GEGENARGUMENTE

Der Fall des Abg. Hohmann und das deutsche „Unwort“ des Jahres – „Tätervolk“ –, oder:

Von der politisch korrekten und der unkorrekten Entsorgung der deutschen Vergangenheit

„Erstmals in der Bundestagsgeschichte“ wurde ein Mitglied der CDU-Fraktion, der Abgeordnete Hohmann, ausgeschlossen. Mit seiner Bezeichnung der Juden als „Tätervolk“ in einer Rede am Tag der Deutschen Einheit habe er sich „außerhalb des Verfassungsbogens gestellt“ (CSU-Chef Stoiber). Er vertrete „ein Gedankenbild und inhaltliches Konstrukt, das mit der Demokratie in Deutschland nicht vereinbar ist.“ (CDU-Chefin Merkel)

Der Betroffene versteht seither die Welt bzw. seine Partei nicht mehr. Er erklärt, „böswillig falsch interpretiert“ worden zu sein. Den freiwilligen Austritt aus der Fraktion verweigert er. Seine Empörung ist aufrichtig: Welcher andere Tag als ein Nationalfeiertag könnte geeigneter sein, um endlich eine von den „Schatten der Vergangenheit“ befreite nationale Selbstbeweihräucherung einzufordern? Was hat er falsch gemacht? Zur Abwechslung soll hier einmal der Stein des Anstoßes zur Kenntnis genommen und analysiert werden:

Die Rede des Abgeordneten Hohmann im Original:

Unsere Erbsünde lähmt das Land ... Schwere Sorgen macht eine allgegenwärtige Mutzerstörung im nationalen Selbstbewusstsein, die durch Hitlers Nachwirkungen ausgelöst wurde. Das durch ihn veranlasste Verbrechen der industrialisierten Vernichtung ... besonders der europäischen Juden lastet auf der deutschen Geschichte ... Die Schuld von Vorfahren an diesem Menschheitsverbrechen hat fast zu einer neuen Selbstdefinition der Deutschen geführt ... Jede andere Nation neigt eher dazu, die dunklen Seiten ihrer Geschichte in ein günstigeres Licht zu rücken. Vor beschämenden Ereignissen werden Sichtschutzblenden aufgestellt. Bei den anderen wird umgedeutet. ... Solche gnädige ... Umdeutung wird den Deutschen nicht gestattet. Das verhindert die zur Zeit in Deutschland dominierende politische Klasse und Wissenschaft mit allen Kräften. Sie tun „fast neurotisch auf der deutschen Schuld beharren“, wie Joachim Gauck es am 1.10.03 ausgedrückt hat ... Die Deutschen als Tätervolk. Das ist ein Bild von großer, international wirksamer Prägekraft geworden. Der Rest der Welt hat sich hingegen in der Rolle der Unschuldslämmer ... bestens eingerichtet ... Auf diesem Hintergrund stelle ich die provozierende Frage: Gibt es auch beim jüdischen Volk, das wir ausschließlich in der Opferrolle wahrnehmen, eine dunkle Seite in der neueren Geschichte oder waren Juden ausschließlich die Opfer ... ?“ Es folgen viele einschlägige Zahlen, um den Anteil von Juden an Untaten der Bolschewiki zu belegen. „Juden waren in großer Anzahl sowohl in der Führungsebene als auch bei den Tscheka-Erschießungskommandos aktiv. Daher könnte man Juden mit einiger Berechtigung als „Tätervolk“ bezeichnen. Das mag erschreckend klingen. Es würde aber der gleichen Logik folgen, mit der man Deutsche als Tätervolk bezeichnet ... wir müssen genauer hinschauen. Die Juden, die sich dem Bolschewismus und der Revolution verschrieben hatten, hatten zuvor ihre religiösen Bindungen gekappt. Sie waren nach Herkunft und Erziehung Juden, von ihrer Weltanschauung her aber meist glühende Hasser jeglicher Religion. Ähnliches galt für die Nationalsozialisten ... Verbindendes Element des Bolschewismus und des Nationalsozialismus war also die religionsfeindliche Ausrichtung und die Gottlosigkeit. Daher sind weder „die Deutschen“, noch „die Juden“ ein Tätervolk. Mit vollem Recht aber kann man sagen: Die Gottlosen mit ihren gottlosen Ideologien, sie waren das Tätervolk des letzten, blutigen Jahrhunderts ... Daher ... plädiere ich entschieden für eine Rückbesinnung auf unsere religiösen Wurzeln und Bindungen. Nur sie werden ähnliche Katastrophen verhindern, wie sie uns Gottlose bereitet haben ... Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir den Gottesbezug in die europäische Verfassung aufnehmen ... Mit Gott in eine gute Zukunft für Europa! Mit Gott in eine gute Zukunft besonders für unser deutsches Vaterland.“ (zitiert nach: www.konkret-verlage.de)

