GEGENARGUMENTE

Teil 1: Arbeiter brauchen eine Gewerkschaft – warum und wozu?

Die Ausgangslage von jeder und den Beweggrund für jede gewerkschaftliche Tätigkeit hat der Präsident des ÖGB in einer Rede auf dem ÖGB-Kongreß seinen Mitgliedern und Funktionären wie folgt in Erinnerung gerufen:

„Wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter kämpfen jeden Tag für menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Wir kämpfen für einen gerechten Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am erwirtschafteten Gewinn. Wir setzen uns für soziale Gerechtigkeit und sozialen Frieden ein.“ (Verzetnitsch, Rede auf dem ÖGB-Bundeskongress am 15.10.2003)

Es gibt also viel zu tun. So etwas banales und elementares wie „menschenwürdige Arbeitsbedingungen“ sind nämlich auch nach rund 150-jähriger Geschichte der Arbeiterbewegung und nach einer langen Tradition der Gewerkschaftsbewegung keine Selbstverständlichkeit, es gibt sie nicht einfach durch das bisherige Wirken der genannten Initiativen, sondern dafür muß – laut Verzetnitsch jeden Tag – neu gekämpft werden. Weil nämlich Industrie, Handel und Gewerbe, vulgo „die Wirtschaft“, offenbar ebenso täglich und auf’s neue für Zustände in der „Arbeitswelt“ sorgen, die Verzetnisch für nicht menschenwürdig hält.

Analog verhält es sich mit dem „Anteil am erwirtschafteten Gewinn“ – gemeint ist mit dieser Umschreibung natürlich der Lohn. Der Präsident des ÖGB erweist sich hier zwar als nicht ganz sattelfest in Sachen Ökonomie: Die „Arbeitnehmer“ werden nämlich nicht aus dem Gewinn bezahlt, sondern dafür, daß sie diesen Gewinn in Unternehmerhand produzieren, fremden Reichtum also, von dem sie nichts haben. Aber was der Herr Präsident meint, ist auch ohne ökonomische Grundkenntnisse sonnenklar: Ohne den Gewinn, der dem Unternehmen gehört, gibt es natürlich auch keinen Lohn, weil eben der Gewinn der Zweck der Beschäftigung von „Arbeitnehmern“ ist. Beim Lohn geht es laut Verzetnitsch zu wie bei den Arbeitsbedingungen: Der Lohn ist auch nach der fast 60-jährigen Tätigkeit des modernen ÖGB nicht einfach eine sichere und gesicherte Größe, der ist so prekär, daß er gewissermaßen jeden Tag neu erstritten werden muß. Das liegt übrigens daran, daß das maßgebliche Kriterium des Lohns auf Seiten dessen liegt, der ihn zahlt: Der Lohn muß das Unternehmen reicher machen, die Frage, ob und wie der Lohn als Lebensunterhalt taugt, geht das Unternehmen überhaupt nichts an, das fällt ganz in die Spar- und Einschränkungskünste der Beschäftigten – bzw. die müssen sich eben zusammenschließen, um als betroffene Partei überhaupt einmal Lohnforderungen anmelden zu können. Und dieser mißliche Zustand ist noch nicht einmal der größte Irrsinn in diesem Zusammenhang – der kommt noch: Indem der Präsident des ÖGB den Gewinn ausdrücklich als den Zweck der Produktion anerkennt, indem er anerkennt, daß Arbeit rentabel sein muß, rentabel für das Unternehmen, anerkennt er ganz prinzipiell den Grund für die von ihm bekrittelten menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. Die tagtägliche Erwirtschaftung von Gewinn hat nämlich einen sehr schlichten Leitfaden: es geht im Unternehmen darum, für möglichst wenig Geld möglichst viel Leistung aus den Leuten herauszuholen, und dementsprechend – „menschenunwürdig“, wir erinnern uns – sieht es mit den „Arbeitsbedingungen“ aus. Leistungsdruck, Arbeitshetze, die Arbeitszeit mal kurz, mal lang, jedenfalls möglichst intensiv genutzt – alles das, womit sich Gewerkschafter täglich herumschlagen, hat seinen Grund in der Pflicht der Arbeitskräfte, rentabel zu sein. Gewerkschafter haben das zumindest früher einmal auch gewußt. Der ÖGB bringt es jedenfalls fertig, die Ursache der proletarischen Nöte ausdrücklich zu bejahen, die Produktion von Gewinn explizit zu affirmieren, um dann gewisse Folgewirkungen der Produktion von Gewinn bekämpfen zu wollen. Insofern braucht man sich auch nicht zu wundern, daß die Gewerkschaftsbewegung von ihrer Ausgangslage nicht entscheidend weggekommen ist, und noch immer damit befaßt ist, das Arbeitsleben einigermaßen aushaltbar machen zu wollen: Wer die Ursache akzeptiert, und bloß gewisse Wirkungen bekämpfen will, hat sich eben auf eine im Prinzip unendliche Geschichte eingelassen.

