GEGENARGUMENTE

“Hartz IV”: Die Schaffung eines Subproletariats durch Sozialpolitik

Mit “Hartz IV”, dem deutschen Reformprojekt zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe beschreitet der Sozialstaat neue Wege in eine durchaus traditionelle Richtung. Die immer schon gültige Sortierung der lohnabhängigen Menschheit in jenen Teil, der sich über einen Arbeitsplatz freuen soll, in Unbeschäftigte, die als Reservearmee bereit zu stehen haben, und in jenen Rest, der wegen der berühmten “Wechselfälle des (kapitalistischen) Lebens” gänzlich aus der Erwerbsarbeit ausscheidet, diese Sortierung wird mit “Hartz IV” neu aufgemischt.

1. Die dauerhafte Beschäftigungslosigkeit, die die auf höchstem Produktivitätsniveau arbeitende deutsche Marktwirtschaft einigen Millionen Arbeit suchender Menschen beschert, die gilt der zuständigen Sozialpolitik ab sofort als ein polit-ökonomisch nicht mehr korrigierbarer Zustand. Mit dem Ziel der “Schaffung von Arbeitsplätzen” wird zwar nach wie vor viel hantiert, dass es diese Arbeitsplätze auch einmal geben wird, damit wird andererseits nicht gerechnet. Der Staat verabschiedet sich von einer Politik, der Arbeitslosigkeit als mehr oder weniger lange Unterbrechung einer “regulärer Beschäftigung” galt.

2. “Hartz IV” zieht die Konsequenzen und mustert die sogenannten Langzeitarbeitslosen endgültig aus dem sog. “ersten” Arbeitsmarkt aus, durch einen neuen sozialrechtlichen Status. Dieser Menschenschlag gilt der nationalen Führung bei ihrem Anliegen, aus Deutschland einen weltweit möglichst unschlagbaren Kapitalstandort zu machen, als vollständig überflüssig, für diesen regulären “ersten” Arbeitsmarkt.

3. Deswegen fällt er ab 2005 unter die neue Sozialhilfe, das sog. “Arbeitslosengeld II”, ist also ein Fall für staatliche “Fürsorge”, die ihren entscheidenden Bezugspunkt darin hat, dass der Staat soziale Unkosten spart. Die neue “Fürsorge” gehorcht der alten Maxime, dass jeder, dessen Arbeit nicht mehr fürs Kapitalwachstum gebraucht wird, für diese Gesellschaft nur noch eine unrentable Last darstellt – und er deswegen alles tun muss, um den Staat zu entlasten. Das organisiert “Hartz IV” als politische Pflicht der ökonomisch Nutzlosen.

Die Neusortierung der Arbeitslosen

Die in Deutschland regierenden RotGrünen korrigieren damit – unter dem Beifall der opponierenden SchwarzGelben – wieder einmal überkommene sozialpolitische Standards: Die bisherige Sortierung des Heeres der Arbeitslosen wird modifiziert. Ein Grund zur Trauer wäre das nicht unbedingt. Jahrzehnte lang wurden mit den immer wieder gesenkten Leistungen und mit verschärften Bezugsbedingungen die Arbeitslosen daran erinnert, dass sie schief gewickelt sind, wenn sie auf diese Lohnersatzleistungen als dauerhaftes Lebensmittel spekulieren. Mit der Befristung und gleitenden Verminderung der Sozialleistungen hat der Sozialstaat immer schon deutlich gemacht, dass er jede fortdauernde Arbeitslosigkeit den Arbeitslosen zur Last legt, und er hat sie folglich fortlaufend in schlechtere Arbeitsverhältnisse und sinkende Einkommen genötigt. Durchaus auch, um als Lohndrücker gegenüber den noch Beschäftigten zu fungieren. Und immer war neben dem Interesse, Sozialkosten zu senken, auch der Verdacht präsent, da könnten sich glatt Leute auf Dauer im Arbeitslosengeld einrichten. Wer schließlich auch daraus herausfiel, durfte zusehen, wie er mit der bisherigen Sozialhilfe über die Runden kam. Der Auftrag des Arbeitslosen bestand schon immer darin, so schnell wie möglich den Sozialstaat zu entlasten, d.h. sich um Arbeit zu kümmern, unabhängig davon, ob es geeignete Stellenangebote gibt.

