„Erstmals in der Bundestagsgeschichte“ wurde ein Mitglied der
CDU-Fraktion, der Abgeordnete Hohmann, ausgeschlossen.
Mit seiner Bezeichnung der Juden als „Tätervolk“ in einer Rede am Tag der
Deutschen Einheit habe er sich „außerhalb
des Verfassungsbogens gestellt“ (CSU-Chef Stoiber). Er vertrete „ein Gedankenbild und inhaltliches Konstrukt,
das mit der Demokratie in Deutschland nicht vereinbar ist.“ (CDU-Chefin
Merkel)
Der Betroffene versteht
seither die Welt bzw. seine Partei nicht mehr. Er erklärt, „böswillig falsch
interpretiert“ worden zu sein. Den freiwilligen Austritt aus der Fraktion
verweigert er. Seine Empörung ist aufrichtig: Welcher andere Tag als ein
Nationalfeiertag könnte geeigneter sein, um endlich eine von den „Schatten der
Vergangenheit“ befreite nationale Selbstbeweihräucherung einzufordern? Was hat
er falsch gemacht? Zur Abwechslung soll hier einmal der Stein des Anstoßes zur
Kenntnis genommen und analysiert werden:
„Unsere Erbsünde lähmt das Land ... Schwere Sorgen macht eine
allgegenwärtige Mutzerstörung im nationalen Selbstbewusstsein, die durch
Hitlers Nachwirkungen ausgelöst wurde. Das durch ihn veranlasste Verbrechen der
industrialisierten Vernichtung ... besonders der europäischen Juden lastet auf
der deutschen Geschichte ... Die Schuld von Vorfahren an diesem Menschheitsverbrechen
hat fast zu einer neuen Selbstdefinition der Deutschen geführt ... Jede andere
Nation neigt eher dazu, die dunklen Seiten ihrer Geschichte in ein günstigeres
Licht zu rücken. Vor beschämenden Ereignissen werden Sichtschutzblenden
aufgestellt. Bei den anderen wird umgedeutet. ... Solche gnädige ... Umdeutung
wird den Deutschen nicht gestattet. Das verhindert die zur Zeit in Deutschland
dominierende politische Klasse und Wissenschaft mit allen Kräften. Sie tun
„fast neurotisch auf der deutschen Schuld beharren“, wie Joachim Gauck es am
1.10.03 ausgedrückt hat ... Die Deutschen als Tätervolk. Das ist ein Bild von
großer, international wirksamer Prägekraft geworden. Der Rest der Welt hat sich
hingegen in der Rolle der Unschuldslämmer ... bestens eingerichtet ... Auf
diesem Hintergrund stelle ich die provozierende Frage: Gibt es auch beim
jüdischen Volk, das wir ausschließlich in der Opferrolle wahrnehmen, eine
dunkle Seite in der neueren Geschichte oder waren Juden ausschließlich die
Opfer ... ?“ Es folgen viele einschlägige Zahlen, um den Anteil von Juden
an Untaten der Bolschewiki zu belegen.
„Juden waren in großer Anzahl sowohl in der Führungsebene als auch bei den
Tscheka-Erschießungskommandos aktiv. Daher könnte man Juden mit einiger
Berechtigung als „Tätervolk“ bezeichnen. Das mag erschreckend klingen. Es würde
aber der gleichen Logik folgen, mit der man Deutsche als Tätervolk bezeichnet
... wir müssen genauer hinschauen. Die Juden, die sich dem Bolschewismus und
der Revolution verschrieben hatten, hatten zuvor ihre religiösen Bindungen
gekappt. Sie waren nach Herkunft und Erziehung Juden, von ihrer Weltanschauung
her aber meist glühende Hasser jeglicher Religion. Ähnliches galt für die
Nationalsozialisten ... Verbindendes Element des Bolschewismus und des
Nationalsozialismus war also die religionsfeindliche Ausrichtung und die
Gottlosigkeit. Daher sind weder „die Deutschen“, noch „die Juden“ ein
Tätervolk. Mit vollem Recht aber kann man sagen: Die Gottlosen mit ihren
gottlosen Ideologien, sie waren das Tätervolk des letzten, blutigen
Jahrhunderts ... Daher ... plädiere ich entschieden für eine Rückbesinnung auf
unsere religiösen Wurzeln und Bindungen. Nur sie werden ähnliche Katastrophen
verhindern, wie sie uns Gottlose bereitet haben ... Deswegen ist es auch so
wichtig, dass wir den Gottesbezug in die europäische Verfassung aufnehmen ...