Um die Bedeutung zu unterstreichen, stellt der Redner sein Thema in den Zusammenhang der Debatte um die „Lähmung“ des Standorts Deutschland – einer Debatte, die den Bewohnern dieses Standorts bekanntlich nur mehr das eine Interesse zubilligt, sich für den Aufschwung Deutschlands ins Zeug zu legen – und er bereichert den diesbezüglichen Meinungsaustausch um eine nationalmoralische Diagnose: Ausgerechnet heute, 60 Jahre „danach“, wo mehr als die Hälfte der Heranwachsenden laut Meinungsumfragen nicht mehr weiß, was „Holocaust“ bzw. „Auschwitz“ bedeuten, da leiden die Deutschen mehr denn je unter dem langen Vorstrafenregister ihrer „Vorfahren“ bzw. unter „Hitlers Nachwirkungen“. Hohmann ist Patriot: Er geht selbstverständlich davon aus, dass die Nation alle, die ihr angehören, nicht bloß materiell, sondern auch moralisch vereinnahmt und zu einer „Schicksals- und Verantwortungsgemeinschaft“ zusammenschweißt. Jedem, der zufälligerweise deutsche Vorfahren hat und den die deutsche Staatsgewalt, ohne ihn gefragt zu haben, als ihren Bürger mit allen Rechten und Pflichten in Anspruch nimmt, jedem Bürger also erlegt die Mitgliedschaft in der Nation eine Art ideeller Haftung auf für alles, was Deutsche vor ihm „verbrochen“ haben, gleichgültig, ob als Führer oder als dessen mehr oder weniger „willige Vollstrecker“, gleichgültig dagegen, ob man an den Untaten tatsächlich beteiligt war oder sie wenigstens billigt oder nicht. Als ein Stück Volk ist jeder von der „Schuld von Vorfahren“ betroffen und hat sich ihr zu stellen, so dass sich die Frage „Wieso bin ich für Hitler mitverantwortlich?“ verbietet. Was im normalen zwischenmenschlichen Umgang als durchaus wahnhaft gelten würde, nämlich sich für die Taten und Untaten wildfremder Menschen in irgendeiner Weise zuständig zu erklären und moralisch zur Verantwortung ziehen zu lassen, das versteht sich von selbst, das ist sogar geboten, wenn und weil es um den nationalen Zusammenhang geht.