Darüber ist die Zahl der Arbeitslosen ständig gewachsen, und nachdem als nationale Beschäftigungsreserve ohnehin höchstens noch ein Teil von ihnen gebraucht wird – die Arbeitslosen der ganzen Welt werden ja inzwischen von den Multis als Reserve einkalkuliert –, deswegen entfällt für die staatlich definierten “Langzeitarbeitslosen” die Zugehörigkeit zur Arbeiterreserve. Sie werden als Nachschub für die große Industrie, mit der Deutschland die Standortkonkurrenz gewinnen will, nicht mehr gebraucht. Das einzige zugelassene Mittel, mit dem die Lohnabhängigen für sich und ihre Familien regelmäßigen Lebensunterhalt verdienen können, wird ihnen nicht nur vom Kapital verweigert, sondern nun auch noch vom Sozialstaat gewissermaßen aberkannt: Da hilft auch nicht die allerorten und in protestierender Absicht demonstrierte Bereitschaft, sich alles gefallen zu lassen und jede Arbeit anzunehmen – mit der neuen, per Gesetz vollzogenen staatlichen Einsortierung unter die Langzeitarbeitslosen ist dies nicht relevant. Fähigkeit und Bereitschaft hin oder her – der Sozialstaat rechnet nicht mehr mit ihnen als reguläre Vollzeit-Arbeitskraft. Denn wer längere Zeit fürs Kapitalwachstum nicht mehr rentabel einsetzbar ist, der verfügt nicht nur über kein regelmäßiges Lohneinkommen, sondern der besitzt – so sieht es nun der deutsche Sozialstaat – wegen erwiesener Nicht-Benutzung auch keine taugliche Arbeitskraft als Einnahmequelle mehr. Die muss dann auch nicht länger aus den Sozialkassen als Reserve für die Industrie erhalten werden. Mit den sog. “Hilfen zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt”, die ihm mit “Hartz IV” sehr wohl noch zugemutet werden, ist gar nicht mehr beabsichtigt, seine Rückkehr in die normale kapitalistische Erwerbswelt – “reguläre Beschäftigung” heißt das inzwischen – zu organisieren.

Damit ist der Anspruch der Betroffenen auf Leistungen aus der Sozialversicherung von heute auf morgen erloschen – egal wie viel ihnen dafür in ihrem bisherigen Arbeitsleben vom Lohn abgeknöpft worden ist. Mit einer schlichten administrativen Maßnahme fallen sie aus dem “Versicherungsprinzip” – Einzahlungen begründen Ansprüche, wie bescheiden auch immer – heraus. Dafür zeichnet die staatliche Legislative verantwortlich, die ihre vom Wahlbürger – “Wir sind das Volk!” – alle vier Jahre wieder aufs Neue bestätigte Freiheit gründlich ausnutzt. Einem Heer von 3 Millionen Menschen wird nun mitgeteilt, dass es für die nationalen (Standort-)Anliegen nicht nur nicht mehr gebraucht wird, sondern deswegen eine Last darstellt.