Mit Gott in eine gute Zukunft für Europa! Mit Gott in eine gute Zukunft
besonders für unser deutsches Vaterland.“ (zitiert nach: www.konkret-verlage.de)
Um die Bedeutung zu
unterstreichen, stellt der Redner sein Thema in den Zusammenhang der Debatte um
die „Lähmung“ des Standorts
Deutschland – einer Debatte, die den Bewohnern dieses Standorts bekanntlich nur
mehr das eine Interesse zubilligt, sich für den Aufschwung Deutschlands ins
Zeug zu legen – und er bereichert den diesbezüglichen Meinungsaustausch um eine
nationalmoralische Diagnose: Ausgerechnet heute, 60 Jahre „danach“, wo mehr als
die Hälfte der Heranwachsenden laut Meinungsumfragen nicht mehr weiß, was „Holocaust“
bzw. „Auschwitz“ bedeuten, da leiden die Deutschen mehr denn je unter dem
langen Vorstrafenregister ihrer „Vorfahren“
bzw. unter „Hitlers Nachwirkungen“.
Hohmann ist Patriot: Er geht selbstverständlich davon aus, dass die Nation
alle, die ihr angehören, nicht bloß materiell, sondern auch moralisch
vereinnahmt und zu einer „Schicksals- und Verantwortungsgemeinschaft“
zusammenschweißt. Jedem, der zufälligerweise deutsche Vorfahren hat und den die
deutsche Staatsgewalt, ohne ihn gefragt zu haben, als ihren Bürger mit allen
Rechten und Pflichten in Anspruch nimmt, jedem Bürger also erlegt die
Mitgliedschaft in der Nation eine Art ideeller Haftung auf für alles, was
Deutsche vor ihm „verbrochen“ haben, gleichgültig, ob als Führer oder als
dessen mehr oder weniger „willige Vollstrecker“, gleichgültig dagegen, ob man
an den Untaten tatsächlich beteiligt war oder sie wenigstens billigt oder
nicht. Als ein Stück Volk ist jeder
von der „Schuld von Vorfahren“
betroffen und hat sich ihr zu stellen, so dass sich die Frage „Wieso bin ich
für Hitler mitverantwortlich?“ verbietet. Was im normalen zwischenmenschlichen
Umgang als durchaus wahnhaft gelten würde, nämlich sich für die Taten und
Untaten wildfremder Menschen in irgendeiner Weise zuständig zu erklären und moralisch
zur Verantwortung ziehen zu lassen, das versteht sich von selbst, das ist sogar
geboten, wenn und weil es um den nationalen Zusammenhang geht.
Davon geht Hohmann wie von
einer Selbstverständlichkeit aus und stimmt insofern voll dem nationalen Konsens
zu. Womit er nicht einverstanden ist, das ist die als „politisch korrekt“
durchgesetzte Einordnung der
NS-Vergangenheit. Nicht dass „wir
Deutsche uns unserer Vergangenheit zu stellen“ haben, ist Hohmanns Ärgernis,
sondern wie das geschieht. Da
entdeckt er eine von den regierenden Nestbeschmutzern zumindest mit verursachte
„Neurose“: Die Deutschen verweigern
sich selbst eine „gnädige Umdeutung“ der „dunklen Seiten“ ihrer Geschichte. Wo
andere Nationen, die auch Dreck am Stecken haben, skrupellos Schönfärberei
betreiben und sich wie die „Unschuldslämmer“ aufführen – es schon interessant,
was ein Nationalist in dem Bedürfnis, seine Nation zu exkulpieren, über die zum
Alltag von Nationen anscheinend notwendig dazugehörenden „Schattenseiten“
ausplaudert: da werden massenhaft Menschenleben vernichtet, das Übelste wird
verschwiegen, die Wahrheit verdreht, jede Sauerei schöngefärbt ... –,
angesichts dessen also gestatten es sich ausgerechnet die Deutschen nicht, vor
ihrer „industrialisierten Vernichtung der europäischen Juden“ ein paar
wohltätige „Sichtschutzblenden“ aufzustellen. Das will der Patriot Hohmann
nicht hinnehmen, und dafür hat er eine sorgfältig konstruierte „Blende“
anzubieten.
