GEGENARGUMENTE

Die Pensionssenkungsreform: Ein Kampf der Regierung

Eine Pensionsreform wegen der "demographischen Schere"

Der österreichischen Regierung werden ihre geschätzten MitbürgerInnen einfach zu alt. Nicht alle natürlich: Mit der Langlebigkeit der Minderheit, die nicht von ihrer eigenen Arbeit lebt, sondern von der Arbeit, die sie andere verrichten läßt, hat die Obrigkeit kein Problem. Fürs Rendite-Kassieren und Kupon-Schneiden von sogenannten "Share-Holdern" gibt es keine Reform und keine Übergangsfristen. Anders sieht es bei der Mehrheit aus, die als "Unselbständige" im Dienst der Vermehrung fremden Eigentums unterwegs ist. Die macht Probleme, weil sie die Altersgrenze, mit der ihr Pensionisten-Dasein beginnt und die der Sozialstaat in einem Anfall von Großzügigkeit einmal gesetzt hat, in großer Zahl überleben, durchschnittlich um mehr als ein Jahrzehnt. Immer mehr Leute, die für nichts als ihre Arbeit bezahlt werden und jedenfalls nicht fürs Nichtstun, müssen sich außerdem schon vor dem gesetzlichen Pensionsalter aus Gründen des körperlichen Verschleißes aus dem Arbeitsleben abmelden, leben dann trotzdem weiter, und verzehren jahre-, wenn nicht jahrzehntelang eine Pension. Für so viel Zählebigkeit übers nützliche Arbeitsleben hinaus ist die Pensionskasse weder vorgesehen noch eingerichtet: Das wird denen, die darauf angewiesen sind, nachdrücklich vorgerechnet. Ausgediente, Verbrauchte, Alte sind eine Last, und die will Österreich sich nicht mehr leisten wie bisher.

Nicht nur Österreich, übrigens. Überall in Europa, wo vorbildlich und erfolgreich gemarktwirtschaftelt wird, wo also eine Mehrheit der Bevölkerung für Lohnarbeit benutzt wird, stehen die Verwalter des Gemeinwohls vor dem selben interessanten Dilemma: Einerseits sind die Leistungsanforderungen so groß, dass ein durchschnittlicher Sechzigjähriger ihnen nicht mehr genügt und folglich auch keinem Arbeitgeber mehr als "Mitarbeiter" zugemutet werden kann; andererseits stehen mittlerweile so viele medizinische Hilfsmittel zur Verfügung, die erfunden wurden, um die Leute für ihr Arbeitsleben in Schuß zu halten, dass sie anschließend, wie verschlissen und körperlich bedient auch immer, trotzdem eine ganze Zeit lang einfach weiterleben. So gehen zwischen dem Ende der durchschnittlichen Arbeitszeit und dem durchschnittlichen Ableben immer mehr kapitalistisch, also volkswirtschaftlich gesehen völlig sinnlose Jahre ins Land, und die Sozialpolitiker haben die Last mit einem "vergreisenden" Volk, weil dem wachsenden Pensionisten-Heer eine abnehmende Anzahl von Nachwuchskräften gegenübersteht. Die derzeit aktiven Generationen müssen sich von der Regierung nachdrücklich sagen lassen, dass ihr Zeugungs- und Gebärverhalten unter aller Kritik ist; sie haben pensions-arithmetisch völlig versagt. Eine "demographische Schere" tut sich auf.

