nationalen Gesellschaften soll die Bereitschaft, amerikanische Sitten zu übernehmen, und jedem amerikanischen Interesse zu entsprechen, kapitalistischer wie strategischer Art, „strukturell verankert“ sein. Der Wille, so zu werden wie Amerika, also wie Amerika es von brauchbaren Freunden erwartet, soll in den materiellen, kulturellen, politischen, überhaupt in allen Lebensverhältnissen der Menschen bestimmend werden. Dieses weit reichende Reformvorhaben beschränkt sich gerade nicht darauf, die zuständigen politischen Instanzen vor Ort für Amerikas Ziele in Anspruch zu nehmen und einzuspannen. Den Regierungen wird im Gegenteil ein je nach Einschätzung der politischen Lage dosiertes Vertrauen bzw. abgestuftes Misstrauen bis hin zur regelrechten Feindschaftserklärung – die in den Extremfällen Afghanistan und Irak in die Tat umgesetzt worden ist – entgegengebracht. Verplant sind die amtierenden Machthaber aktuell als ein – im Zweifelsfall wegwerf- und ersetzbares – Instrument für den Umbau ihrer Nationen, wie die Weltmacht ihn für nötig hält.

Ohne umfassende und die arabisch-islamischen Gesellschaften durchdringende ‘re-education’, ist ihrer Ansicht nach dem Problem nicht beizukommen, mit dem die USA sich in dieser Region konfrontiert sehen. Entgegen amerikanischer Erwartungen hat sich das Problemfeld Naher Osten mit seinen unpassenden arabischen Nationalismen und den einschlägigen Vorbehalten gegen die israelische Vormacht nach Ende des Ost-West-Gegensatzes und nach dem ersten Irak-Krieg nicht in eine proamerikanische „Neue Weltordnung“ aufgelöst. Dort liegt einerseits enorm viel Öl, ein unverzichtbares Quantum des – buchstäblichen – Treibstoffs der kapitalistischen Weltwirtschaft, der unbedingt unter Kontrolle der Macht bleiben muss, die mit größter Selbstverständlichkeit die kapitalistische Weltwirtschaft als ihre Sache betrachtet; der gesamten Weltgegend kommt daher für Amerikas strategischen Zugriff auf den Globus eine besonders hohe Bedeutung zu. Andererseits ist dort ausgerechnet ein militanter Antiamerikanismus zu Hause; Feinde der Weltordnung sind dort in der Lage, amerikanische Interessen anzugreifen, Stützpunkte und Helfershelfer des amerikanischen Regimes über die Region zu gefährden; sie haben sich sogar als fähig erwiesen, in einem einzigartigen Gewaltakt ihren Terror ins amerikanische Mutterland hineinzutragen. Diesen Terrorakt hat die betroffene Regierung in Washington als feindlichen Eröffnungszug in einem neuen und neuartigen globalen Krieg definiert, also zum Anlass genommen, ihrerseits die Staatengemeinschaft mit einer von ihr definierten neuartigen Welt-Kriegslage zu konfrontieren und in Afghanistan und im Irak die dazu gehörigen neuen Fronten zu eröffnen. Zu ihrem Projekt eines globalen anti-terroristischen Feldzugs gehört konsequenterweise auch das Konzept eines neuen Welt-Friedens. Der verlangt nichts Geringeres als eine Sanierung der Welt-Gesellschaft: die unwiderrufliche Ausräumung aller Bedingungen dafür, dass es einen antiamerikanischen Terrorismus, und den auch noch ausgerechnet in einer weltwirtschaftlich so wichtigen Region wie ‘Middle East’, überhaupt geben kann. Das soll die ‘MEPI’ mit ihren vier „Pfeilern“ – Reformen in den Bereichen der politischen Willensbildung, des markwirtschaftlichen Geldverdienens, der Bildung und Erziehung sowie der Frauenemanzipation – und den diversen flankierenden Reform­initiativen der US-Regierung in den verschiedenen Staaten des ‘mittleren Ostens’ leisten.