Wenn dem Volk Hohmanns der
Judenmord nicht vergeben wird, bloß weil der böse Hitler seinerzeit ganz
zufällig über eine ansonsten herzensgute Mannschaft regiert und ein epochales
„Verbrechen veranlaßt“ hat – ja dann wüßte er, Hohmann, auch noch andere
zweifelhafte Völker. Und er scheut sich nicht, „provozierend“ in medias res zu
gehen: dann könnten ihm glatt einige Juden
einfallen, die so prominent am „bolschewistischen Terror“ im revolutionären
Rußland mitgewirkt haben, dass man das Verdikt „Tätervolk“ gleich postwendend
an das jüdische Volk zurückgeben könnte.
Was er als gewissenhafter deutscher Volksvertreter, als Proponent eines guten
deutschen Volksgewissens, selbstverständlich nicht tut, und in seiner Rede auch
nicht im Sinn hatte. Er hat nur die Schuldzuweisung ans deutsche Volk verallgemeinernd
weitergedacht und will damit im Gegenteil auf eine befreiende Schlußfolgerung
hinaus: So wenig das jüdische Volk
als ganzes für die bolschewistischen Missetaten einiger seiner Angehörigen
haftbar gemacht werden darf und soll, genau
so wenig müssen sich dann aber auch die Deutschen den Vorwurf gefallen
lassen, ihre Vorfahren hätten in ihrer Eigenschaft als deutsches Volk dem
Führer als Manövriermasse fürs Juden-Vernichten zur Verfügung gestanden. Na ja:
Da haben die Nazis die besten Volksdeutschen in den Krieg geschickt und für die
organisierte Juden-Vernichtung herangezogen, haben sich dafür aufs deutsche
Volk und dessen völkische Reinheit berufen und bei besagtem Volk viel Anklang
gefunden – das ist nicht sehr deckungsgleich mit den bolschewistischen Kadern,
die sich bei ihrem Einsatz für die Revolution weder aufs Judentum gestützt, dem
ein Teil von ihnen entstammte, noch auf eine Pflicht gegenüber einem jüdischen
Staat berufen haben. Aber so genau will Hohmann auch wieder nicht vergleichen.
– Jedenfalls brauchen die Deutschen sich noch lange nicht den Massenmord an
Europas Juden in ihre völkischen Schuhe schieben zu lassen. Genauso wenig
jedenfalls, wie es Hohmann in den Sinn käme, der in alle Welt zerstreuten jüdischen
Gemeinde als solcher den revolutionären Terror bolschewistischer Kader aus
jüdischem Elternhaus übel zu nehmen.