Es macht eben die Karriere von Lohnbeziehern aus, sich auf ein Leben zwischen Fabrik und Arbeitsamt und zugleich auf den Abstieg in die untersten Armutsschichten einzurichten. Dies ist in dieser schönsten aller Wirtschaftsweisen für jene Menschen vorprogrammiert, die dazu verdonnert sind, sich um Geld in fremden Diensten zu bemühen und sich für fremde, wenig bekömmliche Zwecke krumm zu legen. Insofern ist auch die durch “Hartz IV” vollzogene Neubeurteilung der Sozialhilfe nur konsequent: War früher der Bezug von Sozialhilfe offiziell sozusagen zur Ausnahme erklärt worden – man legte Wert auf den immer schon verlogenen Befund, dass es hierzulande wirkliche Armut nur in äußersten Randbereichen der Gesellschaft, also eigentlich gar nicht wirklich gibt –, so ist er jetzt als sozialstaatlicher Regelfall anerkannt. So gibt der moderne Sozialstaat heute jenen kommunistischen “Störenfrieden” recht, die schon immer darauf hingewiesen haben, dass der Menschenschlag, dessen Lebensperspektive voll und ganz an seinem Nutzen fürs kapitalistische Geschäft hängt, allein die Wahl hat zwischen (für andere) brauchbarer und unbrauchbarer Armut – und sogar die Wahl kann er gar nicht selbst treffen.

Die Neuorganisation der Verelendung

Auf diese Weise “ausgemustert” zu werden heißt noch lange nicht, dass die Betroffenen ihre Fürsorge-Almosen abholen sollen, sie mit Gelegenheitsjobs schwarz aufbessern und sich ansonsten praktisch daran gewöhnen, dass der Reichtum der Gesellschaft eine andere Funktion hat, als den Bedürftigen das Leben zu erleichtern. Das war auch früher nicht so. Immer schon hat der Sozialstaat da gewissenhaft Regie geführt, wo der Kapitalismus einen Bodensatz von nicht mehr gebrauchten Leuten produziert. Permanent mußte der Nachweis der Bedürftigkeit gegen den Dauerverdacht der Behörden erbracht werden, da wolle sich einer vor dem Erwerbsleben drücken. Immer schon hat der Sozialstaat sein Armutswesen als abschreckende Alternative zum Broterwerb per Lohnarbeit organisiert. “Hartz IV” legt Zeugnis davon ab, dass dies steigerungsfähig ist. Wo zu den bisherigen Sozialhilfeempfängern noch Millionen von “Langzeitarbeitslosen” dazugeschlagen werden, die nicht Produkt eines vorübergehenden Konjunkturtiefs sind, da wird die staatliche Fürsorge neu organisiert, jene Fürsorge, die nie bloß in der Verabreichung von Steueralmosen an Bedürftige bestand, sondern in einem Auftrag an ihre Empfänger, der unter strengster sozialstaatlicher Aufsicht abgewickelt gehört: Die wird gewaltig radikalisiert.

Zum ersten zieht der Staat alle irgendwie eigenen Mittel der Betroffenen heran. Fürsorge ist im Gesetz als “nachrangige(!) bedürftigkeitsabhängige(!) Leistung aus Steuermitteln” definiert. Die den Betroffenen nun abverlangte “Bedürftigkeitsprüfung” – der berüchtigte “Hartz IV-Fragebogen” – ist keine statistische Erhebung, sondern eine Beschlagnahme. Der Sozialstaat hat für seinen neudefinierten menschlichen Überschuss den Offenbarungseid vorgesehen. Den kennt man vom Gerichtsvollzieher, der bei säumigen Schuldnern alles abschleppt und im Interesse der Gläubiger zu Geld macht, was nicht niet- und nagelfest ist. Das ist die Stellung des Sozialstaats ab dem Jahr 2005 zu ausgemusterten Arbeitslosen: Als Schuldner der Allgemeinheit, die bei ihrer Pflicht versagt haben, für sich selbst zu sorgen, sollen sie es für in Ordnung befinden, wenn der Staat ihr Privateigentum – nach Festlegung gnädiger Freibeträge – erst einmal unter seine Zwangsbewirtschaftung nimmt, bevor er “nachrangige Leistungen aus Steuermitteln” herausrückt. Das selbst Gesparte steht zur staatlichen Disposition, das eventuell “unangemessene” Eigenheim ist zu verscherbeln, natürlich wird die Familie in Haftung genommen und allfällige für die unsichere Zukunft abgeschlossenen kärglichen Versicherungen sind in der sozialstaatlich unsicher gemachten Gegenwart verbrauchen. Da haben die ein Leben lang auf Lohn angewiesenen Menschen damit rechnen müssen, dass der irgendwann ausbleibt und die Leistungen der Pflichtversicherungen kaum fürs Nötigste reichen – und deswegen immer noch zusätzlich vom Nettolohn dies und das zurückgelegt. Nun erklärt der Staat diesen Notfall für eingetroffen, nun enteignet der Sozialstaat das privat Angesparte und zwingt sie zur Verwendung ihrer Notgroschen nach seinen Vorgaben. Er ersetzt die staatlichen Hilfen partiell durch die privaten Ansparungen, die zur Aufbesserung der armseligen staatlichen Hilfen angespart wurden. Falls so ein Langzeitarbeitsloser unter der “Hartz-IV”-Knute versucht, etwas zu verheimlichen, wird er mit Entzug der staatlichen Fürsorge bestraft: Der Versuch, für sich vom selbst Gesparten noch etwas unterm Kopfkissen zu verstecken, gilt wie ein Vergehen am Allgemeinwohl, das dann mit Ausstoß aus der redlichen Gesellschaft geahndet wird.