Davon geht Hohmann wie von einer Selbstverständlichkeit aus und stimmt insofern voll dem nationalen Konsens zu. Womit er nicht einverstanden ist, das ist die als „politisch korrekt“ durchgesetzte Einordnung der NS-Vergangenheit. Nicht dass „wir Deutsche uns unserer Vergangenheit zu stellen“ haben, ist Hohmanns Ärgernis, sondern wie das geschieht. Da entdeckt er eine von den regierenden Nestbeschmutzern zumindest mit verursachte „Neurose“: Die Deutschen verweigern sich selbst eine „gnädige Umdeutung“ der „dunklen Seiten“ ihrer Geschichte. Wo andere Nationen, die auch Dreck am Stecken haben, skrupellos Schönfärberei betreiben und sich wie die „Unschuldslämmer“ aufführen – es schon interessant, was ein Nationalist in dem Bedürfnis, seine Nation zu exkulpieren, über die zum Alltag von Nationen anscheinend notwendig dazugehörenden „Schattenseiten“ ausplaudert: da werden massenhaft Menschenleben vernichtet, das Übelste wird verschwiegen, die Wahrheit verdreht, jede Sauerei schöngefärbt ... –, angesichts dessen also gestatten es sich ausgerechnet die Deutschen nicht, vor ihrer „industrialisierten Vernichtung der europäischen Juden“ ein paar wohltätige „Sichtschutzblenden“ aufzustellen. Das will der Patriot Hohmann nicht hinnehmen, und dafür hat er eine sorgfältig konstruierte „Blende“ anzubieten.

Wenn dem Volk Hohmanns der Judenmord nicht vergeben wird, bloß weil der böse Hitler seinerzeit ganz zufällig über eine ansonsten herzensgute Mannschaft regiert und ein epochales „Verbrechen veranlaßt“ hat – ja dann wüßte er, Hohmann, auch noch andere zweifelhafte Völker. Und er scheut sich nicht, „provozierend“ in medias res zu gehen: dann könnten ihm glatt einige Juden einfallen, die so prominent am „bolschewistischen Terror“ im revolutionären Rußland mitgewirkt haben, dass man das Verdikt „Tätervolk“ gleich postwendend an das jüdische Volk zurückgeben könnte. Was er als gewissenhafter deutscher Volksvertreter, als Proponent eines guten deutschen Volksgewissens, selbstverständlich nicht tut, und in seiner Rede auch nicht im Sinn hatte. Er hat nur die Schuldzuweisung ans deutsche Volk verallgemeinernd weitergedacht und will damit im Gegenteil auf eine befreiende Schlußfolgerung hinaus: So wenig das jüdische Volk als ganzes für die bolschewistischen Missetaten einiger seiner Angehörigen haftbar gemacht werden darf und soll, genau so wenig müssen sich dann aber auch die Deutschen den Vorwurf gefallen lassen, ihre Vorfahren hätten in ihrer Eigenschaft als deutsches Volk dem Führer als Manövriermasse fürs Juden-Vernichten zur Verfügung gestanden. Na ja: Da haben die Nazis die besten Volksdeutschen in den Krieg geschickt und für die organisierte Juden-Vernichtung herangezogen, haben sich dafür aufs deutsche Volk und dessen völkische Reinheit berufen und bei besagtem Volk viel Anklang gefunden – das ist nicht sehr deckungsgleich mit den bolschewistischen Kadern, die sich bei ihrem Einsatz für die Revolution weder aufs Judentum gestützt, dem ein Teil von ihnen entstammte, noch auf eine Pflicht gegenüber einem jüdischen Staat berufen haben. Aber so genau will Hohmann auch wieder nicht vergleichen. – Jedenfalls brauchen die Deutschen sich noch lange nicht den Massenmord an Europas Juden in ihre völkischen Schuhe schieben zu lassen. Genauso wenig jedenfalls, wie es Hohmann in den Sinn käme, der in alle Welt zerstreuten jüdischen Gemeinde als solcher den revolutionären Terror bolschewistischer Kader aus jüdischem Elternhaus übel zu nehmen.