Umgekehrt, meint Hohmann:
Gerade an den jüdisch-bolschewistischen
Bösewichten wird doch deutlich, dass sie mit ihrem Einsatz für die Sowjetmacht
überhaupt nicht als Juden, vielmehr als Nicht-Juden, geradezu als Verräter
am auserwählten Volk, nämlich als
Gottlose, zur Tat geschritten sind. Daraus geht für ihn hervor, dass dann
auch die deutschen Nazi-Schergen –
obgleich die ihr Deutschtum nun wahrlich nie verraten haben – nicht als Deutsche gehandelt haben, als
sie im Auftrag des Führers aller Deutschen Deutschland von den Undeutschen
gesäubert haben. Sondern auch als
Gottlose! So „ähnlich“ wie Trotzki & Co vom Judentum, so hätten Hitler
& Co sich von der Kirche losgesagt und in dieser Eigenschaft, nicht etwa als deutsche Staats-Rassisten, ihr Volk zur Ächtung und ihre SS zur
Tötung aller erreichbaren Juden antreten lassen. Was für Hohmann bei Trotzki
& Co plausibel klingt – und mit jüdischem Glaubenskram hatte deren
revolutionärer Kampf wirklich nichts zu tun –, das müßte deswegen doch auch auf
Hitlers Untertanen im Sinn einer brauchbaren „Sichtschutzblende“ anwendbar
sein: Als Deutsche, so die erlösende
Botschaft, sind die Deutschen immer sauber geblieben. Der Judenmord verdankt
sich der fehlenden Gottesfurcht des Führers. Um mit dieser unseligen
Vergangenheit fertig zu werden, fehlt dem deutschen Volk dementsprechend
höchstens eines: mehr Gott. Eine neue
Synthese von Deutschtum und Gläubigkeit muss her – also die Regierungsmacht für
die CDU, die das Christentum schon im Parteinamen führt. In Ewigkeit Amen.
Hohmanns Partei, die CDU,
reagiert undankbar, sogar ausgesprochen ungnädig auf diese Wahlempfehlung. Kaum
reißt eine skandal-geile Öffentlichkeit seinen so gut gemeinten „provozierenden“
Irrealis von den Juden als Tätervolk aus seinem frommen Zusammenhang, schon
knickt die CDU ein, und die Vorsitzende setzt sich an die Spitze der Empörung.
Ob Frau Merkel der
Gedankengang zu schwierig war und sie einfach nicht kapiert hat, dass ihr
Parteifreund Deutsche und Juden von
dem Vorwurf „Tätervolk“ freisprechen
wollte, oder ob sie es für unmöglich befunden hat, dem deutschen Volk den
komplizierten Freispruch plausibel zu machen, sei dahingestellt. (Klar ist
jedenfalls, dass die Jury, die den Ausdruck „Tätervolk“ zum „Unwort des Jahres
2003“ wählte, nicht begriffen hat, dass Hohmann den Terminus verwerfen wollte,
weil an allem Bösen die Gottlosen schuld sind.) Vielleicht ist Frau Merkel
sogar ein bißchen darüber erschrocken, welch großen Anklang, und das nicht nur
in ihrer Partei, Hohmanns gut gemeinte Verwendung des alten Nazi-Klischees von
der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ und dieses Klischee selber gefunden hat: „Aber den jüdischen Kommissar im
Ledermantel, den hat es doch gegeben.“ (SZ, 6.11.03). Auf alle Fälle hat
sie gleich den Kern der Sache herausgegriffen: die Irritation, die Hohmanns
Beweisführung für „die Versöhnung der Deutschen mit sich selbst“ bedeutet. Seine
Art, die „dunklen Seiten“ der deutschen Geschichte „in ein günstigeres Licht zu
rücken“ – der Vergleich mit Missetaten, welche die Geschichte anderer Völker
verunzieren, sogar die des „auserwählten Volkes“ –, ist nämlich ein Rückfall
hinter den erreichten Stand deutscher Selbstversöhnung. Derartiges Aufrechnen
zeugt nach wie vor von schlechtem Gewissen und kommt sogar als Eingeständnis
daher, dass Vernichtungsaktionen irgendwie allemal zur Lebensgeschichte einer
Nation gehören. Bloß haben sich Deutschlands demokratische Antifaschisten
längst auf eine effizientere Form geeinigt, ihre Nation reinzuwaschen: Sie
bescheinigen dem deutschen Vernichtungsfeldzug gegen die Juden absolute
Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit – „Singularität“ lautet der
Fachausdruck. Sie bestreiten jeden politischen
Zweck der damaligen Aktion, der irgendeine Ähnlichkeit mit anerkannten und
noch aktuellen Zielsetzungen einer aufstrebenden imperialistischen Großmacht
wie der deutschen haben könnte – und schlagen mit dieser „Sichtschutzblende“
zwei Fliegen auf einmal.