Zum anderen sollen die “Hartz-IV”-Figuren ihr neues Elend idealiter in eigener Regie abwickeln. Die vom Kapital dauerhaft nicht Gebrauchten bekommen die bemerkenswerte Auflage, mit Billigstarbeiten und “Zuverdienst” den Staat von Sozialkosten zu entlasten. Und zwar über die schöne Regel, dass von jedem per verordnetem Arbeitszwang verdientem Euro von der Arbeitsbehörde zwischen 70% und 85% kassiert werden – wie diese “Zuverdienstler” mit den 345 bzw. 331€ (im deutschen Osten) Sozialgeld ihr Überleben organisieren sollen, bleibt weiter ihnen überlassen.

Diese Entlastung des Sozialhaushalts durch Arbeitsverpflichtung enthält auch eine neue Definition von “Erwerbsfähigkeit”. (An der verläuft die neue Scheidelinie zwischen Arbeitslosengeld II und Sozialgeld.) Erwerbsfähig sind ab sofort Bedürftige, die fähig sind, “mindestens drei (!) Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen zu arbeiten”. Es ist staatliche Absicht, dass im Prinzip nur noch – so oder so – Schwerbehinderte diesem Kriterium nicht entsprechen. Dieser Definition entspricht die Festlegung von Zuverdienstgelegenheiten und Entgelt: Annehmen muss der “Erwerbsfähige” jede “nicht sittenwidrige Arbeit”, die er angeboten oder zugewiesen bekommt. Durchgesetzt wird das alles mit noch einmal verschärften “Zumutbarkeitsklauseln” – wie die Zwangsregeln passenderweise heißen. Wer sich weigert, sich dieser neuen Sittlichkeit zu unterwerfen, bekommt postwendend keinen Cent mehr. Wer sich seinem neuen, staatlich definierten Lebenszweck verweigert, sich selbst als völlig unproduktive Kost für den Sozialstaat zu betrachten und diese Kost zu senken, der hat jegliche Überlebensbeihilfe verwirkt.

Als mit den Sitten im modernen Sozialstaat vereinbar gelten ab sofort sogar “1-Euro-Jobs”. (Der eine Euro ist der Stunden-“Lohn”.) Das ist sozialpolitisch durchaus konsequent: Denn es wird bei den Arbeiten, die den “Hartz IV”-Figuren zugewiesenen werden bzw. bei deren Entgelten gar nicht mehr Maß genommen an dem, was ein Lohnarbeiter, der in der Welt der großen Industrie täglich seine 8-12 Stunden in der Fabrik abreißen muss, an Wohnung und Kleidung, an Essen und Trinken, an Hygiene und Gesundheit, an Freizeit und Urlaub braucht, wenn er den Job dauerhaft zur Zufriedenheit seines Betriebsherrn ausfüllen soll. “Zuverdienst” unter dem Regime von “Hartz IV” heißt Entlastung der Staatskassen und da ist jeder Euro recht!