Diese Initiativen ergänzen den brutalen Realismus einer überlegenen Gewalt, die Abweichungen unterdrückt und Abweichler bestraft, um einen ganzen Katalog praktischer Maßnahmen, die auf die Zerstörung sog. ‘falscher Autoritäten’ zielen, auf die Umorientierung der gesellschaftlichen Eliten aufs Vorbild USA, auf die Stiftung ökonomischer Freiheiten, die in der Ausgestaltung neuer Abhängigkeiten ihren Inhalt haben; moderne Sitten sollen einreißen, darin durchaus eingeschlossen die Übernahme zeitgemäßer westlicher Wunschbilder von einem guten Leben; ein pflegeleichter Parteien-Pluralismus ist im Programm, die Förderung ‘vernünftiger’ Gewerkschaften und ein bürgerliches ‘Frauenbild’. Das kulturimperialistische Unterfangen ist von dem bornierten selbstgewissen Glauben beseelt, man bräuchte den Arabern und benachbarten Muselmännern im Grunde genommen nur richtig zu zeigen, wie man in den Vereinigten Staaten lebt, wie man dort wirtschaftet, konsumiert, wählt, Kredit aufnimmt, betet usw., dann würden sie schon in die Übernahme einer pro-amerikanischen Lebensführung hineinwachsen und genau so regiert werden wollen, wie die Weltmacht es haben will und mit ihrer überlegenen Gewalt sowieso durchsetzt. Das ganze Unternehmen ist von dem Widerspruch geprägt, aus den ‘mittelöstlichen’ Gesellschaften die Leistungen einer perfekten modernen Klassengesellschaft herauskitzeln zu wollen, nämlich die vollständige Unterwerfung der Individuen unter ihre kapital- und staatsdienliche Funktion im Erwerbsleben, der die Demokratie die so ungemein brauchbare bürgerliche Gleichung von Freiheit und berechnender Unterordnung verdankt; dies jedoch ohne alle Voraussetzungen für derartige Leistungen, nämlich ohne flächendeckend funktionierende kapitalistische Ausbeutung und folglich ohne das damit etablierte System gemeinwohldienlicher Sachzwänge, die von einer benutzten Mehrheit als Bedingung ihrer privaten Existenz anerkannt werden könnten. Mit all diesen ihren Albernheiten dringt die amerikanische Reformpolitik praktisch zersetzend in die Lebenssitten und die ihrerseits bornierte fromme Sittlichkeit der ‘mittelöstlichen’ Völkerschaften ein, unterstützt unter dem Titel „Zivilgesellschaft“ Gruppen und Vereine, die in Opposition zu unliebsamen Machthabern und zu einem aus amerikanischer Sicht verdächtigen sozialen Zusammenhalt stehen; sie fördert und betreibt die Privatisierung ökonomischer Aktivitäten – also die Aneignung produktiven Eigentums durch Kapitalisten, die etwas von Dollarvermehrung verstehen; sie schafft sich mit beträchtlichem materiellem Aufwand Sympathisanten oder bemüht sich jedenfalls darum und will aus den ortsansässigen ‘Multiplikatoren’ und Volkserziehern lauter „fünfte Kolonnen“ des US-Imperialismus machen, die das Volk mit proamerikanischen Vorurteilen versorgen und so gegen antiamerikanische Umtriebe immunisieren. Von einem „Marshallplan“ für die arabische Welt kann zwar nicht die Rede sein; es geht aber auch nicht bloß um ein bisschen ideologischen Überbau zum wie bisher weiter laufenden Petroleumgeschäft: Die USA planen und betreiben eine in ihrem Sinn produktive Zerstörung der politischen, ökonomischen und moralischen Macht- und Lebensverhältnisse, deren terroristischen Radikalisierungen und Entgleisungen sie den Krieg erklärt haben.

Dass das geht, ist nicht zu bezweifeln. Fest steht aber auch, dass diesem Unternehmen ein Widerspruch innewohnt, der in dem Maße zum Tragen kommt, wie die Sache vorangeht: Was sie in produktiver Absicht zerstören, sind genau die Verhältnisse, denen die USA nicht bloß ihr Terrorismus-Problem mit ‘Middle East’ verdanken, sondern auch den Nutzen, der ihnen die Region so wertvoll hat werden lassen. – Und was sie aufzubauen gedenken, unterscheidet sich so grundsätzlich nicht von den Zuständen, aus denen ihnen ihr aktuelles Terrorismus-Problem erwächst.