Zum einen handelt es sich
bei der Judenvernichtung, in dieser Sichtweise, nicht mehr um eine düstere
Phase, sondern um ein erratisches Schwarzes Loch in der deutschen Geschichte.
So radikal ist es ausgegrenzt aus dem Bereich des Politischen, dass nichts
Politisches, was Deutschland je treibt, durch eine Erinnerung an
nationalsozialistische Vorbilder verunglimpft werden kann und darf. Wer in
kritischer Absicht Analogien und Parallelen zwischen einst und heute bemerkt –
von rationellen Vergleichen zwischen Demokratie und Faschismus ganz zu
schweigen –, der „versündigt sich an den Opfern des Holocaust“, nämlich an
deren Recht auf Einmaligkeit, das Deutschland ihnen zuerkennt. Umgekehrt geht
alles in Ordnung, was deutsche Politiker heute machen; schon gleich, wenn sie
sich dafür auf die „Lehren der Geschichte“ und ihre Absage an Hitler & Co
berufen: ein erstklassiger Freibrief für jede Politik, erhältlich durch die
billige Übung, den Abscheu vor dem „Holocaust“ wie eine Monstranz vor sich
herzutragen. Diese Variante gehört
deswegen zum Grundbestand der deutschen politischen Kultur – und indem die
deutsche Nation, würdig vertreten durch ihre regierenden Antifaschisten, nichts
beschönigt und sich in der Abscheu gegen Hitlers Verbrechen von niemandem
übertreffen lässt, übernimmt sie gleich selber die Regie über alle peinlichen
Erinnerungen. Sie bringt sich in die Position des Richters in eigener Sache und bescheinigt sich im Wege des
„Erinnern“ die gelungene
Resozialisierung. So funktioniert „die Versöhnung der Deutschen mit sich
selbst“. Und dabei können Rückfälle
in die Entschuldigung durch Deutung auf andere Untaten, mit der die
westdeutsche Nachkriegsrepublik sich in den 50er Jahren beholfen hat, nur
stören. Die alte Masche bringt nie den wirklichen „Schlußstrich“, den sie
fordert. Der ist stattdessen mit einer Gedenk-Kultur zu haben, in der sich die
deutsche Nation mit ihrem Verdikt über „Holocaust“ und Hitlerei nicht mehr als Angeklagter aufführt, sondern als unbestechliches,
strengstes und folglich kompetentestes Tribunal
– und so in Sachen „deutsche Geschichte“ das letzte Wort behält. Statt sich,
vor wem auch immer, zu rechtfertigen,
erhebt die Nation sich zur Rechtfertigungsinstanz.