Als ob das denn ein Problem wäre! Als könnte nicht schon längst ein einziger "Berufstätiger", der nützliche Güter schafft, ein ganzes Heer von Leuten versorgen. Als wäre die Arbeit, die heute in Österreich geleistet wird, nicht längst produktiv genug, um pro Arbeitskraft ein ganzes Pensionistenheim zu versorgen – wenn es nur darauf ankäme. Die Bevölkerungs-Zahlen der Regierung lügen nicht. Sie unterschlagen nur die Hauptsache: nämlich die ökonomischen Gründe, aus denen ausgediente Lohnarbeiter tatsächlich eine Last und die Zahlenverhältnisse zwischen den Generationen wirklich ein Problem sind. Das Entscheidende wird stillschweigend vorausgesetzt und soll vom Publikum ungeschaut hingenommen werden – nämlich die harte Tatsache, dass als Quelle für Pensionszahlungen überhaupt nichts anderes in Frage kommt als das Geld, das gleichzeitig als Lohn für aktiv geleistete Arbeit gezahlt wird. Und das wird bekanntlich nur gezahlt, wenn und damit es sich für den Anwender der Arbeitskraft rentiert – die Notwendigkeit, daraus auch den Lebensunterhalt der Alten zu bestreiten, wird bei seiner Bemessung definitiv nicht berücksichtigt. Die den Lohn zahlenden Arbeitgeber achten dabei nicht bloß auf geringstmögliche Löhne; sie bemühen sich außerdem um eine gesteigerte Ausbeute aus der bezahlten Arbeit, sie lassen sich das sogar eine Menge Investitionen kosten, sparen darüber immer wieder Arbeitskräfte und damit Löhne ein, und sorgen so dafür, dass noch nicht einmal alle vom sexuell aktiven Teil der österreichischen Bevölkerung bereits bereitgestellten Nachwuchskräfte einen Arbeitsplatz finden, die daher als "Jugendarbeitslosigkeit" in den einschlägigen Statistiken vorkommen. Und die in zwanzig Jahren Arbeitenden haben erst recht keine Aussicht auf einen Lohn, von dem sie einen Pensionisten mit-ernähren könnten. Die gediegene Ausstattung eines gemütlichen Lebensabends wäre überhaupt kein Problem, wenn, ja wenn es nicht marktwirtschaftlich zuginge – und in der Marktwirtschaft ist eben nicht die Masse an herstellbaren Gütern, sondern der magere Preis für rentable Arbeit das Maß aller Dinge beim Lebensunterhalt, für aktive wie für ausgediente Proletarier.

Unterstellt ist in der regierungsamtlichen Rechnung die kapitalistische Errungenschaft, für Arbeit den denkbar knappsten Preis zu zahlen und den Arbeitskräften die Kunst aufzunötigen, mit dem Verdienten über die Runden zu kommen. Unterstellt ist zudem die geniale Konstruktion des abendländischen Sozialsystems, die Einteilung des gesellschaftlichen Gesamt-Lohns durch gesetzliche Abzüge gleich von Staats wegen so zu organisieren, dass ein Lebensunterhalt für die ausgedienten Alten auch noch mit abfällt. Unterstellt und anerkannt ist auch die marktwirtschaftlich notwendige Konsequenz, dass ausgerechnet mit den Fortschritten des Kapitals, nämlich mit der Steigerung der durchschnittlichen Produktivität und Rentabilität der Arbeit – für die benötigten Arbeitskräfte der Mangel größer wird. Aus diesem absurden Zustand ziehen die regierenden Sozialreformer ihre Konsequenz: Die Zahl der Existenzen, die nach Beendigung ihres Arbeitslebens trotzdem noch von der nationalen Lohnsumme leben müssen, ist zu groß, ihr Lebensabend dauert zu lang; ihre Ansprüche gehören ergo beschränkt.

In diesem Sinne wird reformiert: Es geht um die Entlastung der Staatskasse von den Zuschüssen zur Pension; es geht um die Entlastung der Wirtschaft von einem Brocken des Lohn-Teils, der in die Sozialversicherung fließt: Das "Pensionssicherungsgesetz" verlängert den "Durchrechnungszeitraum" für die Pensionsberechnung und senkt damit den wichtigsten Faktor für die Berechnung der Pensionshöhe radikal. Gnädigerweise "deckelt" die Regierung vorläufig die beschlossenen Kürzungen: Bis zum Jahr 2010 sollen die Verluste nicht mehr als 10% betragen; danach "läßt" das Gesetz "Pensionsverluste bis zu durchschnittlich 20% zu" (Format 22/03).

Bis dahin soll das Volk nämlich begriffen haben, dass es um mehr geht als "bloß" um weniger Geld im Alter: Die Regierung strebt eine Umstellung des Sozialsystems an. Sie propagiert die Notwendigkeit einer privaten Altersvorsorge und gesteht damit nicht etwa ein Debakel ein, indem das, was sie an "Pensionssicherung" für ehemalige Lohnabhängige zusammenreformiert, zum Leben nicht mehr reichen wird. Im Gegenteil: Laut und offensiv verkündet sie, dass die gesetzliche Pension, die das reiche Österreich seinen Alten zugesteht, dafür auch gar nicht mehr reichen soll. Mit dem Hinweis, dass jeder rechtzeitig schauen muß, wie er der Altersarmut entkommt, indem er vom Netto-Lohn während seiner aktiven Zeit das Nötige zusammenspart, spricht der Sozialstaat sich selber von der Verpflichtung frei, den nationalen Gesamtlohn so umzuverteilen, dass für die Verbrauchten ihr gewohnter Anteil abfällt; zugleich entbindet er "die Wirtschaft" vom sozialpolitischen Anspruch auf einen Lohn("Nebenkosten")anteil, mit dem Lohnabhängige in Zeiten des Lebensabends über Wasser gehalten werden. So kommt dann in 20 Jahren noch immer auf einen Berufstätigen ein Pensionist, und daran, dass beide sich letztlich dieselbe elende Lohn-Summe zu teilen haben, hat sich nur geändert, dass diese Summe kleiner geworden ist – und der Sozialstaat hat seine Verantwortung dafür rechtzeitig an die Betroffenen abgetreten.