Denn es ist ja nicht so, dass Amerika mit seiner ‘Partnerschafts-Initiative’ auf Verhältnisse losgeht, die völlig unabhängig von der globalen Dollar-Ökonomie und der US-Weltordnungspolitik allein aus arabischer Tradition und islamischer Befangenheit entstanden wären und ganz von selber, vermittels einer unbegreiflichen Entgleisung ins Böse, Hass und ohnmächtig-brutale Gewaltakte gegen Amerikas Macht hervorgebracht hätten. Was die USA in der Region so gründlich reformieren wollen, dass kein Bin Laden und kein Saddam Hussein dort jemals mehr eine Chance haben, ist zum Großteil ihr eigenes Werk: Einerseits das Resultat der Funktionalisierung der Länder durch und für die kapitalistische Weltwirtschaft sowie ihrer Subsumtion unter die strategischen Arrangements der Weltmacht; teils handelt es sich andererseits um die durchaus zeitgemäße Antwort der betroffenen Nationen auf diese ihre „Lage“: um die Ergebnisse des Bemühens von Machthabern, von deren Fußvolk und heimischen Moralaposteln, in der herrschenden Weltordnung und nach Maßgabe der in ihr gültigen strategischen und ökonomischen Geschäftsordnung eigene Rechte zu behaupten. Das gilt zuerst und vor allem für die prinzipiell kooperationswilligen Staatsführungen, die nach neuester amerikanischer Einschätzung in Sachen Kontrolle über ihren Herrschaftsbereich so entscheidend zu wünschen übrig lassen: Ihre moderne Verfassung verdanken sie ebenso wie die Grenzen ihrer Macht dem untergeordneten Stellenwert, auf den „der Westen“ – jahrzehntelang im Ringen mit der Sowjetmacht, die eine Alternative zum US-Imperialismus sein wollte, bis heute unter berechnendem Einsatz des antiarabischen Expansionsdranges Israels – sie festgenagelt hat; und mit ihrer Unzufriedenheit, ihren Stand im Konkurrenzkampf der Nationen betreffend, nehmen sie an genau den Standards Maß, die derselbe „Westen“ zu den allein gültigen Kriterien für Erfolg und Misserfolg in der Staatenwelt gemacht hat. Entsprechendes gilt für die Masse der Regierten, die mit ihren Sitten und ihrer Weltanschauung nach amerikanischer Diagnose den ‘Sumpf’ für terroristische Missetaten abgeben: Mit ihrem arabischen Nationalismus und ihrer Allah-Frömmigkeit machen sie sich ihren Vers, und zwar erst einmal und hauptsächlich einen unterwürfig-affirmativen, auf die desolate materielle und politische Lage, in die ihre Nationen und sie selbst als deren Manövriermasse durch ihre Teilhabe am modernen Weltmarkt und durch ihre Teilnahme an den Konkurrenzkämpfen des modernen Imperialismus hineingeraten sind. Die Moral, die ihnen gepredigt wird und die den Amerikanern so verdächtig vorkommt, reproduziert erst recht längst nicht mehr die religiöse Befangenheit und die Kriegs- und Friedenssitten einer vorkapitalistischen Stammesgesellschaft; viel eher arbeitet sie sich ab an deren fortschreitendem Zerfall, der teils beabsichtigten, teils unplanmäßigen Zerstörung überkommener Autoritätsverhältnisse durch imperialistische Gewalt und eine ‘Modernisierung’, die wirklich nicht erst mit Amerikas jüngsten ‘Initiativen’ angefangen hat. Was die Gefahr eines islamistisch inspirierten Terrorismus und eines ungenehmigten nationalen Großmachtstrebens in ‘Middle East’ betrifft, die die USA nunmehr „an der Wurzel“ bekämpfen wollen, so ist natürlich klar, dass der durchaus autonome Unternehmungsgeist von Figuren wie Saddam Hussein oder Bin Laden und ihrem jeweiligen Anhang dahinter steckt. Ebenso unbestreitbar sind solche Figuren aber, sowohl, was die Wahrnehmung der Lage ihres jeweiligen Gemeinwesens und ihre militante Antwort darauf, als auch, was die dafür zum Einsatz gebrachten Mittel betrifft, weniger die Produkte einer strengen oder verkehrten Koran-Auslegung oder eines despotischen Herrschaftstraums – als vielmehr die gelehrigen Schüler der imperialistischen Gewalt, gegen die sie aufbegehren.