Woher die “Zuverdienst”-Gelegenheiten und 1-Euro-Jobs für 2-3 Mio Leute kommen sollen, darüber ist inzwischen ein bezeichnender Streit zwischen Caritasverbänden, Kirchen, Kommunen, Handwerkern und der Baugewerkschaft entbrannt. Ob der Wirtschaftsminister Clement sein Versprechen halten kann, 600 000 1-2 Euro-Jobs aus dem Boden zu stampfen, ob es überhaupt soviel “gemeinnützigen Bedarf” gibt, ob nicht mit drei 1-Euro-Jobs ein “regulärer Beschäftigter” ersetzt werden kann – der sich dann nach einem Jahr Arbeitslosigkeit selbst in die Schlange der “Zuverdienstler” einfädeln kann –, all diese Fragen danach, ob das Konzept klappt, ob es nicht unschöne “Nebenwirkungen” hat, wie man es am besten verkaufen kann – die erregen größere öffentliche Aufmerksamkeit als der Skandal des Konzepts selbst. Eines belegt dieses Rätselraten über die Herkunft all der Billigst-Jobs aber mit aller Deutlichkeit: Weder für die Belange des hiesigen Staats und schon gar nicht für seine Volkswirtschaft werden diese Leute ernstlich gebraucht. Aber, wie es von der Bundesagentur für Arbeit verlautet, um ganz besonders die ausgemusterten Jugendlichen an “Pünktlichkeit” und ans “Einfügen in eine Arbeitsorganisation” zu gewöhnen, sollten die Gemeinden schon so einiges pädagogisch Wertvolle in der Kinder-, Alten- und Friedhofspflege aus dem Boden stampfen. Längst wird öffentlich nachgerechnet, was Kommunen einsparen können, wenn sie ihre bisher regulär nach Tarif bezahlten Arbeitskräfte durch Hartz-IV-Leute ersetzen. Noch etwas ist klar: So ausgegrenzt die neu geschaffene Hartz-IV-Population vom regulären Arbeitsmarkt auch ist, es wird damit ein “zweiter” – ein wenig irregulärer? – Arbeitsmarkt geschaffen, durch den sich Arbeitslosengeld-II-Bezieher als kostengünstiger und nicht einmal sozialbeitragspflichtiger Ersatz für bisher “regulär” Beschäftigte nützlich machen dürfen. Die Umwälzung der “Beschäftigungsstruktur” bekommt also neue “Impulse”.

Das ist sozialstaatliche Fürsorge: Eine einzige Ansammlung von Zwangsregeln, die den aus der Welt der Arbeit Ausgemusterten nötigen, sich selbst als Schmarotzer der Sozialhilfe zu begreifen. Privates Kleineigentum und die Familie werden als Beiträge zur Entlastung des staatlichen Sozialhaushalts definiert und veranschlagt. Selten ist so offen und zutreffend festgehalten worden, dass das Interesse von lohnarbeitenden Menschen mit Kapitalwachstum und Standortpolitik unverträglich ist.

“Weg mit Hartz IV – das Volk sind wir!”