Die Demontage einer unzeitgemäßen "Sozialpartnerschaft"

Indem die Regierung die gesetzlich definierten und bisher berechtigten Interessen ihrer lohnabhängigen Volksteile reformiert, startet sie folgerichtig gleichzeitig einen politischen Angriff auf die überkommenen Rechte und Positionen der Organisation, die bislang als Vertreter dieser Interessen und als Repräsentant von deren Einsicht ins kapitalistisch Notwendige anerkannt war. Sie geht gegen die Überreste eines Korporations- und Sozialpartnerschaftswesens vor, das mittlerweile längst als Behinderung der "deregulierten" Konkurrenz innerhalb der Nation und damit als Konkurrenznachteil im internationalen Geschäft gilt, beschneidet daher schon länger manche Kompetenz der Arbeiter- und der Wirtschaftskammern bei der "Selbstverwaltung" der Sozialversicherung. Dabei zielt sie vor allem auf den ÖGB: Nicht dass die Gewerkschaft je durch wirkungsvolle Einsprüche gegen die Herrichtung von Land und Leuten nach den Bedürfnissen von Kapitalanlegern aufgefallen wären – in der internationalen Konkurrenz punktet Österreich mit um 10% höherer Produktivität als in Deutschland bei 10 % niedrigeren Löhnen (Die Presse 30.8.) und sozialem Frieden. Auch die aktuelle Neuorganisation der Altersarmut hat der ÖGB grundsätzlich anerkannt und dabei sein konstruktives Mitwirken angeboten. Mittlerweile hält es die schwarz-blaue Regierung aber für eine untragbare Behinderung ihrer Entscheidungshoheit, sich mit einer Organisation ins Einvernehmen zu setzen, die ein nachrangiges, ein derzeit noch weiter herabgestuftes und delegitimiertes Interesse zumindest verbal vertritt, nämlich das der Lohnabhängigen an einem lebenslangen Lebensunterhalt. Wie brav auch immer sich der ÖGB anstellt, er verlangt Berücksichtigung aufgrund der Macht, die er wegen seiner Massenbasis hat und die er konstruktiv für das kapitalistische Gemeinwesen ausüben will, und schon damit stört er. Genauer: Die Schüssel-Mannschaft stört sich am Anspruch der Gewerkschaft auf Gehör. Sie fordert bedingungslose Zustimmung, verbucht Zögern und Änderungswünsche als Beweis für eine "weitverbreitete Bremsermentalität", sie rechnet den ÖGB insgesamt zu den "verkrusteten Entscheidungsstrukturen", die der "Modernisierung" Österreichs im Wege stehen, und entzieht dem Verein das frühere Mitspracherecht: "Unterbrechen, besprechen – und dann trotzdem wie geplant beschließen. So sieht die Strategie der VP-Regierungsmannschaft zur Pensionsreform aus." (Die Presse 21.5.)

Die Regierung kündigt damit wieder einmal die bisherige "ungeschriebene Verfassung" des "partnerschaftlichen Interessensausgleichs"; und das würdigen überraschenderweise keineswegs alle, die in der Republik etwas zu sagen haben. Anhänger des überkommenen "sozialen Friedens" bis hinauf zum Bundespräsidenten plädieren für die Fortsetzung des "österreichischen Wegs", nämlich dafür, zwecks friktionsfreier Durchsetzung der fälligen "sozialen Einschnitte" die Gewerkschaft "einzubinden". Das alles beeindruckt den Wahlsieger Schüssel wenig. Denn auf einen Machtbeweis kommt es ihm gerade an: Die einzig legitime Gewalt im Staat tut, was sie für nötig hält, und weist allen gesellschaftlichen Interessen und Kräften den Stellenwert zu, der ihnen in einem "neu regierten" Österreich gebührt.