Umgekehrt, meint Hohmann: Gerade an den jüdisch-bolschewistischen Bösewichten wird doch deutlich, dass sie mit ihrem Einsatz für die Sowjetmacht überhaupt nicht als Juden, vielmehr als Nicht-Juden, geradezu als Verräter am auserwählten Volk, nämlich als Gottlose, zur Tat geschritten sind. Daraus geht für ihn hervor, dass dann auch die deutschen Nazi-Schergen – obgleich die ihr Deutschtum nun wahrlich nie verraten haben – nicht als Deutsche gehandelt haben, als sie im Auftrag des Führers aller Deutschen Deutschland von den Undeutschen gesäubert haben. Sondern auch als Gottlose! So „ähnlich“ wie Trotzki & Co vom Judentum, so hätten Hitler & Co sich von der Kirche losgesagt und in dieser Eigenschaft, nicht etwa als deutsche Staats-Rassisten, ihr Volk zur Ächtung und ihre SS zur Tötung aller erreichbaren Juden antreten lassen. Was für Hohmann bei Trotzki & Co plausibel klingt – und mit jüdischem Glaubenskram hatte deren revolutionärer Kampf wirklich nichts zu tun –, das müßte deswegen doch auch auf Hitlers Untertanen im Sinn einer brauchbaren „Sichtschutzblende“ anwendbar sein: Als Deutsche, so die erlösende Botschaft, sind die Deutschen immer sauber geblieben. Der Judenmord verdankt sich der fehlenden Gottesfurcht des Führers. Um mit dieser unseligen Vergangenheit fertig zu werden, fehlt dem deutschen Volk dementsprechend höchstens eines: mehr Gott. Eine neue Synthese von Deutschtum und Gläubigkeit muss her – also die Regierungsmacht für die CDU, die das Christentum schon im Parteinamen führt. In Ewigkeit Amen.

Die Rezeption

Hohmanns Partei, die CDU, reagiert undankbar, sogar ausgesprochen ungnädig auf diese Wahlempfehlung. Kaum reißt eine skandal-geile Öffentlichkeit seinen so gut gemeinten „provozierenden“ Irrealis von den Juden als Tätervolk aus seinem frommen Zusammenhang, schon knickt die CDU ein, und die Vorsitzende setzt sich an die Spitze der Empörung.

Ob Frau Merkel der Gedankengang zu schwierig war und sie einfach nicht kapiert hat, dass ihr Parteifreund Deutsche und Juden von dem Vorwurf „Tätervolk“ freisprechen wollte, oder ob sie es für unmöglich befunden hat, dem deutschen Volk den komplizierten Freispruch plausibel zu machen, sei dahingestellt. (Klar ist jedenfalls, dass die Jury, die den Ausdruck „Tätervolk“ zum „Unwort des Jahres 2003“ wählte, nicht begriffen hat, dass Hohmann den Terminus verwerfen wollte, weil an allem Bösen die Gottlosen schuld sind.) Vielleicht ist Frau Merkel sogar ein bißchen darüber erschrocken, welch großen Anklang, und das nicht nur in ihrer Partei, Hohmanns gut gemeinte Verwendung des alten Nazi-Klischees von der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ und dieses Klischee selber gefunden hat: „Aber den jüdischen Kommissar im Ledermantel, den hat es doch gegeben.“ (SZ, 6.11.03). Auf alle Fälle hat sie gleich den Kern der Sache herausgegriffen: die Irritation, die Hohmanns Beweisführung für „die Versöhnung der Deutschen mit sich selbst“ bedeutet. Seine Art, die „dunklen Seiten“ der deutschen Geschichte „in ein günstigeres Licht zu rücken“ – der Vergleich mit Missetaten, welche die Geschichte anderer Völker verunzieren, sogar die des „auserwählten Volkes“ –, ist nämlich ein Rückfall hinter den erreichten Stand deutscher Selbstversöhnung. Derartiges Aufrechnen zeugt nach wie vor von schlechtem Gewissen und kommt sogar als Eingeständnis daher, dass Vernichtungsaktionen irgendwie allemal zur Lebensgeschichte einer Nation gehören. Bloß haben sich Deutschlands demokratische Antifaschisten längst auf eine effizientere Form geeinigt, ihre Nation reinzuwaschen: Sie bescheinigen dem deutschen Vernichtungsfeldzug gegen die Juden absolute Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit – „Singularität“ lautet der Fachausdruck. Sie bestreiten jeden politischen Zweck der damaligen Aktion, der irgendeine Ähnlichkeit mit anerkannten und noch aktuellen Zielsetzungen einer aufstrebenden imperialistischen Großmacht wie der deutschen haben könnte – und schlagen mit dieser „Sichtschutzblende“ zwei Fliegen auf einmal.