Alles in allem also ein irgendwie absurder und geradezu unhaltbarer Zustand. Präsident Verzetnitsch ist es gelungen, den klassischen Grund für die Notwendigkeit des Kommunismus zu referieren, und niemand hat es gemerkt. Wenn es wirklich so ist, daß es heutzutage nicht genügt, einer Tätigkeit nachzugehen und dadurch ein anständiges Auskommen zu haben, sondern wenn sich die „Arbeitnehmer“ zusätzlich zum Arbeiten und neben dem regulären Beruf als Kollektiv zusammentun müssen, wenn sie sich einen „Zweitberuf“ zulegen müssen, den des „gewerkschaftlichen Kämpfers“, um den Erstberuf überhaupt auszuhalten, sowohl was die Arbeitsbedingungen betrifft als auch den Lohn, dann schreit so ein Zustand geradezu nach seiner Abschaffung, damit mit den Gründen für diese Misere – die kapitalistische Eigentums­ordnung – auch die Notwendigkeit des täglichen Kämpfens entfällt.

(Ebenso steht’s übrigens mit der sozialen Gerechtigkeit und dem sozialen Frieden: Auch das eine Daueraufgabe für eine Gewerkschaft, weil die andere Seite, das ist der vom ÖGB so geschätzte „Sozialpartner“, das Bedürfnis nach „Gerechtigkeit“ – was die Gewerkschaft darunter versteht, ist noch zu klären – mißachtet und ständig den sozialen Frieden im Betrieb bricht.)

So selbstverständlich, wie Verzetnisch unterstellt, ist es doch keineswegs, dass man den Bedarf nach anständigen Arbeitsbedingungen und einem Lohn, von dem man irgendwie über die Runden kommt, nicht anders beantwortet als mit dem Beitritt zu einem Verein, der auch nach einer langen und nach eigener Einschätzung stolzen Geschichte noch nicht entscheidend weiter gekommen ist als bis zu der „jeden Tag“ schon wieder erneuerten Not, sich kollektiv an miesen Arbeitsbedingungen und wenig Lohn abzuarbeiten. Im Gegenteil: Wenn es in dieser Gesellschaft schon nicht langt, einen Beruf zu ergreifen und arbeiten zu gehen; wenn man sich als normaler Arbeitnehmer noch neben der Arbeit als solcher auch die Mühe machen, Zeit und Geld opfern und sich einer Art Kampfverband anschließen muss, um den Arbeitgebern Arbeitsbedingungen und -löhne abzutrotzen, mit und von denen es sich leben lässt; dann spricht nicht viel für die gewerkschaftliche „Lösung“, sich auf Dauer mit dieser „Doppelbelastung“ abzufinden und mit einer immer wieder äußerst verbesserungsbedürftigen sozialen Lage herumzuschlagen. Dann spricht sogar einiges gegen die Entscheidung, die Mühsal der Lohnarbeit durch die Sisyphus-artigen Mühseligkeiten eines dauernden Zusatz-Engagements für erträgliche Lohnarbeitsbedingungen zu vergrößern, und sehr viel für den organisierten Versuch, diese Notwendigkeit selber endlich einmal aus der Welt zu schaffen. Damit legt man sich zwar mit den eingerichteten Verhältnissen an, mit den zu „Verhältnissen“ verfestigten herrschenden ökonomischen Interessen nämlich und der politischen Macht, die deren Herrschaft garantiert. Doch mit denen muss sich einer, der seine soziale Lage überhaupt verbessern will, ohnehin herumstreiten.