„Wenn Deutschland den Nazi-Opfern – den „echten“ jedenfalls: den
garantiert „unschuldigen“ jüdischen – ein ehrendes Gedenken bewahrt und sie
gesetzlich gegen Leugnung schützt; ... wenn es für seine neue Hauptstadt sogar
ein eigenes „Holocaust“-Denkmal plant; dann nimmt die Nation auf diese Weise
jedes moralische Recht, an jene „unselige Vergangenheit“ zu erinnern, definitiv
und ungeteilt in die eigenen Hände – also jedem andern, sei es eine auswärtige
Instanz oder ein einheimischer Gutachter, aus der Hand und stellt klar: Den Maßstab
der moralischen Besserung legt niemand anderer an sie an als sie selbst. Und
wenn sie das tut, dann in klarer Absicht und mit eindeutigem Ergebnis: Indem
sie sich vor den Opfern des Vorgängerstaats so tief verneigt und dessen
Verfehlungen beschwört, die sich nie wiederholen dürften“, erteilt sich „ die Führung der Nation einen unendlich
ehrenwerten Herrschaftsauftrag, an dem allein sie gemessen werden will – und
der die Bequemlichkeit an sich hat, dass er gar nicht zu verfehlen ist: ein
neues „Auschwitz“ zu verhindern. ... So wie andere Nationen ... mit guten
„geschichtlich beglaubigten“ Rechtsansprüchen und Verpflichtungen
rechtfertigen, was sie tun, ganz genauso besteht die BRD mit ihrer negativen
Traditionspflege, dem Auschwitz-Gedenken, auf einem unanfechtbaren moralischen
Rechtsgrund für ihre Politik: „Auschwitz mahnt“ – die deutschen Machthaber sagen,
wozu! ... Das freie Bekenntnis zu vergangenen, eindeutig nicht zur Wiederholung
vorgesehenen nationalen Missetaten begründet ein unanfechtbar gutes Gewissen,
brauchbar für alle nationalen Lebenslagen und Vorhaben. ... der Erhebung des
Vaterlands zum politischen Höchstwert schadet es nicht, sondern nützt es enorm,
wenn man sich dafür auf frühere Verfehlungen des Vaterlands bzw. auf die
„Lehren“ aus seiner „schmerzlichen“ Geschichte beruft.“ (K. Hecker: Der
Faschismus und seine demokratische Bewältigung, Gegenstandpunkt Verlag 1996, S.
346 ff)
Diese Tour, die moralische
Unübertrefflichkeit ihres Staates dadurch zu demonstrieren, dass sie sich zu
unnachsichtigen Anklägern und Richtern der – „einzigartigen“, unpolitischen –
„Verbrechen von Vorfahren“ aufschwingen, ist der großen Mehrheit deutscher
Politiker so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie den gut gemeinten
Ratschlag des Herrn Hohmann, Deutschland solle sich doch anders freisprechen,
nur mit Ablehnung quittieren. Deutsche Untaten gegen jüdische aufzurechnen, und
sei es bloß im Irrealis, und damit die deutschen Taten ihrer „Singularität“ zu
berauben, ist nach den Maßstäben, nach denen Deutschland mit sich selber so
wunderbar einverstanden sein kann, ein Fall von Antisemitismus und ein Verstoß
gegen die Erinnerungskultur. „Die
Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus gehört zum Kern des
staatlichen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland.“ So lautet
bezeichnenderweise das Motto für das – in Berlin – in Bau befindliche Denkmal für
die ermordeten Juden Europas. Demonstrative Selbstzufriedenheit über die
nationale Bewältigungs-Kultur, zu der übrigens auch gehört,
Schadenersatzforderungen zurückzuweisen, das ist die einzig wahre,
durchgesetzte „Schlußstrich-Mentalität“.
Der Festredner Hohmann
freilich bleibt unbelehrbar. Den Kunstgriff, die moralische Überlegenheit der
Nation dadurch zu beweisen, dass man die Judenvernichtung durch den Vorgängerstaat
zum Gegenstand immerwährenden nationalen Gedenkens macht, hält er nach wie vor
für ein Schuldgeständnis, das eine Nation sich um ihrer volksseelischen
Gesundheit willen nicht zumuten darf. Im letzten Balkankrieg hat er zwar
miterleben dürfen, wie locker deutsche Politiker es schaffen, sich zur
moralischen Autorität in Sachen „Genozid“ und Präventivkrieg gegen slawische
„Völkermörder“ aufzuschwingen, gerade unter Berufung darauf, dass die eigene
Nation früher als Völkermörder auf dem Balkan unterwegs war. Aber diese
offensive Unverschämtheit kommt nicht ohne die einschlägige „Erinnerung“ aus.