Zum einen handelt es sich bei der Judenvernichtung, in dieser Sichtweise, nicht mehr um eine düstere Phase, sondern um ein erratisches Schwarzes Loch in der deutschen Geschichte. So radikal ist es ausgegrenzt aus dem Bereich des Politischen, dass nichts Politisches, was Deutschland je treibt, durch eine Erinnerung an nationalsozialistische Vorbilder verunglimpft werden kann und darf. Wer in kritischer Absicht Analogien und Parallelen zwischen einst und heute bemerkt – von rationellen Vergleichen zwischen Demokratie und Faschismus ganz zu schweigen –, der „versündigt sich an den Opfern des Holocaust“, nämlich an deren Recht auf Einmaligkeit, das Deutschland ihnen zuerkennt. Umgekehrt geht alles in Ordnung, was deutsche Politiker heute machen; schon gleich, wenn sie sich dafür auf die „Lehren der Geschichte“ und ihre Absage an Hitler & Co berufen: ein erstklassiger Freibrief für jede Politik, erhältlich durch die billige Übung, den Abscheu vor dem „Holocaust“ wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Diese Variante gehört deswegen zum Grundbestand der deutschen politischen Kultur – und indem die deutsche Nation, würdig vertreten durch ihre regierenden Antifaschisten, nichts beschönigt und sich in der Abscheu gegen Hitlers Verbrechen von niemandem übertreffen lässt, übernimmt sie gleich selber die Regie über alle peinlichen Erinnerungen. Sie bringt sich in die Position des Richters in eigener Sache und bescheinigt sich im Wege des „Erinnern“ die gelungene Resozialisierung. So funktioniert „die Versöhnung der Deutschen mit sich selbst“. Und dabei können Rückfälle in die Entschuldigung durch Deutung auf andere Untaten, mit der die westdeutsche Nachkriegsrepublik sich in den 50er Jahren beholfen hat, nur stören. Die alte Masche bringt nie den wirklichen „Schlußstrich“, den sie fordert. Der ist stattdessen mit einer Gedenk-Kultur zu haben, in der sich die deutsche Nation mit ihrem Verdikt über „Holocaust“ und Hitlerei nicht mehr als Angeklagter aufführt, sondern als unbestechliches, strengstes und folglich kompetentestes Tribunal – und so in Sachen „deutsche Geschichte“ das letzte Wort behält. Statt sich, vor wem auch immer, zu rechtfertigen, erhebt die Nation sich zur Rechtfertigungsinstanz.