Und wenn man es nicht darauf anlegt, sie zu beseitigen, dann tut man als Gewerkschaft diesen „Verhältnissen“ mit aller Streiterei und allem Kampfeinsatz womöglich bloß einen etwas makaberen Gefallen, nämlich den, nicht mehr und nicht weniger als die elementare Funktionstüchtigkeit der Arbeiterklasse zu erhalten und damit das Funktionieren des ganzen Ladens zu sichern. Gegen den Widerstand der Nutznießer des ökonomischen Systems sorgt dessen lohnabhängige Manövriermasse auf diese Art dann bloß dafür, sich für ihren Dienst am Nutzen anderer in Schuß und einsatzbereit zu halten. So zynisch ist das kapitalistisch wirtschaftende Gemeinwesen nämlich konstruiert: Sogar die Instandhaltung und Instandsetzung der Arbeitskraft mußte bzw. muß jeden Tag neu von deren Trägern gegen die Nutznießer der Arbeitskraft erkämpft werden – und so fragwürdig ist deshalb jedes Bemühen der Betroffenen um eine Verbesserung ihrer sozialen Lage, das von einer Abschaffung dieser „Lage“ Abstand nimmt. Wenn es also so ist, wie Präsident Verzetnitsch behauptet, mit den Arbeitsbedingungen und Löhnen, dann war das Gewerkschaftswesen zwar vielleicht einmal vor 100 Jahren ein aus der Not geborenes Provisorium, es ist aber garantiert keine Lösung. Genau andersherum meint es aber der ÖGB-Chef: Die proletarischen Notlagen, die er referiert, sind kein Argument für ihre Abschaffung, sondern die beweisen die Bedeutung und die Wichtigkeit einer gewerkschaftlichen Organisation, die sich zwar ständig auf diese proletarischen Nöte beruft, diese Nöte aber gar nicht aus der Welt schafft, sondern begleitet.

Noch einmal anders: Kämpfen zu müssen, das ist doch eine trostlose, in der Regel auch gefährliche Tätigkeit. Wenn einem so etwas aufgezwungen wird, dann kann es doch nicht vernünftig sein, sich damit als einer Dauerbeschäftigung einzurichten. Wenn schon, dann gehört der Kampf für ein anderes Ziel geführt, so daß mit dem allfälligen Sieg auch die Notwendigkeit des Kämpfens wegfällt.

Teil 2: Der tägliche Kampf des ÖGB – was tut sich da eigentlich?

Kollege Präsident Verzetnitsch hat am ÖGB-Kongreß einige Funktionäre persönlich gewürdigt, als Helden der gewerkschaftlichen Arbeit sozusagen, stellvertretend für die vielen ÖGB-Mitarbeiter. Dieser Würdigung kann man auch entnehmen, wie der alltägliche Kampf von Seiten des ÖGB geführt wird. In der einen Abteilung der gewerkschaftlichen Tätigkeit ist vordergründig weniger kämpferisches Engagement gefragt, indem da vor allem Rechtspflege betrieben wird. Der Gewerkschaftsfunktionär ist als Rechtsanwalt des Proletariats tätig, und sogar das erfordert dann doch kämpferisches Engagement:

„Kollege Hirschbichler hat in seiner Funktion als Sekretär der Gewerkschaft HTV die Praktiken eines Salzburger Frächters aufgezeigt, der Fahrer als stille Gesellschafter beschäftigte und damit das Risiko auf die so genannten ‘schein-selbstständigen’ Fahrer abwälzte. Als er dies tat, als er öffentlich anklagte, dass da Vorgänge im Gange sind, die nichts mit fairen Arbeitsbedingungen zu tun haben, gab es als Reaktion des Frächters Millionenklagen, persönliche Millionenklagen gegen Kollegen Hirschbichler.“ (Verzetnitsch, Rede auf dem ÖGB-Bundeskongress am 14.10.2003)

„Kollege Gerhard Stöhringer. Er ist seit 1999 Betriebsratsvorsitzender der oberösterreichischen AVE Entsorgungs GmbH und ebenfalls mit Dingen konfrontiert, die wir immer wieder erleben. Die Geschäftsführung wollte den Kollektivvertrag umgehen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf niedrigstem Niveau bezahlen. Obwohl auch er mit persönlicher Kündigung und Klagen bedroht wurde, bekämpfte er diese Absichten und er war erfolgreich. Er erreichte für die Beschäftigten Löhne auf dem Niveau des Metallgewerbes.“ (Verzetnitsch, ebd.)

Unglaublich, nicht?! Zustände wie im Kapitalismus! Das, was sonst gern als Gütesiegel der modernen Gesellschaft gehandelt wird, daß es da nämlich „Normen und Regeln“ gibt, die „unser Zusammenleben“ bestimmen, das gilt in der „Arbeitswelt“ offenbar nur sehr bedingt. Zumindest braucht es, und darin besteht der überwiegende Teil der Gewerkschaftsarbeit, die ständige Nachfrage nach und die Überprüfung dessen, was üblicherweise als selbstverständlich gilt: Daß sich nicht nur der Proletarier, sondern auch und sogar der Unternehmer an die Gesetze hält. Zu den Dingen, die „wir (als Gewerkschafter) immer wieder erleben“ (Verzetnitsch), gehört das tägliche, gewohnheitsmäßige und ohne jedes Unrechtsbewußtsein vollbrachte Drehen an und Umgehen der Rechtslage; die Gewerkschaft sieht sich genötigt, als Quasi-Behörde für nichts weiter als für den Rechtszustand einzutreten, gegen die täglichen Übergriffe des „Sozialpartners“. Das allerdings ohne den Status wirklicher beamteter Rechtspfleger, weswegen – laut ÖGB-Präsident – Drohungen und Schikanen an der Tagesordnung sind. Man braucht bei diesen Zuständen tatsächlich ein gewisses Durchhaltevermögen, für nicht mehr als das rein defensive Begehren, es möge alles halt seine Ordnung haben, gemäß den jeweiligen Paragraphen und Kollektivverträgen.