Ein neues letztes Rückzugsgefecht des "schlafenden Riesen"

Die Gewerkschaftsführung ist in erster Linie beleidigt. Sie verwahrt sich dagegen, dass man sie als "Bremser" verdächtigt und ausbootet, wo sie doch allemal verantwortungsvoll, also zum Schaden ihrer Mitglieder an Reformen mitgewirkt hat. Stellvertretend der als besonders radikal verrufene GPA-Chef Sallmutter:

"Wir haben in der Vergangenheit noch jede nötige Anpassung des Pensionssystems mitgetragen."

Den Angriff auf seine sozialpolitische Zuständigkeit läßt sich der ÖGB nicht widerspruchslos gefallen. Die Vereinsleitung erinnert sich daran, dass sie nicht nur von der Gnade ihrer Partner in Politik und Wirtschaft lebt, von einem Zugeständnis der Mächtigen also, das diese gerade aufkündigen, sondern auch von ihrer Massenbasis. Die sollte zu einiger Empörung anzustacheln sein, und wenigstens für das Recht des Gewerkschaftsvorstands auf die Straße gehen, über die Verarmung seiner Mitglieder mitzuentscheiden. Die Führung ist optimistisch; nicht so sehr, weil sie auf den Kampfesmut der Mitglieder und deren Bereitschaft setzt, für die angegriffene Ehre des ÖGB zu kämpfen, sondern weil die Nation gar nicht geschlossen hinter der Regierung steht: Die Parlaments-Opposition ist berufsbedingt sowieso dagegen, dass Schüssel und Haupt Reformen veranstalten, für die ein Gusenbauer und van der Bellen sich auch berufen fühlen; beim der FPÖ bahnt sich wieder ein innerparteiliches Zerwürfnis an; das "mit tiefer Sorge" des Staatsoberhaupts wird als Ermunterung verbucht. Ihre Basis bedient die Gewerkschaftsführung mit zwei "Argumenten":

Sie skandalisiert den Beschluß der Regierung, gleichzeitig Kampfflugzeuge zu kaufen. Das eine hat mit dem andern sachlich zwar nichts zu tun, es behauptet auch niemand ernsthaft, das neue Fluggerät würde von eingesparten Pensionen bezahlt oder es würde ein Cent mehr an irgendeinen Pensionisten ausgezahlt, wenn die Luftwaffe weiter mit altem Gerät fliegt. Aber weil im Kapitalismus alles Geld kostet, Waffen ebenso wie alte Leute, und weil im Staatshaushalt das eine wie das andere drinnen steht, deswegen kann man, wenn man so will, die beiden Sachen gegeneinander stellen. Noch wirksamer womöglich ist der den Neid und die Mißgunst schürende Fingerzeig auf andere Figuren im Lande, die ihren Lebensunterhalt über den Staatshaushalt beziehen. Dem ÖGB fallen sofort Leute ein, die wie seine eigene Klientel vom Staat nach einer für sie selber wenig ertragreichen Lebensarbeit mit einer Altersarmut belohnt werden, so dass jeder ASVG-Kandidat seinesgleichen vor Augen hat und sich ganz leicht tut mit der Vorstellung, die Sozialfälle der anderen Kategorie würden genau das einsacken, was einem selber zusteht:

"Empört zeigt sich Franz Bittner, Vorsitzender der Gewerkschaft Druck, Journalismus, Papier (DJP), über die Haltung des Präsidenten der Landwirtschaftskammer ... Dieser begrüße es, dass die Pensions-Harmonisierung von der Bundesregierung erst später durchgeführt wird, da eine sofortige Harmonisierung ‚weit härtere Folgen für die Bauernfamilien hätte, als die Arbeitnehmer-Vertreter für ihre Mitglieder zu akzeptieren bereit sind.‘ ‚Damit wird bestätigt, dass die Pensionsreform nur deswegen im Eilzugstempo durchgepeitscht wird, um genug Geld für die Bauernpensionen zu haben‘, meint Bittner. Es liegt der Verdacht nahe, dass Schüssel mit der Umverteilung der Gelder zu Lasten der ASVG-Versicherten seine VP-Wählerklientel bei der Stange halten will." (ÖGB-Homepage 28.5.)