„Wenn Deutschland den Nazi-Opfern – den „echten“ jedenfalls: den garantiert „unschuldigen“ jüdischen – ein ehrendes Gedenken bewahrt und sie gesetzlich gegen Leugnung schützt; ... wenn es für seine neue Hauptstadt sogar ein eigenes „Holocaust“-Denkmal plant; dann nimmt die Nation auf diese Weise jedes moralische Recht, an jene „unselige Vergangenheit“ zu erinnern, definitiv und ungeteilt in die eigenen Hände – also jedem andern, sei es eine auswärtige Instanz oder ein einheimischer Gutachter, aus der Hand und stellt klar: Den Maßstab der moralischen Besserung legt niemand anderer an sie an als sie selbst. Und wenn sie das tut, dann in klarer Absicht und mit eindeutigem Ergebnis: Indem sie sich vor den Opfern des Vorgängerstaats so tief verneigt und dessen Verfehlungen beschwört, die sich nie wiederholen dürften“, erteilt sich „ die Führung der Nation einen unendlich ehrenwerten Herrschaftsauftrag, an dem allein sie gemessen werden will – und der die Bequemlichkeit an sich hat, dass er gar nicht zu verfehlen ist: ein neues „Auschwitz“ zu verhindern. ... So wie andere Nationen ... mit guten „geschichtlich beglaubigten“ Rechtsansprüchen und Verpflichtungen rechtfertigen, was sie tun, ganz genauso besteht die BRD mit ihrer negativen Traditionspflege, dem Auschwitz-Gedenken, auf einem unanfechtbaren moralischen Rechtsgrund für ihre Politik: „Auschwitz mahnt“ – die deutschen Machthaber sagen, wozu! ... Das freie Bekenntnis zu vergangenen, eindeutig nicht zur Wiederholung vorgesehenen nationalen Missetaten begründet ein unanfechtbar gutes Gewissen, brauchbar für alle nationalen Lebenslagen und Vorhaben. ... der Erhebung des Vaterlands zum politischen Höchstwert schadet es nicht, sondern nützt es enorm, wenn man sich dafür auf frühere Verfehlungen des Vaterlands bzw. auf die „Lehren“ aus seiner „schmerzlichen“ Geschichte beruft.“ (K. Hecker: Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung, Gegenstandpunkt Verlag 1996, S. 346 ff)

Diese Tour, die moralische Unübertrefflichkeit ihres Staates dadurch zu demonstrieren, dass sie sich zu unnachsichtigen Anklägern und Richtern der – „einzigartigen“, unpolitischen – „Verbrechen von Vorfahren“ aufschwingen, ist der großen Mehrheit deutscher Politiker so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie den gut gemeinten Ratschlag des Herrn Hohmann, Deutschland solle sich doch anders freisprechen, nur mit Ablehnung quittieren. Deutsche Untaten gegen jüdische aufzurechnen, und sei es bloß im Irrealis, und damit die deutschen Taten ihrer „Singularität“ zu berauben, ist nach den Maßstäben, nach denen Deutschland mit sich selber so wunderbar einverstanden sein kann, ein Fall von Antisemitismus und ein Verstoß gegen die Erinnerungskultur. „Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus gehört zum Kern des staatlichen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland.“ So lautet bezeichnenderweise das Motto für das – in Berlin – in Bau befindliche Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Demonstrative Selbstzufriedenheit über die nationale Bewältigungs-Kultur, zu der übrigens auch gehört, Schadenersatzforderungen zurückzuweisen, das ist die einzig wahre, durchgesetzte „Schlußstrich-Mentalität“.

Ein Streit unter Nationalisten um „Nationalstolz und Selbstwert“

Der Festredner Hohmann freilich bleibt unbelehrbar. Den Kunstgriff, die moralische Überlegenheit der Nation dadurch zu beweisen, dass man die Judenvernichtung durch den Vorgängerstaat zum Gegenstand immerwährenden nationalen Gedenkens macht, hält er nach wie vor für ein Schuldgeständnis, das eine Nation sich um ihrer volksseelischen Gesundheit willen nicht zumuten darf. Im letzten Balkankrieg hat er zwar miterleben dürfen, wie locker deutsche Politiker es schaffen, sich zur moralischen Autorität in Sachen „Genozid“ und Präventivkrieg gegen slawische „Völkermörder“ aufzuschwingen, gerade unter Berufung darauf, dass die eigene Nation früher als Völkermörder auf dem Balkan unterwegs war. Aber diese offensive Unverschämtheit kommt nicht ohne die einschlägige „Erinnerung“ aus. Und dieser Preis erscheint einem Hohmann – und damit steht er nicht allein – zu hoch. Er will einfach nicht „auf Schritt und Tritt an die dunkelsten Momente der eigenen Geschichte“ erinnert werden. Die so lockere, „eingeschliffene Unbefangenheit, mit der in der deutschen Öffentlichkeit von den Deutschen als ‘Tätervolk’ geredet wird“, die die Süddeutsche Zeitung anläßlich der Wahl des Terminus „Tätervolk“ zum „Unwort des Jahres 2003“ bemerkt (SZ 21.1.04), auch die überzeugt ihn nicht von der perfekt gelungenen „Versöhnung der Deutschen mit sich selbst“.