Was diese Ordnung dem Proletarier denn nun geldmäßig und von den Arbeitsbedingungen her einbringt, darüber schweigt sich der Präsident vornehm aus, bzw. ist das gar nicht sein Thema. Die „Menschenwürde“ und die „soziale Gerechtigkeit“ sind per definitionem dann gewährleistet, sobald alles mit rechten Dingen zugeht. Die proletarische Lebensqualität einerseits und Einhaltung des Arbeitsrechts andererseits sind ohnehin zwei verschiedene Paar Stiefel. Löhne und Arbeitszeiten für Lkw-Fahrer sind über die Maßen lausig, allein schon die kollektivvertraglichen, ganz ohne die ständige Nötigung von Seiten der Firmen, die Arbeitszeitbestimmungen zu umgehen, und ohne deren Versuche, das in ganz Europa plus Ostgebiete divergierende Arbeits-, Sozial- und Unternehmensrecht geschickt zu kombinieren. Daß der Kollektivvertrag eine ordentliche Lebensqualität des Lkw-Fahrers garantiert, behauptet kein ehrlicher Gewerkschafter – aber das Kriterium des ÖGB ist eben ein anderes: Die Frage ist, ob die Unternehmen die gültigen, also die mit den Gewerkschaften ausgehandelten Bestimmungen einhalten, also damit auch den ÖGB, seine Kompetenzen und seine Zuständigkeit respektieren. Insofern der ÖGB ohnehin den Gewinn als entscheidendes Kriterium und maßgeblichen Erfolg des unternehmerischen Handelns respektiert, und unter diesem Gesichtspunkt „mit Augenmaß“ und „verantwortungsbewußt“ agiert, insofern meint er auch ein Recht auf die Pflichterfüllung der Gegenseite zu haben – man verlangt ja nichts Unmögliches. Die elementare Bestimmung des Lohns – die damit gekaufte Arbeitskraft muß das Unternehmen reicher machen – ist ja längst berücksichtigt, und deswegen, also weil der Nutzen des Unternehmens ohnehin gesichert ist, möge dieses doch korrekt vorgehen.

Die andere Seite dieses rechtspflegerischen Engagements, dieser Tätigkeit des Gewerkschaftsfunktionärs als Rechtsanwalt des Proletariats, mündet regelmäßig im Bekenntnis der Ohnmacht; der beste Rechtsanwalt ist machtlos, wenn die Rechtslage nicht danach ist:

„Kollegin Gerda Bacher vertritt 1 900 Angestellte und 500 Arbeiter, unter diesen viele Teilzeitkräfte, viele Alleinerzieherinnen, vielleicht auch der eine oder andere Alleinerzieher. Sie ist mit der Aufgabe betraut, auf Änderungskündigungen eingehen zu müssen, und dies in der problematischen Situation, dass Frauen älter werden und Alleinerzieherinnen sind. Meistens steht sie vor der Alternative, die Bedingungen der Geschäftsführung akzeptieren zu müssen oder gar keinen Job den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Aussicht stellen zu können. Ihr Engagement für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bringt Kollegin Bacher immer wieder Klagsdrohungen ein, trotzdem kämpft sie unermüdlich weiter.“ (Verzetnitsch, Rede auf dem ÖGB-Bundeskongress am 14.10.2003)

Es geht um sogenannte Änderungskündigungen: Leute werden gekündigt und anschließend zu schlechteren Bedingungen wieder beschäftigt. Wenn sie darauf nicht einsteigen, dann sind sie auch den schlechteren Job los, bevor sie ihn haben. Das ist legal; und für eine moderne Gewerkschaft wie den ÖGB heißt das: Da kann man nichts machen. „Bedingungen der Geschäftsführung akzeptieren oder gar kein Job für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“ Ebenso wenig ist gegen Teilzeitjobs zu machen, also jene modernen Arbeitsplätze, bei denen sich auch hochoffiziell der Lohn, den so eine Teilzeitkraft bekommt, von dem trennt, weswegen Leute normalerweise arbeiten: vom Lebensunterhalt. So verschlanken und verbilligen die Firmen ihre Belegschaften, und die tägliche hundertfache Erfahrung, daß das Arbeiterinteresse an einem ordentlichen Lohn, an anständiger Arbeitszeit und -bedingungen einfach nicht zählt in der modernen Marktwirtschaft, daß das Interesse der anderen Seite das einzig gültige und maßgebliche ist – und das alles nach Jahrzehnten gewerkschaftlicher Interessenvertretung! –, diese Erfahrung läßt den ÖGB schon wieder nicht zum Gegner solcher Verhältnisse werden, sondern erweitert den Umfang der Aufgaben einer modernen Gewerkschaft. Kollege Verzetnitsch referiert in seiner Bilanz die nächste Abteilung gewerkschaftlicher Tätigkeit:

„Kollege Günter Palmetzhofer. Er arbeitet bei Herold-Druck, und dort wird auch die Tageszeitung ‘Die Presse’ gedruckt. Wie so oft in dieser Branche sollen viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abgebaut und ein Sozialplan ausgearbeitet werden. Das ist die neue Ansage: Slim line oder Schlank machen, denn es sind ja anscheinend nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Kostenfaktor in einem Unternehmen. Kollege Palmetzhofer nahm das aber nicht einfach als gegeben hin. Durch seine Kreativität und sein Engagement konnte der Personalabbau nicht nur verhindert, sondern es konnten sogar neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich glaube, das ist eine Erfolgsstory, die Applaus verdient.“ (Verzetnitsch, Rede auf dem ÖGB-Bundeskongress am 14.10.2003)

(Keine Sorge: Es sind keineswegs „nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Kostenfaktor in einem Unternehmen“. Das Unternehmen betrachtet alle seine Ausgaben als diese „Faktoren“, die es zu senken gilt. Das harte für die „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ ist schon diese Betrachtung und Behandlung als Kostenfaktor selbst, und nicht die „Ungerechtigkeit“, die der Präsident ortet, indem er fälschlicherweise unterstellt, dies beträfe nur die von ihm Vertretenen!)

Wie geht eine echt gewerkschaftliche Erfolgsstory? Nun, der engagierte Kollege nimmt die ihm nur zu vertraute Tatsache, daß in der Marktwirtschaft nur das Unternehmerinteresse etwas zählt und alle Bedürfnisse der „Kollegen“ – für sich genommen – null und nichtig sind, folgerichtig so auf, daß er sich gleich auf den Standpunkt des Unternehmens stellt, sich also als Gewerkschafter den Kopf der Betriebsleitung zerbricht, mit „Kreativität und Engagement“ neue Einsatzmöglichkeiten für rentable Arbeitskräfte ausheckt, und dadurch etwas für den Betriebsgewinn erreicht, im Interesse der Kollegen. Zur Erinnerung: Ausgangspunkt gewerkschaftlicher Tätigkeit war die Notwendigkeit, organisiert und im Kollektiv etwas gegen die Unternehmerfreiheit und für „menschenwürdige Arbeitsbedingungen“ zu unternehmen, und um einen Lohn zu streiten, in dem der Gerichtspunkt der Lebenshaltungskosten irgendwie vorkommt, weil das den Lohnzahler schlicht nicht interessiert und betrifft. Der durchaus konsequente Endpunkt gewerkschaftlicher Interessenvertretung besteht darin, sich auf den Standpunkt des Verursachers der proletarischen Sorgen und Nöte zu stellen, in der Sicherheit, daß auch das allerbescheidenste Arbeitnehmerinteresse, das, überhaupt arbeiten zu dürfen, nur zum Zug kommt, wenn es sich dem Unternehmerinteresse dienend unterordnet – aber auf keinen Fall, indem es sich dagegen aufstellt und Ansprüche anmeldet.

Und was auf betrieblicher Ebene gilt, das beherrscht der ÖGB auch auf der Ebene der Kollektivverträge. Der ÖGB-Präsident bezieht sich in seiner Rede auf die Forderung von Seiten der „Wirtschaft“ nach Abschaffung der überbetrieblichen Kollektivverträge, um die „Lohnfindung“ ganz dem jeweiligen Betrieb zu überlassen. Das hält Verzetnitsch – zurecht – für das Herzstück gewerkschaftlicher Betätigung: „Das lassen wir uns auch nicht nehmen.“ Und gegen diese Forderung wehrt er sich, mit einem sehr vielsagenden Argument. Er wirbt mit den Vorteilen, die Kollektivverträge nach Machart des ÖGB bringen, den Vorteilen für die Unternehmen allerdings, weil das nun einmal das in der Marktwirtschaft herrschende Interesse ist. Die Unternehmen erhalten durch die Kollektivverträge sichere, „einschätzbare“ Kalkulationsgrundlagen. Die können mit einer festen Lohnsumme rechnen, und ihre damit gekaufte Freiheit nutzen, die betrieblichen Arbeitsbedingungen und die Arbeitszeit ständig nach ihren Bedürfnissen umgestalten, also darüber jene Zustände zu perpetuieren, die dem Präsidenten als die „menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen“ und damit als Dauerauftrag für den ÖGB aufgefallen sind. Kollektivverträge sind nützlich, und zwar für die „Wirtschaft“, das hält der Präsident für sein unschlagbares Argument, auch wenn undankbare Teile der „Wirtschaft“ inzwischen alle „Rahmenbedingungen“, die sie nicht selber setzen, für eine unzumutbare Schranke ihres Erfolges halten:

„Es mag schon sein, dass der eine oder andere denkt, Kollektivverträge sollte man doch in Wirklichkeit abschaffen. Viel besser wäre, wenn man das auf der Betriebsebene abhandeln sollte. ... Schauen wir uns doch Wirtschaftslektüren an. Sie alle sprechen von einschätzbaren Rahmenbedingungen ... Und ich will es nicht zur Kenntnis nehmen, dass Finanz- und Rechtsnormen die Basis für das Wirtschaften sind, aber bei den Kollektivverträgen sagt man, möglichst zerklüftet, möglichst zerteilt auf der Betriebsebene. Die Kollektivverträge sind für uns ein unabdingbarer Auftrag für die Zukunft. Das lassen wir uns auch nicht nehmen. Wenn es einer Bestätigung für die Richtigkeit dieses Weges bedurft hat, dann hat es erst vor wenigen Tagen eine Zeitungsmeldung gegeben, dass Herr Trenkwalder, einer der größten Zeitarbeitsunternehmer in Österreich und darüber hinaus international tätig, öffentlich bekannt hat, wie wichtig dieser Kollektivvertrag war, weil er zu ordentlichen Rahmenbedingungen geführt hat und sogar einen höheren Ertrag für die Unternehmer gebracht hat.“ (Verzetnitsch, Rede auf dem ÖGB-Bundeskongress am 14.10.2003)

Die Zeitarbeit war bis neulich in Gewerkschaftskreisen eine etwas anrüchige Sache. Keine „richtigen“ Arbeitsplätze, sondern Arbeit auf Abruf, also die Kombination aus ständiger Verfügbarkeit während mangelnder Nachfrage und blitzartiger, flexibler und zeitlich unlimitierter Dienstleistung „just in time“ je nach Arbeitsanfall. Der Gewerkschafter sieht das Problem anders: Darin nämlich, daß dieser Zustand einfach so eingerissen ist, einzig und allein nach Maßgabe und im Interesse jener Firmen, die sich auf diese Vermietung der modernen Taglöhner spezialisiert haben. Das konnte also einfach nicht so bleiben, auch dieses Taglöhnertum gehört einer mit der Gewerkschaft ausgehandelten Rechtsnorm unterworfen, und die Auskunft des Herrn Trenkwalder, die ein Gewerkschaftsboß zitiert, ohne schamrot zu werden, die spricht Bände: Diese Zustände – „menschenunwürdig“ hat der ÖGB sie vor dem Vertragsabschluß sicher genannt – diese Zustände sind nicht beseitigt, sondern durch die Mitwirkung des ÖGB legalisiert worden: Der Kollektivvertrag nimmt einfach Maß an einem erfolgreichen Zeitarbeitsunternehmen, verallgemeinert dessen Handhabung der Taglöhner zu „Rahmenbedingungen“ für die ganze Branche, und das haben Konkurrenten des Herrn Trenkwalder nicht ausgehalten. Sein Unternehmen wird durch den Kollektivvertrag jedenfalls reicher – den Kollegen Zeitarbeitern bleibt immerhin die durch den Kollektivvertrag vom ÖGB beglaubigte Menschenwürde!