Untertänige Beschwerden bei der Obrigkeit

Vornehmlich im deutschen Osten finden sich jeden Montag Menschen massenhaft auf großen Plätzen ein, um ihrer Enttäuschung über eine Politik Ausdruck zu geben, von der sie sich seit der “Wende” anderes erwartet haben und nur zu gerne auch weiterhin erwarten möchten. Das ist etwas enttäuschend. Dass die Beschlußfassung über ihre Lebenslage im Prinzip bei der jeweils gewählten politischen Obrigkeit am besten aufgehoben ist, diesen Grundsatz wollen sie nicht in Frage stellen. Den unterstreichen sie lautstark mit ihrer Lieblingsparole: “Wir sind das Volk!” – das Volk eben, das “die in Berlin” auch weiterhin regieren sollen, wenngleich lieber nicht ganz so wie jetzt eben. Dabei hätten sie ganz besonders gute Gründe, mit solchen Täuschungen über die Politik aufzuräumen. Wie unverträglich Schröders Reformen zur Sanierung des deutschen Standorts mit ihren materiellen Notwendigkeiten sind, erfahren sie nämlich auf besondere Weise: Erstens dadurch, dass zusammen mit dem derzeitigen öffentlichen wirtschaftspolitischen Abschreiben des Aufbruchsprojekts für den deutschen Osten – Helmut Kohls Verheißung von den “blühenden Landschaften” wurde gerade vom deutschen Bundespräsidenten Köhler auf den Misthaufen der Geschichte befördert – auch sie ihre Wünsche auf Dauer beerdigen können, vielleicht doch einmal auf halbwegs gesittetem Niveau in ihrem neuen Vaterland durchs Leben zu kommen; und zweitens dadurch, dass das Ersetzen von Rechten aus einer Arbeitslosenversicherung durch die neuen Fürsorgeleistungen zwar nicht speziell auf sie gezielt ist, den deutschen Osten mit der dortigen Arbeitslosigkeit aber speziell trifft.

Das enttäuschte “Volk” protestiert untertänig ...

Doch scheint das nicht hinzureichen, ein wenig an dem grundsätzlichen Vertrauen irre zu werden, das sie in ihre Herrschaft und deren Wirken setzen. Vielmehr stellen sie sich unter der Parole zu Demonstrationen auf, mit der sie in Deutschland schon einmal großen Eindruck gemacht haben. Das tun sie diesmal aber nicht, um den Regierenden des Staates den Gehorsam aufzukündigen und zu einem anderen Staat überzulaufen, der sie gerne bei sich aufnimmt. Sie erinnern nur an den Dienst, den sie seinerzeit für Deutschland getan haben und für den sie noch heute bei jedem nationalen Jubiläumstag unendliche – und kostengünstige – Anerkennung genießen. Wer “Wir sind das Volk!” skandiert, meint wohl, dass es auf ihn in dieser Eigenschaft als Volksteil schon ankommt, dass er irgendwie wichtig wäre und deswegen Anspruch auf ein wenig Rücksicht und / oder Respekt habe – als wüßten sie nicht, dass es um Sozialpolitik geht, darum, das Volk zu verbilligen, und als sei Respekt und Höflichkeit im Umgang mit Arbeitslosen dasselbe wie die Beseitigung materieller Not. Das ist kein guter Einfall vor allem angesichts dessen, dass es auf sie wegen erwiesener ökonomischer Nutzlosigkeit eben nicht mehr sehr ankommt, und dass sie wichtig im Moment nur in einer Hinsicht sind: An ihnen soll gespart werden. Leute stellen sich da auf, die auf ihre politische Herrschaft ausgerechnet mit dem Argument Eindruck machen wollen, dass sie wirklich nur jene Manövriermasse sind‚ die “Volk” heißt und die ein Staatsvolk auch nur ist. Sie möchten partout gegen jede Erfahrung und gegen die ziemlich anders liegenden Absichten von “Hartz I-IV” noch immer an die Arbeitsplätze glauben können, die man ihnen mal versprochen hat. Man hat den Eindruck, dass da Leute protestieren, die einfach nicht wahrhaben wollen, was sie gerade erleben, nämlich was sie sich mit den Errungenschaften von Demokratie und Marktwirtschaft eingehandelt haben, für die sie seinerzeit – immer Montag – demonstriert haben. Ausgerechnet mit demonstrativer Dienstwilligkeit und Bereitschaft zum Verzicht auf ihren eigenen Nutzen aus der Arbeit meinen sie Protest und Forderungen an die Herrschaft abschicken zu können: Manche halten ihr 50stes Bewerbungsschreiben für einen Arbeitsplatz hoch, den es nicht gibt, nur um zu zeigen, dass sie wirklich jedes Opfer auf sich zu nehmen bereit sind. Ihnen scheint gar nicht aufzufallen, wie sehr sie damit auf der Linie der Sozialreformen sind, die schließlich die Bereitschaft zu jeder Arbeit und zu allen verlangten Opfern zur neuen Pflicht anständiger Leute machen.