Und dieser Preis erscheint einem Hohmann – und damit steht er nicht allein – zu
hoch. Er will einfach nicht „auf Schritt und Tritt an die dunkelsten Momente
der eigenen Geschichte“ erinnert werden. Die so lockere, „eingeschliffene Unbefangenheit, mit der in der deutschen Öffentlichkeit
von den Deutschen als ‘Tätervolk’ geredet wird“, die die Süddeutsche
Zeitung anläßlich der Wahl des Terminus „Tätervolk“
zum „Unwort des Jahres 2003“
bemerkt (SZ 21.1.04), auch die überzeugt ihn nicht von der perfekt gelungenen
„Versöhnung der Deutschen mit sich selbst“.
Er knickt jedenfalls nicht
ein und wird ausgeschlossen. Die Debatte ist damit nicht zu Ende. Unter anderen
ergreift der Chefredakteur des liberalen Wochenblattes „Die Zeit“ die Gelegenheit
und unterbreitet Hohmann und Gesinnungsgenossen ein moralisches Angebot. Leute
wie Hohmann „argumentieren“ für seinen Geschmack viel zu defensiv, wenn sie die
Singularität des Holocausts bestreiten und traditionalistisch mit ihrem ewigen
„Die anderen haben doch auch Dreck am Stecken ...“ daherkommen. Das Deutschland
von heute bietet seinen Insassen so viel, auf das sie stolz sein können, dass
solche Verteidigungsreden, die zwischen Deutschland und anderen Nationen eine
negative Gleichheit einzuklagen, alt aussehen im Vergleich zum modernen
„Deutschland über alles!“ „Dieses Land
... muss sich nicht seines moralischen Wertes versichern, indem es den Makel
der Vorfahren auf Juden, Israelis, Amerikaner überträgt ... Dies ist die
liberalste Demokratie in Europa. ... Wenn die Herren ... nach Nationalstolz und
Selbstwert lechzen, dann mögen sie sich an der glücklichen Geschichte dieser
Republik laben. Die gibt mehr her als das Gefasel über Trotzki und ‘Tätervolk’“.
(J. Joffe, Die Zeit, 13.11.) Wie die Nation dasteht, das erfüllt einen
Meinungsbildner mit einem Stolz, von dem noch die rechtesten
Vaterlands-Fanatiker sich eine Scheibe abschneiden können. Man spare sich also
kleinliche Rückblicke auf die deutsche Geschichte, wenn es darum geht, an
welchem Wesen Europa heutzutage genesen sollte. Echter Patriotismus braucht
keine komplizierten Argumente.
Es existiert in Österreich
der Vorwurf, hierzulande sei diese tolle deutsche Variante der Versöhnung mit
sich selbst, diese nationalmoralische Selbsterhöhung durch das „offene“ „Geständnis“
vergangener Untaten, viel zu wenig betrieben worden. Bloß belegt auch der Fall
„Hohmann“ wieder einmal, dass es sich beim sogenannten „Verdrängen“ nationaler Schuld – durch Leugnen oder Aufrechnen –,
ebenso wie beim „Bewältigen“ – durch
eifriges, billiges Bekennen –, wirklich nur um Alternativen des Nationalstolzes handelt. Wie stellen „wir“ Heutigen
vor „uns“ und vor der Welt klar, dass „wir“ die Guten sind – im Klartext, dass
die heutige Nation abgrundtief im Recht ist, bei allem, was sie mit ihren
Gegnern von Milosevic bis Saddam Hussein, also den diversen Verkörperungen des
„Bösen“ anstellt: Sind „wir“ gut, indem „wir“ genau so „Dreck am Stecken“ haben
wie andere Nationen, oder sind „wir“ nicht viel besser, weil „wir“ sogar
bekennen, früher mal ziemlich schlimm gewütet zu haben?! Solche ekelhaften
Streitigkeiten sollte man den Fanatikern überlassen, die sich dafür begeistern;
mit einer Kritik des Faschismus haben diese Varianten nationaler
Selbstdarstellung ohnehin nichts zu tun. Wer darüber Bescheid wissen will – das
oben zitierte Standardwerk zum Thema Faschismus ist von
Konrad Hecker und heißt
Der Faschismus und seine demokratische
Bewältigung
München 1996, GegenStandpunkt-Verlag