Er knickt jedenfalls nicht ein und wird ausgeschlossen. Die Debatte ist damit nicht zu Ende. Unter anderen ergreift der Chefredakteur des liberalen Wochenblattes „Die Zeit“ die Gelegenheit und unterbreitet Hohmann und Gesinnungsgenossen ein moralisches Angebot. Leute wie Hohmann „argumentieren“ für seinen Geschmack viel zu defensiv, wenn sie die Singularität des Holocausts bestreiten und traditionalistisch mit ihrem ewigen „Die anderen haben doch auch Dreck am Stecken ...“ daherkommen. Das Deutschland von heute bietet seinen Insassen so viel, auf das sie stolz sein können, dass solche Verteidigungsreden, die zwischen Deutschland und anderen Nationen eine negative Gleichheit einzuklagen, alt aussehen im Vergleich zum modernen „Deutschland über alles!“ „Dieses Land ... muss sich nicht seines moralischen Wertes versichern, indem es den Makel der Vorfahren auf Juden, Israelis, Amerikaner überträgt ... Dies ist die liberalste Demokratie in Europa. ... Wenn die Herren ... nach Nationalstolz und Selbstwert lechzen, dann mögen sie sich an der glücklichen Geschichte dieser Republik laben. Die gibt mehr her als das Gefasel über Trotzki und ‘Tätervolk’“. (J. Joffe, Die Zeit, 13.11.) Wie die Nation dasteht, das erfüllt einen Meinungsbildner mit einem Stolz, von dem noch die rechtesten Vaterlands-Fanatiker sich eine Scheibe abschneiden können. Man spare sich also kleinliche Rückblicke auf die deutsche Geschichte, wenn es darum geht, an welchem Wesen Europa heutzutage genesen sollte. Echter Patriotismus braucht keine komplizierten Argumente.

P.S. Und „wir“ in Österreich?

Es existiert in Österreich der Vorwurf, hierzulande sei diese tolle deutsche Variante der Versöhnung mit sich selbst, diese nationalmoralische Selbsterhöhung durch das „offene“ „Geständnis“ vergangener Untaten, viel zu wenig betrieben worden. Bloß belegt auch der Fall „Hohmann“ wieder einmal, dass es sich beim sogenannten „Verdrängen“ nationaler Schuld – durch Leugnen oder Aufrechnen –, ebenso wie beim „Bewältigen“ – durch eifriges, billiges Bekennen –, wirklich nur um Alternativen des Nationalstolzes handelt. Wie stellen „wir“ Heutigen vor „uns“ und vor der Welt klar, dass „wir“ die Guten sind – im Klartext, dass die heutige Nation abgrundtief im Recht ist, bei allem, was sie mit ihren Gegnern von Milosevic bis Saddam Hussein, also den diversen Verkörperungen des „Bösen“ anstellt: Sind „wir“ gut, indem „wir“ genau so „Dreck am Stecken“ haben wie andere Nationen, oder sind „wir“ nicht viel besser, weil „wir“ sogar bekennen, früher mal ziemlich schlimm gewütet zu haben?! Solche ekelhaften Streitigkeiten sollte man den Fanatikern überlassen, die sich dafür begeistern; mit einer Kritik des Faschismus haben diese Varianten nationaler Selbstdarstellung ohnehin nichts zu tun. Wer darüber Bescheid wissen will – das oben zitierte Standardwerk zum Thema Faschismus ist von

Konrad Hecker und heißt
Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung
München 1996, GegenStandpunkt-Verlag