Der Sozialstaat trifft unweigerlich ins Schwarze, wenn er die "tote Last" seiner kapitalistischen Produktionsverhältnisse so sortiert, dass er immer die eine Abteilung als Problem für das Überleben der anderen darstellt: Prompt machen die Betroffenen sich wechselseitig für jede Entbehrung haftbar, die der Sozialgesetzgeber ihnen zudiktiert. Und wenn sie es nicht selber tun, dann hilft ihnen die Gewerkschaft und zettelt unter dem Stichwort "Harmonisierung" eine Gerechtigkeitsdebatte darüber an, ob denn bei den weiteren Reformen auch wirklich allen Berufsgruppen dieselbe Verschlechterung oder zumindest eine sichtbare "Opfersolidarität" abverlangt wird.

So macht die ÖGB-Führung Stimmung, und die von ihr verarschten Opfer der Pensionsreform tun ihr den Gefallen und sammeln sich zum Protest. Es kommt zum "größten Streik in der Geschichte der 2. Republik", insofern eine leichte Übung, als mit der kurzen und häßlichen Unterbrechung des Jahres 1950 – damals wurde ein Generalstreik von der Bau- und Holzarbeitergewerkschaft niedergeknüppelt –, die Nation ihre Standortqualität damit feiert, dass sich die Streikdauer pro Beschäftigtem und Jahr in Sekunden messen läßt. Auch jetzt ist es nicht so, dass der ÖGB die Kündigung der traditionellen Politik des "sozialen Ausgleichs" durch die Obrigkeit mit einem Bruch des sozialen Friedens beantworten und dem Klassenkampf von oben einen von unten entgegensetzen würde. Er beschämt vielmehr die Regierung, indem er mitten im Aufbegehren seiner bekannten Verantwortung treu bleibt. Er inszeniert den Super-Streiktag nach dem Motto: Viel öffentlicher Wind und möglichst wenig wirtschaftlicher Schaden. Bei den österreichischen Bundesbahnen wird ausschließlich der Personenverkehr bestreikt und stolz darauf verwiesen, dass die ÖBB durch den Streik keine Kunden verloren hätten. Der Nahverkehr fällt ebenfalls aus, daher radelt die Nation zur Arbeit, die mitten im Super-Streik stattfindet, als wäre nichts. Die Müllabfuhr wird angehalten, den Dreck später abzuholen. Der öffentliche Dienst reduziert seine Dienstleistungen ein wenig, und in den Betrieben werden Betriebsversammlungen abgehalten, die von Gesetzes wegen ohnehin öfter stattfinden. Der ÖGB-Säckelwart freut sich, dass das Ganze fast nichts kostet und die wertvolle Streikkasse verschont bleibt – wofür eigentlich? Der "radikale" Sallmutter hat schon vorweg erfrischend offen das hochgesteckte Ziel der Aktion definiert:

"Auch wenn wir die vollständige Rücknahme des Entwurfs nicht erreichen sollten, werden die Menschen respektieren, dass wir es zumindest versucht haben."

Ein paar Tage nach dem "Generalstreik" beschließt der Nationalrat unbehelligt die Reform, wobei die nicht wenigen Gewerkschaftsvertreter nach Parteizugehörigkeit abstimmen. ÖGB-Chef und Parlamentarier Verzetnitsch reklamiert nach seiner kampflosen Resignation beste staatsbürgerliche Haltungsnoten. In Abwägung zwischen dem hohen Gut einer funktionsfähigen demokratischen Herrschaft und dem Kampf gegen eine "drohende Verelendung unserer Alten" entscheidet sich der Arbeitervertreter instinktsicher:

"Als überzeugter Demokrat muss ich die Entscheidung des Parlaments akzeptieren, auch wenn ich sie nicht teile."