Das Vorhaben Amerikas, die arabisch-islamische Welt von Grund auf demokratisch, markt­wirt­schaft­lich, menschen- und frauenrechtlich umzubauen, gilt somit den Wirkungen der eigenen Politik, die sich schon, und das mit durchschlagendem Erfolg, um nichts anderes gekümmert hat als um den Export demokratischer Weltmacht, kapitalistischer Zugriffsmacht und einer zweckdienlichen Rechtssicherheit in die ‘mittelöstliche’ Ölregion. Die USA gefährden damit auf der einen Seite den Erfolg ihres bisherigen Regimes: den Nutzen, den die zu gründlicher Revision vorgesehenen Gewaltverhältnisse ihnen bislang eingespielt und immerhin einigermaßen garantiert haben; sie reproduzieren und verschärfen auf der anderen Seite die Effekte ihres bisherigen Zugriffs, die mittlerweile so negativ auf ihre Interessen zurückschlagen: nämlich die Feindschaft beleidigter Patrioten und Moralisten, die sie sich eingehandelt haben. Im Irak haben sie bereits mit der gewaltsamen Zurichtung des Landes zum Experimentierfeld für einen pro-amerikanischen Neustart kaputt gemacht, was in dem Land zuletzt überhaupt noch funktioniert hat; sie haben ruiniert, was sie für ihre Weltwirtschaft und für ihre Ordnungsgewalt in der Region von einem siegreichen Feldzug versprochen hatten; stattdessen haben sie sich in dem besetzten Land einen Terrorismus auf dem Weg zum Guerillakrieg eingehandelt. Ihr Plan für eine neue ‘mittel­östliche’ Friedensordnung macht denselben Widerspruch, der im Irak so drastische Formen annimmt, zum zivilen Programm: Was die US-Regierung zum Zwecke einer reformerischen Neukonstruktion der bestehenden Herrschaftsverhältnisse und der sittlichen Verfassung der Völker in die Wege leitet, untergräbt Techniken und Leistungen der politischen Gewalt vor Ort, die Amerika bislang benutzt hat; und es spitzt dort genau die nationale Zwangslage zu, nämlich den Gegensatz zwischen der verlangten Anpassung an Amerika und dem Bemühen um ein erfolgreiches, moralisch mit sich zufriedenes Gemeinwesen, an dem sich bisher schon die einheimischen Eliten und in deren Schlepptau die interessierten und frustrierten Massen in mehr oder weniger willige Opportunisten des imperialistischen Kräfteverhältnisses und in mehr oder weniger fanatische und militante Feinde des US-Regimes über den ‘mittleren Osten’ geschieden haben.

Dieser Widerspruch wird dadurch nicht geringer, dass die USA mit ihrer ‘Partnerschafts-Initiative’ und ihren sonstigen Reformvorstößen bei den meisten arabischen Regierungen – die kriegerischen Exempel in Afghanistan und Irak mögen da auch ihre Wirkung tun – gar nicht auf Ablehnung stoßen, vielmehr lauter Bekenntnisse provozieren, ungefähr genau den demokratisch-markt­wirt­schaft­lich-menschen- und frauenrechtlichen Reformbedarf, den die Weltmacht der Region zumutet, hätte man schon selber entdeckt. Was diverse Staatsführungen sich an Reformen vornehmen, deckt sich selten wirklich mit der Agenda der USA, dient im Gegenteil eher der Abwehr von Eingriffen, die den Machthabern ziemlich subversiv vorkommen müssen.

Unterstützung finden die USA immerhin bei ihren europäischen Verbündeten: Die sind sehr dafür, dass die arabisch-islamische Welt sich „modernisiert“. Einfacher wird das Demokratisierungsprojekt der USA dadurch allerdings nicht. Diesseits des Atlantik versteht man das menschen- und frauenrechtliche Beglückungsvorhaben für die arabischen Nachbarn so, dass diese Länder sich zur pflegeleichten mediterranen Gegenküste des EU-Imperialismus hin entwickeln sollen. Neben all den Komplikationen, die die amerikanische Weltordnungsmacht mit ihrer gewalttätigen wie ihrer zivilen Weltverbesserungspolitik in der Region selber anstiftet, tut sich daher eine dauerhafte Front zwischen Europäern und Amerikanern auf: Die einen ringen um mehr autonome Weltordnungskompetenz, die andern kämpfen um willige Helfershelfer. Das Reformprojekt des Westens und alles, was sein Vollzug vor Ort anrichtet, fungiert als Material für diesen Machtkampf und einen inner-westlichen „Wettstreit“ darum, auf welche Weltordnungsmacht und auf welches Weltwirtschaftszentrum die so unhandliche Region mit ihren bis auf Weiteres so unersetzlichen Ressourcen sich hin-“orientieren“ lässt. Zwei Ergebnisse der transatlantischen Zusammenarbeit in ‘Middle East’ stehen damit fest: Sie ist für die Verschärfung des innerimperialistischen Zerwürfnisses gut, das mit der Entzweiung über den Irak-Krieg der USA so drastisch sichtbar geworden, darauf aber mitnichten beschränkt ist – und dessen Fortschritte werden auf dem Rücken der Nationen ausgetragen wird, deren Regierungen womöglich meinen, daran gäbe es für sie etwas auszunutzen.