... und wird von der Obrigkeit beschimpft

Selbst das kommt den Regierenden der deutschen Demokratie wie eine ungeheure Amtsanmaßung ihrer Untertanen vor. Für Schröder und Co. beweisen die Montagsdemonstrationen nur eines: Denen wurde die Sache mit der Demokratie immer noch nicht richtig erklärt. Hier ist Nachhilfeunterricht durch die Machthaber nötig, im Schnellverfahren: Jeder Vergleich mit den Montagsdemonstrationen von 1989 ist eine “Beleidigung” der damaligen ostdeutschen Freiheitskämpfer. Die haben ihren Stammplatz in der nationalen Ruhmeshalle gefunden; den Demonstranten damals ging es angeblich doch nicht um Wohlstand, sondern um Freiheit. “Freiheit statt Sozialismus!”. Die Erinnerung an sie darf keinesfalls für so profane Zwecke wie die Sicherung des Lebensunterhalts mißbraucht werden. Außerdem richtete sich der Protest damals gegen eine “unmenschliche Gewaltherrschaft”, die prompt gekniffen und resigniert hat; heute dagegen trifft er auf eine frei gewählte demokratische totalitäre Obrigkeit, die sich dem “Druck der Straße” auf keinen Fall beugen darf. Insoweit hat ein demonstratives Aufbegehren also zu unterbleiben, weil sonst der fundamentale Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie verloren geht. Wer es trotzdem tut, beweist damit, dass er geistig noch nicht in der Demokratie angekommen ist, denn gerade indem die Demokratie Protest erlaubt, ist bewiesen, dass sie keinen verdient. Wer trotzdem protestiert, mißbraucht insofern die uns heilige Demonstrationsfreiheit und hängt einem “rückwärtsgewandten” Denken an. Deshalb ist es kein Wunder, dass populistische Rattenfänger die Ratten(?), gemeint ist die Protestbewegung, für ihre finsteren Zwecke benutzen wollen. Was deswegen besonders gemein ist, weil ausgerechnet jetzt in Sachsen, im einstigen Heimatland der Montagsdemonstrationen Wahlen anstehen, bei denen Trittbrettfahrer wie die PDS und die Rechtsradikalen dann doch weniger Stimmen absahnen als befürchtet. So ein “Süppchenkochen” darf aber nicht sein, weil die linke PDS – daran kann gar nicht oft genug erinnert werden – doch früher die SED war und eigentlich sie deswegen heute dafür verantwortlich ist, dass westdeutsche Politiker die “verdeckten Arbeitslosen” des Realen Sozialismus, nämlich die “Werktätigen” der alten DDR, in ehrliche kapitalistische Arbeitslose transformieren müssen – und damit bis heute noch nicht fertig geworden sind. Und das darf auf der anderen Seite des politischen Spektrums deswegen erst recht nicht sein, weil bekanntlich rechts von der CDU im Machtkartell der demokratischen Blockparteien einfach kein Platz ist. Kurz, wer glaubt, in der Demokratie sei es normal und vorgesehen, dass der enttäuschte Wähler Alternativen wählen darf, wurde wieder mal von oben belehrt: Solche Anschauungen sind höchst unanständig. Auch eine Auskunft darüber, für wen die Demokratie ein Mittel ist: Nur für die Machthaber.