Elend und Niedergang der Sozialnörgelei von rechts

Die Front, die die schwarz-blaue Regierung gegen den ÖGB eröffnet hat, ist damit bereinigt – schneller als die koalitions-interne Front. In seinem freiheitlichen Koalitionspartner hat es Schüssel nämlich nur einerseits mit ausgesprochen pflegeleichten Helfershelfern zu tun. Daneben gibt es in Kärnten noch immer den Ex-Parteichef, der an dem herumnörgelt, was die Regierung den Sozialversicherten verordnet. Haider repräsentiert eben nicht bloß die Borniertheit des Nationalismus, sondern auch dessen soziale Ader, und man merkt wieder einmal, wie absurd die längst aus der Mode gekommenen Vergleiche mit Hitler sind: In den verflossenen Hoch-Zeiten des nationalen "Sozialismus" war das faschistische soziale Engagement die Antwort der Rechten auf die "soziale Frage" der Linken und deren Systemkritik. Faschisten wollten Klassenkämpfer und andere Volksfeinde viel radikaler ausmerzen als bürgerliche Rechte – und haben da auch Gigantisches geleistet in Europa –; und sie wollten sich gleichzeitig der verarmten Volksteile annehmen; nicht bloß mit nationaler Erziehung, sondern auch materiell, um die vor lauter Elend desorientierten, eigentlich anständigen Leute physisch wie gesinnungsmäßig "dem Vaterland wiederzugewinnen", und dadurch umgekehrt dem Vaterland seine menschliche Manövriermasse sichern: brauchbar, verfügbar und zu allem bereit. Was seinerzeit Teil der nationalistischen Großoffensive gegen Sozialismus, Kommunismus und Klassenkampf war, das hat heute, im vollständig klassenkampf-freien EU-Österreich, fast schon den umgekehrten Stellenwert einer längst obsoleten sozialen Fürsorge: Haiders Plädoyer für sorgsamen Umgang mit dem heimischen Volk, dem eingeborenen Machtinstrument des Staates, klagt – in rechter Fassung, aber auch das stört die Regierung – noch immer einen Respekt der Obrigkeit vor den sozialen Nöten ihrer Basis ein. Mit Sozialkritik ist das freilich noch immer nicht zu verwechseln. Das stellt der FPÖ-Grande klar, wenn er seine Parteinahme für die Benachteiligten darauf zuspitzt, zur Pflege des nationalen Gemeinschaftsgeistes müßte die Regierung, gerade wenn sie eine neue Armut verordnet, den Eindruck vermitteln, dass sie das in unverbrüchlicher Solidarität mit ihren geschröpften Untertanen tut:

"Haider vermißt weiters ein ‚Konzept der Sozialpartner, wie die Privilegien in den 28 Sozialversicherungsanstalten mit ihren über 300 Direktoren und Generaldirektoren abgebaut werden sollen‘." (Standard 31.5.) "Ohne Harmonisierung und Beseitigung der Politikerprivilegien kann ich mir nicht vorstellen, dass unsere Fraktion im Nationalrat die Zustimmung erteilen wird. Das sind zwei Schlüsselpunkte, damit die Pensionsreform als gerecht empfunden wird." (H. Strache, Wiener FPÖ-Funktionär, Format 22/03)

Haiders Entschädigung der "kleinen Leute" ist rein ideeller Art: Mit der billigen Übung, auf eine eigene zusätzliche Bereicherung zu verzichten, sollen die Veranstalter der Reform-Orgie beweisen, dass sie anständige Kerle sind, die dem einfachen Volk nicht mehr zumuten, als sie selber zu tragen bereit sind; dann folgt ihnen die Mannschaft auch durch dick und dünn. So funktioniert das soziale Gewissen der Rechten; um etwas anderes als die moralische Beglaubigung der Führung ist ihnen auch dann nicht zu tun, wenn sie über Sozialpolitik raunzen. Und das ist mittlerweile eine der letzten Regungen des "sozialen Gedankens". An dessen rechter Herkunft und Machart finden die anderen Traditionalisten der überkommenen "Solidarität" überhaupt nichts bedenklich, sondern sie versuchen Haider bestenfalls der "Unglaubwürdigkeit" und des "Umfallertums" zu überführen: Er wird gerne eingemeindet in den Protest, und brillante SP-Polit-Taktiker spekulieren gleich auf eine Spaltung der Koalition.

Das können die regierenden Reformer natürlich nicht gebrauchen. Sie sehen sich mit noch einem "Bremser" konfrontiert, der dem Titel der Rücksichtnahme auf die "kleinen Leute" immer noch ein politisches Gewicht verschaffen will. Und weil sie genau diesen Standpunkt endgültig nicht mehr gelten lassen wollen, weder als Maxime guten Regierens noch als anerkannte Position im politischen Machtkampf, weichen sie dem Konflikt mit Haiders sozialem Patriotismus nicht aus. Der Kanzler konfrontiert die übriggebliebenen Freiheitlichen wieder mit der Alternative, nach seinen Maßgaben mitzuregieren oder sich zu verweigern und damit als regierungsunwillig und -unfähig dazustehen – im demokratischen politischen Leben eine Todsünde. Haider begnügt sich auf seinem Rückzug damit, ein Vorziehen der Steuerreform zu fordern und kokettiert mit der Möglichkeit eines Zweckbündnisses mit der Gusenbauer-SP – um dann der Koalitionsdisziplin nachzugeben: So blamiert er selber seinen abweichenden Standpunkt, und seinen Machtanspruch gleich dazu.